Moralpsychologie: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 14. November 2022, 05:58 Uhr
1. Bestimmung, Aufgabe und Gegenstand
M. beschäftigt sich mit den humanwissenschaftlichen Grundlagen und Bedingungen moralischen Urteilens und Handelns (Handeln, Handlung) sowie mit deren Bedeutung für die Reflexion und Rekonstruktion, Konzeption und Begründung normativer, evaluativer und ethischer Begriffe, Aussagen, Urteile, Konzepte und Theorien. M. ist ein relativ junges wissenschaftliches Feld, wenngleich die Beschäftigung mit moralpsychologischen Fragestellungen der Sache nach schon eine längere Vorgeschichte in Philosophie, Theologie und Anthropologie hat. In der gegenwärtigen Wissenschaftssystematik hat die M. keinen etablierten Platz. Vielmehr stehen unterschiedliche disziplinäre Vorstellungen von M. nebeneinander, je nachdem ob sie als Teilgebiet der Psychologie (z. B. Monika Bobbert; Horst Heidbrink), der Philosophie (z. B. Mark Alfano; Valerie Tiberius) oder der Theologie bzw. theologischen Ethik (z. B. Manfred Maßhof-Fischer) definiert wird.
Exklusive monodisziplinäre Bestimmungen von M. greifen zu kurz, wenn sie sich an der bestehenden wissenschaftlichen Praxis orientieren wollen. Bestimmt man M. von ihrem Gegenstand her, der letztlich praktisch-lebensweltlich fundiert ist, dann lässt sich M. als ein neuer Typus von Wissenschaft begreifen, in dem über fachspezifische Zugänge hinaus die disziplinären Fachgrenzen durchlässig werden, um in einen fächerübergreifenden sachorientierten Austausch zu treten. Damit entzieht sich die M. den gängigen Wissenschaftsklassifikationen. Als interdisziplinäre und transdisziplinäre Herausforderung behandelt die M. zum einen empirische und normative Fragen zu den Grundlagen moralischen Urteilens und Handelns und zum anderen in problem- und handlungsorientierter Perspektive (Handlungstheorie) konkrete ethische und gesellschaftliche Themen. Damit steht die M. auch im Dienste einer ethischen Realistik und Pragmatik.
Als Teilgebiet der Psychologie ist es Aufgabe der M., unter Berücksichtigung der verschiedenen Paradigmen mit den unterschiedlichen psychologischen Methoden, Begriffen und Theorien leibseelische sowie psychosoziale Prozesse, Funktionen und Strukturen zu beschreiben, zu erklären und zu interpretieren, die in Zusammenhang mit menschlichem Entscheiden und Verhalten stehen, genauer moralisch relevante „Kognitionen, Emotionen, Motivationen und Verhaltensweisen bzw. Handlungen von Individuen und Gruppen“ (Bobbert 2006: 444) sowie Fragen der moralischen Entwicklung, Erziehung und Bildung. Dabei lassen sich drei paradigmatische Perspektiven unterscheiden: „(1) Die kognitive Perspektive: Wie beeinflusst das Denken unsere Moral? (2) Die situative Perspektive: Wie beeinflussen die Umstände unsere Moral? (3) Die emotionale Perspektive: Wie beeinflussen die Gefühle unsere Moral?“ (Heidbrink 2008: 14). Mit diesem erweiterten Zugriff werden die kognitivistischen bzw. rationalistischen Betrachtungsweisen der klassischen empirischen M. (v. a. Jean Piaget; Lawrence Kohlberg) um neuere neuropsychologische Zugänge mit ihren emotional-intuitiven Perspektiven ergänzt.
Was jedoch als moralisch relevant verstanden wird, ist vom zugrunde liegenden Vorverständnis von Moral abhängig. Dieses liegt außerhalb des Gegenstandsbereichs der Psychologie und wird in deskriptiver Weise von den Sozial- und Kulturwissenschaften behandelt. In normativer Weise wird ein solches Vorverständnis von Philosophie und Theologie reflektiert, sofern sie sich mit ethischen und moralisch relevanten Fragen beschäftigen. Dabei beziehen sie sich auf Vorstellungen und Praktiken, wie sie in der bereits normativ imprägnierten alltäglichen Lebenswirklichkeit und in handlungsfeldspezifischen Praxiszusammenhängen, etwa Medizin, Bildung, Umwelt- und Klimaschutz, vorkommen. Sie beabsichtigen, diese zu rekonstruieren und theoretisch auf den Begriff zu bringen. Die empirisch-moralpsychologische Forschung ist daher neben den psychologischen Bezugsdisziplinen im engen Sinne auf die je handlungsfeldrelevanten Humanwissenschaften auszuweiten, etwa die Neurowissenschaften, die Evolutionsbiologie, die Soziologie, die Kriminologie oder die Kulturwissenschaften.
Angesichts der gegenwärtigen sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen einer globalisierten Welt, in der Religionen und Religionsgemeinschaften vitale Akteure darstellen, hat die M. auch die religiös-spirituellen Einflussfaktoren auf moralisches Urteilen und Handeln zu berücksichtigen. Denn Religionen und Religionsgemeinschaften mit ihrer Binnenmoral bzw. Menschen, die sich zur Begründung ihres Handelns und ihrer Haltungen auf diese berufen, können sowohl entfremdend oder konfliktinduzierend (z. B. Fundamentalismus, religiös motivierte Diskriminierung und Gewalt) als auch emanzipatorisch oder hilfs- und friedensstiftend (z. B. Friedens- und Versöhnungsinitiativen, humanitäre Hilfsprojekte, Engagement für nachhaltige Entwicklung) wirken. Allerdings werden religiös-spirituelle Aspekte in moralpsychologischen Übersichtsarbeiten größtenteils vernachlässigt.
2. Erschließung normativer Entscheidungs- und Handlungssituationen
In Anlehnung an den kulturwissenschaftlichen Ansatz von Clifford Geertz, der dem Verstehen kultureller Bedeutungsstrukturen dient, kann ein solcher moralpsychologischer Zugang dann der Gewinnung sog.er dichter Beschreibungen von normativen Entscheidungs- und Handlungssituationen dienen. Im Sinne einer interpretativen Rekonstruktion sollen die Bedeutungsstrukturen von Handlungen herausgearbeitet werden, um das Verstehen von Menschen und ihres Tuns zu ermöglichen. Die moralische Welt fügt sich „weniger einem abstrakten Modell als vielmehr einer dichten Beschreibung“ (Walzer 1990: 29), die bereits normativ gehaltvoll ist und deren Sinn durch Interpretation herausgefunden werden kann. Gemäß diesem rekonstruktiven Vorgehen geht es der moralischen Argumentation darum zu erhellen, „was unsere Lebensweise (für uns) bedeutet“ (Walzer 1990: 33). Die Abstraktionen der „dünnen Beschreibung“ stellen demgegenüber solche Aspekte dar, „die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt – vor dem Hintergrund des jeweiligen kultur- und sozialwissenschaftlichen Kenntnisstandes – eignen, Überzeugungen zwischen den dichten kulturellen Kontexten ethischer Systeme herzustellen“ (Lotter 2012: 25). Im Unterschied zu einer „dünnen Beschreibung“, die von den biografischen und situativen Besonderheiten einer Handlung absieht und diese vom Handlungskontext losgelöst und abstrakt reflektiert, geht es bei der „dichten Beschreibung“ in der M. also um das kontextuelle, situativ-biografische Verstehen von Entscheidungen und Handlungen.
3. Praxis- und Handlungsorientierung
In praktischer Perspektive sensibilisiert die M. dafür, dass sich die ethische Reflexion und die moralische Rede von Verantwortung und menschlicher Freiheit stets ihrer konkreten Bedingtheiten, Determinationen und Konditionierungen bewusst sein müssen, wollen sie praktisch bedeutsam sein. Freiheit ist stets graduell, wenn sie als praktische, reale Freiheit in den Blick kommt. Moralpsychologische Zugänge sind dann eine spezifische ethische Perspektivierung, die die Frage nach den Bedeutungszusammenhängen von Praktiken für die Handelnden und ihr Umfeld stellt: Welche Absichten verbindet ein Mensch mit seinem Tun? Welche ethische Relevanz und moralische Bedeutung kommt diesem zu? Welche biografischen Erfahrungen fließen mit ein? Welche erworbenen Erlebens-, Verhaltens-, Beurteilungs- und Beziehungsmuster sind motivational wirksam? Welche psychosozialen, systemischen, organisationellen, sozialen, ökonomischen, ökologischen, politischen, rechtlichen, kulturellen und religiösen Faktoren sind bedeutsam? So können jene vielfältigen leibseelischen, biografischen, interaktionellen und soziokulturellen Faktoren in den Blick genommen werden, die im komplexen Zusammenspiel auf ethisch relevantes Erleben, Urteilen und Handeln, auf moralische Kompetenz und Performanz sowie auf moralische Bildungs- und Selbstbildungsprozesse von Menschen und deren Bemühen um gelingende Identität in sozialen Zusammenhängen, um Ambiguitätstoleranz in pluralen, heterogenen Gesellschaften und um eine verantwortliche Lebensführung Einfluss haben. Die Berücksichtigung von moralpsychologischen Aspekten ist somit gerade auch für die angewandte Ethik unabdingbar.
Während gegenwärtig moralpsychologische Fragestellungen innerhalb der Moralphilosophie – und hier v. a. im angloamerikanischen Raum – überwiegend theoretisch betrieben werden und Fragen der moralischen Motivation, der Willensfreiheit, der moralischen Gefühle und Kognitionen und deren Bedeutung für die Begründung ethischer Urteile im Vordergrund stehen, Anwendungsfragen jedoch meist außen vor bleiben, geht es in moralpädagogischen Diskursen innerhalb von Pädagogik und Psychologie um das empirisch-deskriptive Verstehen moralischen Erlebens, Urteilens und Handelns im Zusammenhang mit moralischer Erziehung und Bildung, mit Wertorientierung und Wertbildung sowie um deren Wirksamkeit. In gesellschaftlicher und politischer Hinsicht sind v. a. die moralpsychologischen Bedingungen zur Bildung und Förderung demokratischer Tugenden, bürgerschaftlichen Engagements (Zivilgesellschaft) und sozialen Zusammenhalts sowie eines umwelt- und nachhaltigkeitsbewussten Lebensstils relevant. Eine ethisch perspektivierte M., die generell auf Praxis abzielt, kann hier weitere Impulse setzen, ohne dass damit methodologische, erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Fragen eines solchen transdisziplinären Gesprächs bereits hinlänglich geklärt wären.
Literatur
K. Gray/J. Graham (Hg.): Atlas of Moral Psychology, 2018 • Y. Inbar: Applied Moral Psychology, in: ebd., 537–543 • J. Sautermeister: Moralpsychologie als transdisziplinäre und interdisziplinäre Herausforderung, in: ders. (Hg.): Moralpsychologie, 2017, 11–30 • M. Alfano: Moral Psychology, 2016 • J. Forgas/L. Jussim/P. van Lange (Hg.): The Social Psychology of Morality, 2016 • V. Tiberius: Moral Psychology, 2015 • M. Killen/J. Smetana (Hg.): Handbook of Moral Development, 22014 • J. Doris (Hg.): The Moral Psychology Handbook, 2012 • M.-S. Lotter: Scham, Schuld, Verantwortung, 2012 • T. Nadelhoffer/E. Nahamias/S. Nichols (Hg.): Moral Psychology, 2010 • H. Heidbrink: Einführung in die Moralpsychologie, 2008 • W. Sinnott-Armstrong (Hg.): Moral Psychology, 4 Bde., 2008–14 • M. Bobbert: Moralpsychologie/Moralentwicklung, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M. Werner (Hg.): Hdb. Ethik, 22006, 444–448 • M. Maßhof-Fischer: Moralpsychologie, in: LThK, Bd. 7, 1998, 459–461 • W. Edelstein/G. Nunner-Winkler/G. Noam (Hg.): Moral und Person, 1993 • M. Walzer: Kritik und Gemeinsinn, 1990 • C. Geertz: Dichte Beschreibung, 1983 • J. Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 1983 • G. Hunold: Identitätstheorie. Die sittliche Struktur des Individuellen im Sozialen, in: HCE, Bd. 1, 1978, 177–195 • J. Piaget: Das moralische Urteil beim Kinde, 21976.
Empfohlene Zitierweise
J. Sautermeister: Moralpsychologie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Moralpsychologie (abgerufen: 23.11.2024)