Sittengesetz: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr

1. Wort und Begriff

Das deutsche Wort „S.“ taucht im 18. Jh. auf. Es handelt sich um eine künstlich geschaffene Wortverbindung, welche v. a. Zusammensetzungen mit dem lateinischen lex (Gesetz) wie lex moralis, aber auch jus morale ins Deutsche übertrug. Johann Heinrich Zedlers „Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste“ verweist bei S. auf „Moral-Gesetz“ (1739, Bd. 21: 1461) und „Mosaisches Recht“ (ebd.: 1807). „Moral-Gesetz“ wird dort wiederum v. a. als Jus Divinum definiert, also als gegebenes göttliches Gesetz, insb. die Zehn Gebote, welche Mose nach der Bibel auf dem Berg Sinai von Gott erhalten hat. Allerdings wird betont, dass das moralische Gesetz auch in die Herzen aller Menschen geschrieben sei, so dass der Mensch seine Billigkeit und Notwendigkeit aus dem Lichte der Natur und vermöge seiner gesunden Vernunft erkenne, was es auch den Heiden zugänglich mache. Bereits bei Thomas von Aquin wird die Auffassung geäußert, dass alle Gebote des S.es zum Naturgesetz gehören.

2. Das Sittengesetz bei Immanuel Kant

Erst bei Immanuel Kant gewinnen Wort und Begriff des S.es eine zentrale Stellung in der Philosophie. Dabei lässt I. Kant die ältere, religiöse Bedeutung gänzlich fallen und fasst das S. ausschließlich als „moralisches Gesetz in mir“ (Kant 1908: 161) auf, verinnerlicht es also radikal, hält aber an seiner Allgemeinheit, Gleichheit und Notwendigkeit für jedes Vernunftwesen fest. Die zentrale Quelle des S.es ist die apriorische, also nichtempirische bzw. nichtsinnliche und somit reine Vernunft (Vernunft – Verstand). Dabei hat die Gesetzgebung der reinen Vernunft nach I. Kant zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, enthält also sowohl das Naturgesetz (Gesetz) als auch das S. Obwohl zunächst unterschieden, sind beide Formen der Gesetzgebung der reinen Vernunft letztlich in einem einzigen philosophischen System vereinigt. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist, die der Sitten nur auf das, was da sein soll. Der letzte Seinsgrund des S.es ist die Freiheit. Der letzte Erkenntnisgrund der Freiheit ist das S. Das S. entspringt der Selbstgesetzgebung bzw. Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Es verpflichtet alle vernünftigen Wesen und somit auch den Menschen unbedingt und ohne Abhängigkeit von den Konsequenzen. Das S. richtet sich auf das Wollen des verpflichteten Wesens. Dabei stimmt das Wollen reiner Vernunftwesen immer und notwendigerweise mit dem S. überein. Der Mensch ist dagegen auch Sinnenwesen, weshalb seine Freiheit unter Imperativen steht. Neben hypothetischen Imperativen der Zweckrationalität gibt es einen kategorischen Imperativ, der ohne Rekurs auf einzelne Zwecke gebietet. Die subjektiven Handlungsprinzipien, also die Maximen, unterfallen der Notwendigkeit dieses kategorischen Imperativs als wesentlicher Ausprägung des S.es. Der kategorische Imperativ lautet in der allg.sten Form: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1903: 421). Das S. wird konkretisiert in das Rechtsgesetz, das sich nur auf das äußere Verhältnis bzw. Handeln richtet und nur eine äußere Befolgung fordert, und das ethische Gesetz, das auch das innere Verhältnis bzw. Handeln umfasst und eine innere moralische Zwecksetzung verlangt.

3. Das Sittengesetz nach Immanuel Kant

Nach I. Kant nimmt in der Philosophie die Bedeutung von Wort und Begriff des S.es wieder ab. Johann Gottlieb Fichte vertritt zwar im Rahmen seines subjektiven Idealismus noch einen individuellen Ausgang des praktischen Sollens und führt den Begriff weiter. Dessen Gewichtigkeit geht aber gegenüber Begriffen wie Ich sowie subjektives und objektives Sein zurück und dessen Funktion wird zumindest im Ergebnis auf die ethische Sphäre beschränkt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel verwendet das Wort kaum mehr. Das praktische Sollen wird im Rahmen seines objektiven Idealismus als Teil einer objektiven und überindividuellen Entfaltung des Geistes verstanden und mit der Sphäre von Recht und Staat zu einer idealischen, aber auch verwirklichten kollektiven „Sittlichkeit“ (Hegel 1986: 292) verschmolzen, welche Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat umfassen soll. Die individuelle Moralität von Willen, Pflicht und Gewissen (Gewissen, Gewissensfreiheit), soll dagegen nur mehr eine Vorstufe zu dieser objektiven Sittlichkeit darstellen. Das Festhalten an der Subjektivität des „bloß moralischen Standpunkts“, der nicht in den Begriff der objektiven Sittlichkeit übergeht und dort seine kollektive und objektive Verwirklichung findet, wird als „leerer Formalismus“ und „Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen“ kritisiert (Hegel 1986: 252).

Ungeachtet dieser Kritik hat der Begriff des S.es seinen Weg in die kantisch geprägten Alltagsvorstellungen und auch ins Recht gefunden. Während im Zivilrecht die „guten Sitten“ bzw. die „Verkehrssitte“ als Grenze von Rechtsgeschäften und Leistungen (§§ 138, 242 BGB) bereits eine römischrechtliche Wurzel in den bona fides hatten und auch die Begrenzung der Einwilligung zur Körperverletzung im Strafrecht durch die „guten Sitten“ (§ 228 BGB) älteren Ursprungs ist, wurde das S. im Jahre 1949 in Art. 2 Abs. 1 als Schranke des Grundrechts auf allg.e Handlungsfreiheit in das deutsche GG aufgenommen. Dabei ist zweifelhaft, ob der Begriff dort die tatsächlichen Sitten, ein überpositives Naturrecht wie in Art. 20 Abs. 3 GG oder nur die Gesamtheit der verfassungsmäßigen Rechtsordnung meint. Während das BVerfG am Beginn seiner Rechtsprechung offenbar ersteres annahm (BVerfGE 6,389 [436]), hält heute die große Mehrheit der Literatur zumindest zusätzlich die Bestätigung durch ein positives Gesetz für erforderlich.