Zehn Gebote
Die Funktion der beiden in Ex 20,2–17 und Dtn 5,6–21 überlieferten ethischen Dekaloge kann, summarisch formuliert, in der theologisch motivierten Abwehr gemeinschaftsschädigenden Verhaltens, die Funktion ihrer Normen als Ausdruck einer an die Einsicht appellierenden Moral, die an der Grenze zum Recht formuliert ist, gesehen werden.
1. Fremdgötterverbot
Israel soll sich, folgt man dem sogenannten Fremdgötterverbot, an JHWH allein wenden und so nicht von fremden Göttern abhängig sein. Der Glaube an den einen und einzigen Gott ist weniger ein kognitiver Akt des Erkennens, als vielmehr ein affektiver Akt der Bindung. Das exklusive Treueverhältnis bildet das Fundament für die Freiheit Israels. Nicht mehr rituelle Vorschriften stehen im Vordergrund, weshalb es darum geht, rituelle Verfehlungen zu vermeiden oder zu ahnden, vielmehr ist es nun um Vertragstreue und um die Gefahr, den Bund mit Gott zu brechen, zu tun. Damit ebnet der Vertragsgedanke den Weg zu einer monotheistischen (und zuvor kosmotheistischen) Position, die einen verlässlichen Vertragspartner vorsieht, was in „rein“ polytheistischen Kontexten aufgrund des Einflusses anderer Götter so nicht gewährleistet werden kann. Die Emanzipation Gottes aus der Gebundenheit an den Kosmos evoziert die Emanzipation des Menschen aus der Verstrickung in die Welt. Die Entwicklung der Gottesvorstellung zu einer die exklusive Verbindlichkeit einer Vertragsbeziehung provozierenden monotheistischen Position bleibt nicht ohne Folgen für das Verständnis der Moral Israels. Denn mit der Heraufkunft eines selbstreflexiv gewordenen Monotheismus erhalten auch die Gebote und Verbote der ethischen Dekaloge die Funktion der moralischen Vermittlung des Gottesverhältnisses. Wenn Gott als schöpferische Transzendenz und diese Transzendenz als Person (wenn auch ohne Namen) gedacht wird, dann ist Gott der eine Gott, der sich offenbart, so dass es nichts gibt, was nicht der Ordnung durch den Willen Gottes unterworfen wäre. Indem die Regelung des Alltagslebens unter das Gebot, nur JHWH zu ehren, gestellt wird, werden nicht nur alle alltäglichen Lebensbezüge einbezogen. Das Gebot soll zudem verinnerlicht werden.
2. Kultbilderverbot
Während sich die Position des Kosmotheismus der bildlichen Darstellung von Göttern bediente, konnte die Unterscheidbarkeit einer monotheistischen Position nur durch die Betonung der Transzendenz JHWHs hergestellt werden. Es genügte offenbar nicht, sich nur zu einem einzigen Gott zu bekennen. Das Bekenntnis zu dem einen und nur zu diesem Gott musste auch eine real erfahrbare Differenz hervorbringen. So wurde vielleicht weniger die pure Bildlosigkeit Gottes als vielmehr das Verbot, Kultbilder (nicht nur anderer Götter, sondern auch JHWHs) zu verehren, zum signifikanten Unterscheidungsmerkmal. Das Kultbilderverbot zieht eine Entdivinisierung der Welt nach sich. Die Anbetung von Bildern würde die Anbetung der Welt nach sich ziehen. Wer die Welt anbetet, versinkt in ihr. Er macht die Emanzipation des Menschen aus dem Verstricktsein in die Welt rückgängig. Angebetet werden darf allein Gott, und er soll auch angebetet werden, weil die Emanzipation aus dem Eingetauchtsein in die Welt für den Menschen nicht Versklavung, sondern – im Gegenteil – Befreiung bedeutet. In der neu gewonnenen Freiheit und der bedingungslosen Ablehnung der Versklavung durch Ägypten dürfte das stärkste Motiv für die Präambel des Dekalogs auszumachen sein, die nicht nur in formaler Hinsicht den Verpflichtungscharakter der folgenden Gebote und Verbote, sondern zugleich den materialen Gehalt dieser Weisungen begründet.
3. Einhaltung des Sabbats
Der Institution des Sabbats liegt schon eine ausgeprägte Idee der Differenz zwischen Heilig und Profan zugrunde, allerdings darf im Hintergrund ein größerer schöpfungstheologischer Zusammenhang angenommen werden, der Aspekte von Recht und Gerechtigkeit einschließt. Insofern kann das Gebot, den Sabbat heilig zu halten, als Fortsetzung der Weisungen, nur JHWH zu verehren, gelesen werden, soll es doch zusichern, dass der Glaube an den wahren Gott die gesamte Wirklichkeit durchdringt. Die beiden Fassungen des Sabbatgebots sind wohl im strikt theologischen Sinn zu verstehen. Es geht nicht nur und vielleicht auch nicht zuerst um das Freisein von Arbeit, sondern darum, den siebten Tag der Woche zu heiligen und daher für JHWH aus dem Bereich des Alltags auszusondern. Die Sabbatruhe soll ein Bekenntnis zum Schöpfergott sein, der die Welt trägt und vollendet. Dies hat freilich Konsequenzen für die soziale Welt, wenn in die Sabbatruhe das ganze Haus, also auch Sklavinnen und Sklaven mit einbezogen sind oder der rechtlich unterprivilegierte Fremde, der zu öffentlichen Arbeiten herangezogen werden konnte, erwähnt wird. Der Sabbat soll daher nicht nur dem freien und besitzenden Israeliten zugute kommen, sondern zugleich auch den Schwachen und Armen und sogar den Tieren.
Mit der Neuzeit, so könnte man die religiöse Normbegründung zeitgenössisch kontrastieren, wird die Religion säkularisiert, d. h. religiöses Entscheiden wird privatisiert. Die Moral zieht sich insofern auf sich selbst zurück, als sie beweisen muss, dass es gut und nicht vielmehr schlecht ist, ihr (und gerade ihr und nicht einer konkurrierenden Idee von Moral) zu folgen. Für die Religion (wie für die übrigen Teilbereiche der Gesellschaft) hat das zur Folge, dass sie selbst moralisch beurteilt werden können. Damit wird gerade die Religion aufgefordert, ihr eigenes moralisches Urteilen insofern zu moralisieren, als zu seiner Durchsetzung nur moralische, und d. h. nun, gesellschaftsweit, also auch von Nicht- und Andersgläubigen akzeptierte Mittel in Frage kommen. Der Gedanke des Rechtspositivismus entwickelt sich: Recht beruht auf der Entscheidung des Gesetzgebers, nicht mehr auf göttlicher Weisung. Die Positivität des Rechts zieht die Legalisierung von Rechtsänderungen nach sich. Dadurch entsteht die Frage nach der Legitimität reiner Legalität. Was die moralische Fundierung des Rechts betrifft, so binden Akteure sich an Regeln, denen sie gemeinsam zustimmen können, wenn und solange sie sich dadurch gegenseitig besser stellen. Die kollektive Selbstbeschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten dient der Ausweitung von Interaktionsmöglichkeiten in sozialer und in zeitlicher Hinsicht.
4. Ehrung der Eltern
Adressaten des Gebots, Vater und Mutter zu ehren, waren erwachsene israelitischen Männer, i. d. R. die (erstgeborenen) Söhne, da die Töchter normalerweise heirateten und das Haus verließen. Dabei geht es nicht nur um die materielle Versorgung der Eltern im Alter. Vielmehr ist von einem umfassenden und auf das Wohl der ganzen Familie abzielenden Sinn auszugehen, der durch den Begriff der Ehre zum Ausdruck kommt. Die Eltern zu ehren bedeutet, ihre Autorität anzuerkennen (wobei der Autorität des pater familias, deren Schutz das Gebot, die Eltern zu ehren, ja ebenfalls im Auge hat, eine zentrale Rolle zukommt) und ihre Autorität anzuerkennen heißt wiederum, die Lebenskraft der Familie zu schützen. Wer die Ehre der Eltern mindert, schwächt die Vitalität der ganzen Familie und damit sein eigenes Wohlergehen. Diese Minderung der Elternautorität kann verschiedene Formen annehmen, von der einfachen Missachtung ihrer Autorität bis hin zur leichten oder schweren körperlichen Misshandlung; und sie kann verschiedene Grade erreichen, von gelegentlicher despektierlicher Behandlung der Eltern bis zum dauerhaften Ignorieren ihrer Stellung. Im Hintergrund der Norm, die Ehre der Eltern und Alten bis hin zu den Ahnen sicherzustellen, steht, dass der genealogische Ort des Einzelnen mitsamt der Hausgemeinschaft im Kontinuum der Generationen vitale Bedeutung hatte, weil sich aus diesen Beziehungen in beide Richtungen lebenssichernde Ansprüche wie eben auch Verpflichtungen ergaben. Dass wir ursprünglich eine vitale Bedeutung dieses Gebots voraussetzen können, zeigt der Motivationssatz, der langes Leben in dem Land, das Gott geben will, verheißt. Dieser Nachsatz setzt voraus, dass die Befolgung des Gebots nicht (mehr) selbstverständlich war.
Die erwähnte moderne Formel von der kollektiven Selbstbeschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten zur Ausweitung von Interaktionsmöglichkeiten in sozialer und in zeitlicher Hinsicht kann auch auf das Verhältnis der Generationen bezogen und im zeitverschobenen Tausch von Freiheitsrechten angewendet werden. Damit wird die Gefahr eingedämmt, dass die erwachsenen Kinder den gebrechlich gewordenen Älteren die vom Generationentausch geforderten Verzichtsleistungen verweigern, was sie risikolos tun können, weil die Leistungen, die ihnen von den Älteren bereits erbracht wurden, nicht mehr rückgängig zu machen sind. Denn die Älteren können diese Gefahr antizipieren, weshalb als weitere Gefahr droht, dass sie den Kindern deutlich weniger Unterstützung, als es an und für sich möglich und sinnvoll wäre, angedeihen lassen (Kaufmann 1997: 69 ff.). Es käme also zu einer Unterinvestition in die junge Generation, wiederum natürlich mit negativen Auswirkungen auf die später auf Hilfe angewiesenen Alten, die dann in einer weniger produktiven Umgebung leben als dies der Fall wäre, wenn sie stärker in ihre Kinder investiert hätten. Dieser doppelten Gefahr entgeht man modern durch institutionelle Vorkehrungen, die eine Ausbeutung des wechselseitigen Vorteils verhindern hilft und die Altersvorsorge nicht vom Wohlwollen der in die Pflicht Genommenen abhängig sieht, sondern als Recht instituiert.
5. Tötungsverbot
Das Verbot zu töten richtete sich, allgemein formuliert, gegen das schrankenlose, ungesetzliche Töten. Anders gesagt: Es dient dem Schutz unschuldigen Lebens. Es geht darum, das Töten einzugrenzen, es auf eine Rechtsbasis zu stellen, die Grenze zwischen Leben und Tod, soweit sie vom Menschen gezogen wird, zu regeln und sie nicht der Willkür des Einzelnen zu überlassen. Das Tötungsverbot bezieht sich deshalb wohl in erster Linie auf jene Fälle, in denen eine vorsätzliche Tötung unentdeckt zu bleiben droht. Es warnt vor dem gemeinschaftswidrigen und heimtückischen Ermorden von Menschen, selbst wenn es unentdeckt bleibt. Zudem zielt das Verbot wohl auch auf nicht justiziable Vergehen gegen sozial Schwache, also gegen Witwen und Waisen, Arme und Fremde.
Modern wird die wechselseitige Anerkennung der Würde des Menschen (Menschenwürde), autonomes, d. h. regelsetzendes moralisches Subjekt zu sein, nach dem bisher Gesagten gerade aus der Verfolgung des individuellen Kalküls heraus zum unveräußerlichen und unantastbaren Gut. Auch körperliche Selbsterhaltung bzw. körperliche Unversehrtheit werden als Recht, als Anspruch des Individuums, die Achtung vor der körperlichen Selbsterhaltung und der körperlichen Unversehrtheit des anderen als vom Recht abgeleitete Pflicht, also mit dem Modell der Tauschreziprozität begründet.
6. Verbot des Ehebruchs
Das Verbot, die Ehe zu brechen, richtet sich in der Welt des AT ausschließlich an den Mann, nicht an die Frau. Die Frau wird als dem Mann zugehörig angesehen, besser gesagt: sie ist seiner Herrschaft unterworfen. Das hat beim Delikt des Ehebruchs zur Folge, dass es nicht entscheidend ist, ob einer der beiden Beteiligten verheiratet, sondern nur, ob die beteiligte Frau verheiratet ist. Damit ist auch schon gesagt, dass bei Mann und Frau zweierlei Maß angelegt wird: Der Mann bricht nach dieser Auffassung nur die fremde Ehe, gleichgültig ob er verheiratet ist oder nicht, die verheiratete Frau immer die eigene. Der Gebotsinhalt zeigt ebenso wie die entsprechenden Rechtssätze, dass es um die Sicherung der Rechte des Ehemannes an der Ehefrau geht, nicht zunächst um das moralische Problem der Treue unter Ehegatten. Der Ehebruch eines Mannes wird nicht im Verhältnis zu seiner eigenen Frau sanktioniert, sondern nur insofern, als die Rechte des Mannes einer anderen verheirateten Frau tangiert sind. Freilich ist, und das ist entscheidend wichtig, die Herrschaft des Mannes über seine Frau in die Institution der Familie eingeordnet, die es zu schützen gilt, weil sie die Lebens- und Überlebensbasis bildet. Es geht darum, lebenswichtige Belange der Familie und der Gemeinschaft zu wahren. Wenn die Familie auf diese Weise vor illegitimen Erbberechtigten geschützt werden soll, dient dies dem Überleben der Großfamilie, das vom Grundbesitz der Familie abhängt. So standen bei einem Ehebruch die Legitimität der Nachkommen, die Erhaltung des Bodenbesitzes und damit die Lebensgrundlage der Familie auf dem Spiel.
Modern wird die romantische Liebe – oder vielleicht besser: die partnerschaftliche Liebe – zu einem autonomen Kommunikationsmedium. Die Gesellschaft leistet sich das Risiko beliebiger, weil nur auf Liebe gegründeter Beziehungen. Die Ehen wiederum müssen das Risiko tragen, nur kraft Liebe stabil zu sein, ohne Außenhalt in Vermögen, Stand oder Moral. So wird die Ehe zum normativen Derivat der Liebe, nicht umgekehrt.
7. Diebstahlverbot
Im Dekalog wird das Stehlen gleich zweimal verboten. Das zuerst genannte Verbot bezieht sich wohl in der Hauptsache auf den Diebstahl von fremdem beweglichem Eigentum. Hier ist an Vieh oder an Sacheigentum zu denken, an Dinge also, an denen ein vitales Interesse besteht und die es deshalb durch eine eigene Norm zu schützen gilt. Möglicherweise kann die Geltung des Verbots auch auf den Fall ausgeweitet werden, dass ein freier israelitischer Mann geraubt wurde, um als Sklave außer Landes verkauft zu werden. Von der Schuldknechtschaft, auf die im Zusammenhang mit immobilem Eigentum einzugehen ist, ist die Sklaverei durch das Bestimmungsrecht, konkret durch die uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Eigentümers über den Sklaven einschließlich der Möglichkeit, ihn wie eine Sache zu veräußern, unterschieden. Der Appell des Diebstahlverbots an die moralische Einsicht zielt auf den Schutz der Armen, der Witwen, der Waisen und der Fremden. Aber nicht allein die Einsicht der Vernunft trägt die Legitimation, sondern der Hinweis auf die Erfahrung der Befreiung im Exodus. Das heilsgeschichtliche Handeln Gottes dient als Vorbild für das ethische Handeln des Menschen.
8. Verbot der ungerechtfertigten Aneignung
Das nachfolgend genannte Verbot bezieht sich, wie bereits angedeutet, auf die unberechtigte Aneignung oder unrechtmäßige Nutzung immobilen fremden Hab und Guts. Auf diese Weise droht die Einsicht, dass das Land JHWH gehört, so dass jeder freie Israelit Grund und Boden als Gabe für sich und sein Haus versteht, aufgehoben zu werden. Dahinter steht vermutlich die Erfahrung, dass die kleinbäuerliche Ordnung zunehmend durch wachsenden Großgrundbesitz überlagert wird. Insofern erweist sich die Verpflichtung des Königs, die Schwachen und in diesem Sinne Armen in der Gesellschaft zu schützen, als ein Idealbild, das freilich gerade so auf die entstehenden sozialen Probleme hinweist. In der Differenzierung von reichen und armen, von starken und schwachen Schichten spielt nämlich das Kredit-, Zins- und Pfandrecht eine entscheidende Rolle. In Israel nahmen Kleinbauern mitunter bei einem in der Stadt lebenden Grundherren, der dann häufig der tatsächliche Eigentümer des Landes war, Geld auf. Bei nicht fristgerechter Rückzahlung des Zinses erfolgt eine Pfandnahme. Musste ein Israelit also Kredit aufnehmen und war dann nicht in der Lage, den Kredit zurückzuzahlen, konnte der Kreditgeber nicht nur auf Grund und Boden des Schuldners, sondern auch auf diesen selbst und seine Familie zugreifen. Eine Alternative dazu war, dass man sich in eine Art Dauersklaverei begab oder als Tagelöhner sein Dasein fristete. Die Forderung, für ein gewährtes Darlehen bei der Rückzahlung Zins zu bezahlen, ist also so selbstverständlich wie die Pfandnahme zur Sicherung des Darlehens und die Haftung durch Personen oder Sachen für den Fall, dass das Darlehen nicht zurückbezahlt werden kann. Tatsächlich übernahmen Großgrundbesitzer zunehmend die Verfügungsgewalt über das Land von Kleinbauern. Das Bestreben, sich immer mehr Eigentum zu verschaffen und sich, auf welche Weise auch immer, fremdes Eigentum, selbst wenn es sich um das Erbe, von dem eine Familie leben musste, handelte, anzueignen, war durchaus an der Tagesordnung. Das Verbot, nach dem Eigentum des Nächsten zu greifen, wird deshalb auf dem Hintergrund einer Entwicklung formuliert, in der Grundbesitzer in Schulden geraten und Probleme des Kredits auftreten, die sich nicht mehr im Rahmen nachbarschaftlicher Solidarität lösen lassen.
Modern gesehen, sind Unterschiede in Mitgliedschaft und Beteiligung, also Ungleichheiten, wie sie in den beiden Verboten zum Stehlen thematisiert werden, legitim, wenn sie mit Gründen gegenseitiger Besserstellung, die für alle Akteure einsichtig und akzeptabel sind, ausgestattet werden können. Allerdings ist eine lückenlose Zustimmung zu kollektiv bindenden Entscheidungen in komplexen Gesellschaften faktisch niemals einzuholen, schon deshalb nicht, weil sich die Zusammensetzung von Kollektiven laufend verändert. Daher sind institutionelle Verfahren der „Selbstentfremdung“ (Marchart 2010: 333) erforderlich, welche die Zustimmung aller simulieren. Erstrebenswert ist eine Situation, in der keiner der Beteiligten einen Anreiz sähe, von den etablierten Regeln abzuweichen. Auf diese Weise sind die ex-post-Betroffenen auch die ex-ante-Beteiligten. Werden nicht alle Akteure in den Regelkonsens einbezogen, steht zu befürchten, dass sie nicht nur den vereinbarten Regeln nicht zustimmen, sondern sie zudem nicht befolgen. Sie werden sich außerdem kaum als Kooperationspartner in sozialen Prozessen gewinnen lassen. Die methodische Verschränkung der Frage der Regeletablierung mit der Frage der Regelbefolgung hat zur Folge, dass die Akteure einen Vorteil darin sehen, den empirischen an den hypothetischen Konsens heranzuführen.
9. Verbot des Missbrauchs des Gottesnamens und der falschen Aussage
Das Verbot, nicht falsch gegen den Nächsten auszusagen, ist gegen das bisher übergangene Verbot, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen, abzuheben. In diesem Verbot wird auf magische Praktiken angespielt, sich durch die Nennung eines Namens der damit bezeichneten Person zu bemächtigen. So konnte man einen Eid leisten und dabei an eine göttliche Macht appellieren, sie solle über den Eid wachen und im Fall eines Meineides denjenigen, der auf diese Weise ihren Namen missbraucht, bestrafen. Das Verbot, den Namen Gottes zu missbrauchen, richtet sich nicht gegen den Eid generell, sondern gegen den Meineid, berührt allerdings das zuvor erwähnte Verbot insofern nicht, als man in Israel keinen Eid zur Bekräftigung einer Zeugenaussage vor Gericht kannte. Es ist vorstellbar, dass das Verbot, den Namen Gottes zu missbrauchen, schon im Rechtskontext schwerer bzw. todeswürdiger Verbrechen formuliert worden war. Für den Fall aber, dass das Verbot eigens für den Dekalog geschaffen wurde, trifft diejenige Interpretation, die jeglichen Missbrauch des Gottesnamens ausschließt, zu. Der Kontext des Verbots, nicht falsch gegen den Nächsten auszusagen, hingegen ist klar. Es ging nicht um das Lügen im Allgemeinen, sondern um die Lüge eines Zeugen vor Gericht, durch die ein Unschuldiger bestraft bzw. sogar zum Tod verurteilt werden könnte. Jeder freie Bürger kann zur Verhandlung hinzugezogen werden. Es ist mehr ein Schiedsgericht als ein Prozess, wie wir ihn kennen. Liegt ein Fall nicht offen zutage, kommt dem Zeugen entscheidende Bedeutung zu. Seine Aussage ist praktisch das einzige Mittel, die Wahrheit zu finden. Der Appell, als Zeuge vor Gericht nicht falsch auszusagen, ist im Blick auf das Gerichtsverfahren in Israel von besonderem Gewicht, da durch die übereinstimmende Aussage von zwei Zeugen in Prozessen mit möglichem Todesurteil der Angeklagte als überführt galt. Durch die Lüge vor Gericht wird aber nicht nur ein Unschuldiger bestraft, sondern auch das fragile rechtliche Gefüge der Gemeinschaft insgesamt in Gefahr gebracht. Die Aktualität dieser Weisung liegt auf der Hand.
Literatur
C. Breitsameter: Nur Zehn Worte – Moral und Gesellschaft des Dekalogs, 2012 • O. Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, 2010 • J. G. Harris: Biblical Perspectives on Aging, 22008 • J. Assmann: Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, 62007 • M. Köckert: Die Zehn Gebote, 2007 • E. Otto: Recht. III. Alter Orient und Altes Testament, in: H. D. Betz u. a. (Hg.): RGG, Bd. 7, 42004, 87–89 • Ders.: Dekalog. I. Altes Testament, in: H. D. Betz u. a. (Hg.): RGG, Bd. 2, 41999, 625–628 • J. Assmann: Ägypten, III. Religion und Kultur, in: H. D. Betz u. a. (Hg.): RGG, Bd. 1, 41998, 201–211 • F.-X. Kaufmann: Herausforderung des Sozialstaates, 1997 • B. B. Schmidt: The Aniconic Tradition. On Reading Images and Viewing Texts, in: D. V. Edelman (Hg.): The Triumph of Elohim. From Yahwisms to Judaisms, 1995, 75–107 • E. Otto: Theologische Ethik des Alten Testaments, 1994 • N. Lohfink: Poverty in the Laws of the Ancient Near East and of the Bible, in: Theological Studies 52/1 (1991), 34–50 • A. Giddens: Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in Europa, 1986 • F. Crüsemann: Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, 1983 • R. R. Wilson: Israel’s Judicial System in the Preexilic Period, in: The Jewish Quaterly Review 74/2 (1983), 229–248 • H. Seebaß: Eid II, in: G. Müller (Hg.): TRE, Bd. 9, 1982, 376–377 • O. Loretz: Die prophetische Kritik des Rentenkapitalismus, in: Ugarit-Forschungen 7 (1975), 271–278.
Empfohlene Zitierweise
C. Breitsameter: Zehn Gebote, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Zehn_Gebote (abgerufen: 21.11.2024)