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Version vom 8. Juni 2022, 08:14 Uhr
1. Allgemein
Eine Präambel ist ein sinnexplanativer oder identitätsstiftender Vorspruch grundlegender Texte. Die Präambel des GG ist dafür ein typisches Beispiel. Manche sehen hier nur Pathos, aber das übersieht die Rechtsqualität von Präambeln. Das BVerfG hat im Blick auf das in der Ursprungsfassung des GG enthaltene Wiedervereinigungsgebot die Rechtsqualität bestätigt. Es geht dabei aber immer auch um Selbstvergewisserung, um Herkunft, Ziele und Identität einer Gemeinschaft. Carlo Schmid hat darauf hingewiesen, dass „[d]iese Präambel […] mehr als nur ein pathetischer Vorspruch [ist]“ (Di Fabio 2017: 32 f.), sondern eine Wegweisung: eine intellektuelle, eine geistige Wegweisung für das Verständnis der Verfassung. Das GG macht einerseits deutlich, wer handelndes Subjekt ist – nämlich das deutsche Volk als Summe der Staatsbürger kraft ihrer verfassunggebenden Gewalt – und andererseits verdeutlicht es mit der Präambel die Ziele der europäischen Einigung und der internationalen Zusammenarbeit zur Erhaltung des Weltfriedens. Die verfassungsgebende Gewalt sieht sich in Freiheit handelnd, bestimmten Zielen verpflichtet und dabei selbst in Verantwortung „vor Gott und den Menschen“. Mit dieser Formulierung reiht sich das GG in den Kreis derjenigen staatlichen Verfassungen ein, die einen G. aufweisen. Sowohl deutsche Landesverfassungen als auch ausländische Verfassungen innerhalb und außerhalb Europas weisen vergleichbare G.e auf. In einzelnen Bundesländern wie Niedersachsen (eingeführt 1994) und Schleswig-Holstein (abgelehnt 2016) kam es sogar zu Debatten oder Referenden über den G. in der Verfassung.
2. Grundgesetz
Der G. des GG ist nicht theokratisch gemeint; er ist kein Relikt aus einer Zeit, die die Trennung von Kirche und Staat (Kirche und Staat) so nicht kannte und voraussetzte wie das GG. Weder die Paulskirchenverfassung von 1849 noch die WRV von 1919 wiesen einen G. auf. Der G. ist vielmehr in der deutschen Verfassungsgeschichte Teil des posttotalitären Neuanfangs nach 1945. Die bayerische Verfassung von 1946 hat diesen Ansatzpunkt bes. deutlich hervorgehoben: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat, […] gibt sich das Bayerische Volk […] nachstehende […] Verfassung“.
Die Präambel des GG sagt in vereinfachter Wiedergabe: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […] gibt sich das deutsche Volk Kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt folgende Verfassung“. Die Präambel formuliert also eine doppelte Verantwortungsnomination. Verantwortung ist Rechenschaftspflicht. Dass politische Herrschaftsgewalten – das Parlament, die Regierung und die Gerichte – gegenüber den Menschen verantwortlich sind, und in Wahlen demokratisch oder mit der Klage vor dem Gericht auch verantwortlich gemacht werden können, ist eine der Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft. Im GG ist von der Würde des Menschen, von der freien Entfaltung der Persönlichkeit die Rede, von der Gleichheit vor dem Gesetz; alles auf das Individuum, auf die Person, auf den Menschen bezogen. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Rechtsordnung. Nicht als Volk, nicht als Rasse, nicht als Klasse, sondern als Einzelwesen steht der Mensch im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund ist die Erklärung der Präambel der Verantwortung „vor den Menschen“ nicht weiter erklärungsbedürftig. Demgegenüber ist die andere Verantwortungsinstanz „vor Gott“ ersichtlich auf etwas Transzendentes gerichtet und scheint im Diesseits ohne rechtstechnische Bedeutung.
Für Gläubige ist die Rechenschaft vor Gott möglicherweise zentraler Bestandteil ihres religiösen Selbstverständnisses, aber wie verträgt sich eine solche Figur mit der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des GG? Bei einer mit dem Neutralitätsprinzip des GG vereinbaren Auslegung wird man den G. weder für irrelevant noch für religiös determiniert halten. Es geht hier auch um Fragen der Grenzen menschlicher Vernunft, der Bürgerfreiheit und demokratischen Gestaltungsmacht. Es geht um die Quellen unserer humanen, auf universelle Menschenrechte gegründeten Identität. Die polnische Verfassung von 1997 macht das explizit: „[…] beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten […]“.
Der Parlamentarische Rat in Bonn wollte 1949 neben Förmlichkeit, Mehrheitsherrschaft und sozialen Rechtsstaat auch eine Werteordnung, die materiell verteidigt werden sollte. Die verfassungsgebende Versammlung wollte, dass die Idee der Würde des Menschen nicht noch einmal, auch nicht durch Mehrheitsentscheidungen, in Frage gestellt wird. Das GG ist insofern eine posttotalitäre, wertgebundene Verfassung und zeigt, dass sie um geschichtliche und soziokulturelle Voraussetzungen jedes normativen Geltungsanspruchs weiß. Die Verfassung ist Ergebnis eines ideengeschichtlichen Prozesses, eine Momentaufnahme, die konkretisiert und verstetigt, aber nicht garantieren kann, was ihr vorausliegt. Die Verfassung ruht auf dem Fundament eines sittlichen Konsenses. Dieser sittliche Konsens wird seit Beginn der Neuzeit nicht mehr allein oder unangefochten aus Gott hergeleitet. Aber dieser sittliche Konsens weiß, dass der Mensch nicht allein durch seine Urteilskraft vor dem Irrtum und der Hybris sich selbst bewahren kann. Insofern ist der G. des GG zumindest eine Art Demuts-, aber auch eine Reflexionsformel. Denn auch die Demokratie kann irren. Es ist ein Zeichen menschlicher Unvollkommenheit, aber auch der Qualität des Menschen, irren zu können und sich dessen bewusst zu sein. Die Debatten über Sterbehilfe oder über die Verfügung des menschlichen Genoms, ethische Debatten über die Digitalisierung der Welt und die Schaffung künstlicher Intelligenz, über die Grenzen der Politisierung oder Ökonomisierung der Gesellschaft, die Verwissenschaftlichung und Verrechtlichung der Gesellschaft: Sie alle verlangen nicht nur nach Selbstbewusstsein, sondern auch nach einem reflexiven Bewusstsein notwendiger Grenzen. Insofern ist die Nomination der Verantwortung vor Gott eine Erinnerung an das, was der menschlichen Vernunft nicht oder nicht vollständig zugänglich ist. Zugl. setzt die Nominatio Dei ein Zeichen gegen den Missbrauch der Religionsfreiheit, ein Zeichen gegen fundamentalistischen Gotteseifer (Fundamentalismus); sie markiert eine der Quellen von Toleranz. Hier sollte man sich hüten, einen solch tiefgreifenden Zusammenhang auf ein funktionell verengtes Liberalitätsargument zu reduzieren, um dann zu sagen, dass man solcher Liberalitätsgaranten schon im Hinblick auf die Würde des Menschen gar nicht bedürftig sei.
3. Europäische Union
Als nach dem Jahr 2000 eine allfällige Änderung der Europäischen Verträge zu einem ehrgeizigen Verfassungskonvent führte, mit nahezu allen Symbolen eines staatlichen Selbstverständnisses, wurde auch über den G. in einer europäischen Verfassung diskutiert. Immerhin beauftragte Konventionspräsident Valéry Giscard d’Estaing nach einem Besuch beim Papst das Sekretariat ein Dokument zur Rolle der Religion im Verfassungsvertrag auszuarbeiten, aber die Ablehnung der Delegierten aus Frankreich, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern war zu groß. Ein G. war im Text nicht vorgesehen, und das führte gerade auch aus Deutschland zu Kritik.
Allerdings konnte angesichts der sehr heterogenen nationalen Entwicklungen und historischen Vorprägungen diese Ablehnung des G.es nicht wirklich überraschen und war keineswegs ein Zeichen der funktionalistischen Fehlentwicklung der EU. Die EU ist ein Verbund, der auf die kulturelle, soziale und politische Identität der Mitgliedstaaten bes. Rücksicht nimmt und Worte wie Vielfalt oder Subsidiarität nicht nur zur Bemäntelung unitarischer Tendenzen nutzen darf.
4. Offenheit und Toleranz des Grundgesetzes
In einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft wird die Frage bedeutsam, wer der Gott der Präambel eigentlich ist. Ist es der jüdisch-christliche Gott oder der aller drei abrahamitischen Religionen? Ist das also auch der Gott des Islam? Die Antwort lautet: Selbstverständlich ist es auch der Gott des islamischen Gläubigen wie auch jeder anderen Glaubensgemeinschaft. Man könnte sogar im Blick auf die Erklärung der polnischen Präambel sagen: Es ist sogar der „Gott der Atheisten“ in jeder Negation Gottes damit gemeint. Der G. legt sich nicht auf eine bestimmte Gottesvorstellung fest, er nimmt lediglich die Möglichkeit in Bezug, dass es jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens noch etwas Anderes gibt oder insofern sogar als Gewissheit gesetzt geben kann. Und diese Möglichkeit der Transzendenz kann auch ein Agnostiker nicht gänzlich ausschließen. Der Kontext der Präambel ist insofern kein theologischer. Wer und was Gott ist, und in welcher Beziehung er zum Menschen steht, bleibt eine theologische Frage, eine Frage religiöser Freiheit und nicht der Auslegung der Präambel.
Mit solchen Hinweisen wird die Offenheit und Toleranz des GG verdeutlicht, niemand, der sich vor kultureller Überfremdung fürchtet oder sogar islamophob ist, wird im G. der Präambel einen Leitfaden zur Verteidigung des Abendlandes finden. Und doch darf dieser wichtige Hinweis nicht die Verwobenheit christlichen Gottesglaubens und politischer Herrschaftsordnung in der Genese der europäischen Identität vollständig ausblenden. Religion darf ihre Gottes- und Weltdeutung absolut setzen, stößt aber auf die Schrankenziehung des absoluten Identitätskerns weltlicher Herrschaft. Es liegt in der dialektischen Dynamik der neuzeitlichen Ideengeschichte, dass der christliche Gott, der Nächstenliebe und Friedlichkeit immer wieder auch die robuste Merkantilität und politische Machtentfaltung des alten Kontinents herausgefordert, manchmal angetrieben, aber häufig eben auch begrenzt hat. Insofern ist die Achtung der Personalität des anderen Menschen längst jenseits der vernunftphilosophischen und christlichen Ursprünge und seiner Formprägungen säkularisiert, eingelassen in das westliche Wertefundament. Von jedem Glauben und jeder Weltanschauung wird deshalb Friedlichkeit und Respekt vor dem anderen verlangt, gerade auch vor dem Andersgläubigen.
5. Aktuelle Herausforderungen
Heute fürchten manche ein religiöses Wiedererwachen als Gefahr für die öffentliche Friedens- und Toleranzordnung. Angesichts der Pluralisierung, aber auch der Fragmentierung religiös und traditionell unterschiedlicher Lebenswelten gerade auch hinsichtlich europäischer Einwanderungsgesellschaften, nimmt die Bereitschaft zu, laizistisch (Laizismus) zu optieren, und womöglich sogar insgesamt das Konzept der wohlwollenden Neutralität im Umgang mit Glauben und Weltanschauung aufzugeben. Sollte die säkulare Werteordnung etwa in öffentlichen Einrichtungen wie der Schule durch den Missbrauch der Religionsfreiheit herausgefordert werden, wird man in der Tat klare Zeichen des Vorrangs der grundgesetzlichen Werteordnung setzen müssen, und das kann zu einer Verbannung religiöser Gehalte aus dem öffentlichen Raum führen. Aber damit darf sich unsere Gesellschaft nicht zufriedengeben, weil sie insofern lediglich auf Pathologien reagiert und reagieren muss, aber diese Pathologien nicht einfach hinnehmen darf. Insofern stehen Erziehung und Bildung, aber auch die Durchsetzung der öffentlichen Ordnung im wirksamen Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen, damit die Bedingungen für Liberalität und Toleranz nicht schwinden, sondern gestärkt werden. Die überwiegende Anzahl der nach Europa gelangenden Menschen aus anderen Kulturkreisen will sich integrieren und das kann durchaus dadurch erschwert werden, dass unsere Rechtsordnung nicht mehr von Gott spricht und Räume des Glaubensbekenntnisses verschließt. Die Bedingung jeder Freiheit in der Achtung des anderen und in der unbedingten Friedlichkeit muss mit der ansonsten gezeigten Toleranz immer wieder deutlich gemacht werden. Insofern stehen wir am Anfang eines interaktiven Lernprozesses, den der G. der Präambel uns nicht abnehmen kann, der aber als Fingerzeig wertvoll ist.
Literatur
U. Di Fabio: Grundgesetz und nominatio dei, in: B. Bäumer/F. Zabel (Hg.): Wie viel Glaube braucht das Land? Antworten aus Politik Kirche und Gesellschaft, 2017, 31–50 • U. Di Fabio: Begegnung mit dem Absoluten, in: FAZ, 21.12.2016, 6 • H. Kreß: Gott in der Verfassung? Kritische Anmerkungen zu einer neu angefragten Debatte, in: ZRP 152/153 (2015), 152–154 • M. Strunz: Der Gottesbezug in dem Vertrag über die Europäische Union – ein Lösungsvorschlag, in: BayVBl 138 (2007), 648–651 • A. Vogt: Der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes, 2007 • G. Waschinski: Gott in die Verfassung? Religion und Kompatibilität in der Europäischen Union, 2007 • E.-W. Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976.
Empfohlene Zitierweise
U. Di Fabio: Gottesbezug, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gottesbezug (abgerufen: 25.11.2024)