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Version vom 14. November 2022, 06:02 Uhr
Das Phänomen Z. beschäftigt die Menschen seit alters. Nicht nur Denker und Dichter haben sich mit ihm befasst, sondern der Normalbürger gebraucht für sein Alltagsleben, Handeln und Wirken eine Z.-Vorstellung. Das Hauptproblem bzgl. der Z. ist die Frage nach der Einheit derselben oder der Vielheit von Z.-Formen, womit die Frage nach der Realität der Z. oder ihrer Konstruktivität einhergeht. Die westliche Kultur unterstellt wie selbstverständlich nur eine einzige Z., die Fließ-Z., die wir durch den Z.-Pfeil repräsentieren. Aber schon Physiker wie Albert Einstein bezweifeln dies. So schrieb letzterer: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“ (zit. n. Hoffmann 1972: 304), zumal die Naturprozesse reversibel sind. Und nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Entropiegesetz, wonach alles Differente dem Zustand der Auflösung entgegenstrebt, der als größter Beweis für die einsinnige Gerichtetheit der Z. gilt, lässt sich ein pulsierendes Universum mit entgegengesetzter Z.-Richtung konfrontiert denken. Dass auch das Alltagsleben nicht an die triadische Z.-Vorstellung gebunden ist, beweist die Sprache der Hopi-Indianer aus dem Coloradobecken, die Vergangenheit und Gegenwart zusammenzieht, da beide Faktisches beinhalten, und eine aus Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen hervorgegangene Zukunft anschließt, also auf einer dualen Z.-Vorstellung basiert. Das Finnisch-Ugrische, Russische und Slawische kennen überhaupt kein Temporalsystem, allenfalls Aspekte wie perfektiv und imperfektiv, die das Andauern oder den Abschluss eines Vorgangs anzeigen. Der Blick über unsere Kultur hinaus zeigt uns außer der Linear-Z. andere Z.-Formen: die präsentische, zyklische, eschatologische, die Labyrinth-Z. und andere.
Linear-Z.: Die uns vertrauteste Z. ist die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft reichende, die wissenschaftlich als potentiell unendlich, homogen, kontinuierlich und mathematisch ins Unendliche teilbar definiert wird. Schon diese Charakteristik weist sie als ein Konstrukt aus, das wir einem Gradnetz gleich über die Wirklichkeit werfen, um diese messbar zu machen. Diese Z. ist eine Erfindung Isaac Newtons, der zur Erklärung seiner Physik, insb. einer gradlinigen, durch keine äußeren Kräfte von ihrer Bahn abgelenkten Bewegung zwei absolute Weltschachteln, Raum und Z., benötigte, in die alle Daten eingeordnet und bestimmt werden können, um sie quasi von einem externen archimedischen Standpunkt zu überblicken. I. Newton scheute sich denn auch nicht, Raum und Z. als „sensorium Gottes“ (Newton 1969: 262) zu bezeichnen. Auch wenn diese Theorie wegen ihrer ubiquitären Gleichzeitigkeit durch die Einsteinsche Relativitätstheorie ersetzt wurde, bestimmt sie weiterhin unseren Alltag. Diese Z. bilden wir in unseren Uhren ab, heute in der Quarzuhr mit 91 292 631 770 Ausschlägen des Cäsiumatoms pro Sekunde. Sie ist ein Raster, das Empirische einzufangen und zu ordnen, und erweist sich damit als ein Herrschaftsinstrument des Menschen, der sich zum maître et possesseur de la nature aufschwingt.
Die damit verbundene Exaktheit und Präzision der Z.-Einteilung, z. B. des Arbeitsablaufs, des Arbeitsquantums (Arbeit), die Zweckrationalität und Effizienz haben uns Güterwohlstand und Reichtum beschert, auf der anderen Seite jedoch gesundheitliche Schäden, soziale Isolierung und Frustration verursacht, da der Mensch der Homogenität der Z. nicht angepasst ist. Viele Unfälle unserer Nonstop-Gesellschaft ereigneten sich nachts wegen Missachtung des Biorhythmus, so die Atomkatastrophe von Tschernobyl oder die Kollision des Öltankers Exxon Valdez. Diese Großunfälle waren die Konsequenz von Übermüdung der Verantwortlichen.
Das Motto der Moderne ist „immer schneller, immer weiter, immer mehr“, was zu ständiger Beschleunigung animiert. Die Entrhythmisierung aller Lebensvorgänge, z. B. die Aufhebung der Ladenschluss-Z.en, der Sonn- und Feiertage, die Belegung der Operationssäle rund um die Uhr ist zwar ein äußerst effizienter und lukrativer Umgang mit Z., aber einer, der dem Individuum nicht gerecht wird. Eine Entschleunigung würde die Lebensqualität verbessern.
Präsenz-Z.: Eine ganz andere Z.-Vorstellung begegnet in der Präsenz-Z., der urspr.sten und archaischsten, die sich heute noch, wenngleich nicht in Reinform, bei Naturethnien findet, die in den Tag hinein leben und bei ausreichendem Nahrungsangebot keine Sorge für die Zukunft durch Hortung der Nahrung und folglich auch keine Zukunft kennen, ebenso keine Vergangenheit, da erst langwierige Prozesse der Merkantilisierung, Urbanisierung und Staatenbildung durch Berufung auf Vorläufer das Bewusstsein von Vergangenheit hervorriefen.
In Reinkultur begegnet die Präsenz-Z. in der Mystik, die dem religiösen Bereich angehört. In der unio mystica, der Einheit des Menschen mit Gott, werden räumliche und zeitliche Begrenzungen hinfällig, und es wird eine Alleinheit erlebt, die mit Helligkeit, Klarheit, Levitation und Glücksgefühl einhergeht.
Von diesem Extremzustand hat auch der Alltagsmensch eine Ahnung durch Aufgehen in seiner Arbeit, wenn er sich ganz einer Sache hingibt und darüber die Umwelt einschließlich der Z. vergisst. Die Sprache hat hierfür Ausdrücke wie „vertieft sein“, „aufgegangen sein“, „versunken sein“ in seine Aufgaben. Erst bei Wiederauftauchen stellt sich eine Subjekt-Objekt-Spaltung und damit die Registrierung einer Z.-Spanne ein.
Die Psychologie beschäftigt sich mit Phänomenen der Z.-Raffung und -dehnung, zumal die inneren, subjektiven Z.-Erlebnisse von der äußeren, objektiven Z. differieren. Z.-Raffung wird empfunden bei Abwechslung und Erlebnisreichtum, z. B. bei einer interessanten Unterhaltung. Dann vergeht die Z. wie im Fluge, während sich das umgekehrte Phänomen der Z.-Dehnung bei einem langweiligen, schläfrigen Vortrag oder einem Tag ohne Abwechslung einstellt. Die Z. kriecht dann wie im Schneckengang. Beide Phänomene treten sowohl in positiv wie negativ konnotierten Situationen auf: Für einen in der Prüfung versagenden Kandidaten dehnen sich die Minuten zur Ewigkeit, ebenso für einen ungeduldig auf seine Freundin wartenden Liebhaber.
Zyklische Z.: Eine weitere Z.-Form ist die zyklische – auch Uroborus genannt. Sie ist typisch für agrarische Gesellschaften, die sich nach Naturrhythmen wie den Jahreszeiten richten und den Ackerbau mit Feldbestellung danach einrichten. Es wäre falsch, die Jahreszyklen hier zu nummerieren und zu zählen, da dies ihre Aneinanderreihung auf einer Linear-Z. erforderte, was hier noch nicht gegeben ist. Richtiger spricht man mit Friedrich Nietzsche von einer „ewige[n] Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche KSA 9: 494).
Mit Naturrhythmen befassen sich heute Biologie, insb. Chronobiologie, Medizin, Pharmakologie. Bzgl. des Menschen sind 150 Zyklen bekannt, von extremer Kürze im Molekularbereich, von längerer Dauer bei Lebensabschnitten. Diese bilden ein harmonisches, durch einen Nukleus über der Sehnervenkreuzung hergestelltes Miteinander. Darüber hinaus ist die Synchronisation dieser inneren circadianen Uhr mit den außenweltlichen Z.-Gebern wie Hell und Dunkel, dem Wechsel der Temperatur, der Nährstoffe usw. notwendig, wobei eine gewisse Elastizität dem Menschen Reisen über Z.-Zonen und die Verarbeitung des Jetlag gestattet, ebenso Schicht- und Nachtarbeit.
Da diese Z.-Vorstellung auch für die griechische Antike konstitutiv war, für Platon und Aristoteles, findet sich ihre philosophische Analyse z. B. in Platons „Timaios“ und „Parmenides“, wo die Z. als „das bewegte ewige Abbild des im Einen verharrenden Ewigen“ (Tim. 37d) beschrieben wird. Die Begriffe des Früher-, Später- und Gleichzeitigseins, die wegen ihrer Relationalität gewöhnlich unterschieden werden: das Frühere ist stets ein Früheres als das Spätere und umgekehrt, fallen hier wegen der Alleinheit des Kosmos zusammen, so dass es zu einer in sich stehenden Bewegung kommt, bei der die temporalen Differenzen koinzidieren.
Eschatologische Z.: Eine aus der jüdisch-christlichen Religion resultierende Z.-Vorstellung ist die eschatologische, die auf ein Telos (Endstadium) gerichtet ist. Sie geht auf die Vorstellung eines Schöpfungsaktes Gottes zurück, der die Z. und mit ihr die Welt erschuf und erhält, solange die Schöpfung dauert. Die Frage, was vorher war und was nachher sein wird, wäre absurd, da dies eine Linear-Z. voraussetzte, die hier nicht existiert. Die Juden (Judentum) verbieten daher eine solche Frage.
Ein Unterschied zwischen jüdischer und christlicher Auffassung besteht im Verständnis des epochalen Endes, des Heilsgeschehens, das die Christen im Christusgeschehen (Christentum) sehen, die Juden ans Ende aller Z.en verlegen. Die Diskrepanz zwischen theologischer Z.-Interpretation und historischer, die faktisch weitergeht, lösen Oscar Cullmann und, ihm folgend, Karl Löwith durch den Vergleich mit dem victory day im Krieg, in dem die Entscheidungsschlacht längst geschlagen ist, wenngleich die letzten Scharmützel noch weitergehen. Die Z. vor dem Christusgeschehen wird als Propädeutik und Prophetie interpretiert, die folgende als endgültige Realisierung des Gottesreiches (Reich Gottes). Diese Z.-Vorstellung beherrschte v. a. das gläubige Mittelalter.
Labyrinth-Z.: In der Gegenwart viel diskutiert wird die sog.e Labyrinth-Z., die ihren Ursprung der Quantentheorie, deren Schwierigkeiten und Lösungsversuchen verdankt. Die Quantentheorie versucht, im Grunde Unvereinbares zu vereinen: unbegrenzte Feld- und begrenzte Quantenstruktur der kleinsten Bausteine unserer Welt. Die von Hugh Everett vorgeschlagene Lösung über eine Mehrweltentheorie rekurriert darauf, dass unsere Welt ein unreduziertes Wellenpaket ist, das sich bei Messung für den jeweils Messenden auf ein einziges Resultat einschränkt. Nur ein Supertheoretiker (vom Status Gottes) könnte alle Messresultate gleichzeitig überblicken, während der normale Beobachter von den übrigen Messresultaten nichts weiß. Für ihn beschränkt sich die Welt auf den Zweig der Wellenfunktion, der ihm zugänglich ist. Der argentinische Romancier Jorge Luis Borges hat in seiner Novelle „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ (1941) hierfür das Bild eines Labyrinths gefunden, das nicht so sehr ein räumliches als vielmehr ein zeitliches Symbol ist, das Symbol einer sich verästelnden Z., bei der jeder Pfad Ausgang weiterer Verzeigungen ist. Der Widerspruch zwischen realer Linear-Z. und fiktiver Labyrinth-Z. löst sich dahingehend, dass der Mensch in beiden lebt, bewusst in der realen Z., unbewusst in der Labyrinth-Z. (daher Mehrweltentheorie).
Literatur
K. Gloy: Zeit in der Kunst, 2017 • R. Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, 22010 • K. Gloy: Philosophiegeschichte der Zeit, 2008 • W. Zimmerli/M. Sanbothe (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, 22007 • K. Gloy: Zeit. Eine Morphologie, 2006 • Dies.: Zeit, in: TRE, Bd. 36, 2004, 504–516 • W. R. Baier/F. M. Wuketits: Zeit-Zauber, 2001 • R. Kather: Über die Zeit, in: F. A. Brockhaus (Hg.): Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 6, 202000, 14–47 • K. Gloy: Zeit und Zahl, in: U. Fink/A. Schindler (Hg.): Zeitstruktur und Apokalyptik, 1999, 19–39 • G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, 21998 • F. Reheis: Die Kreativität der Langsamkeit, 21998 • M. Held/K. A. Geißler (Hg.): Von Rhythmen und Eigenzeiten, 1995 • H. M. Baumgartner (Hg.): Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, 1994 • Ders. (Hg.): Das Rätsel der Zeit, 1993 • P. Burger: Die Einheit der Zeit und die Vielheit der Zeiten, 1993 • K. Gloy: Hegels Geschichtsphilosophie im Vergleich mit anderen Geschichtskonzeptionen, in: DZP 39/1 (1991), 1–11 • M. Frank: Zeitbewußtsein, 1990 • F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, in: KSA Bd. 9, 1988 • I. Prigogine: Vom Sein zum Werden, 51988 • O. Marquard: Temporale Positionalität, in: R. Herzog/R. Koselleck (Hg.): Poetik und Hermeneutik, Bd. 12, 1987, 343–352 • E. Ströker: Geschichte und ihre Zeit, in: dies. (Hg.): Phänomenologische Studien, 1987, 187–215 • H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, 1986 • E. Rudolph: Zeit und Gott bei Aristoteles, 1986 • Ders.: Einheit und Differenz. Anm. zu Augustins Zeitauffassung im XI. Buch der ‚Confessiones‘, in: K. Gloy/ders. (Hg.): Einheit als Grundfrage der Philosophie, 1985, 102–119 • C. F. von Weizsäcker: Aufbau der Physik, 1985 • M. Heidegger: Sein und Zeit, 51984 • K. Hübner: Über verschiedene Zeitbegriffe in Alltag, Physik und Mythos, in: W. Korff (Hg.): Redliches Denken, 1981, 20–30 • K. Düsing: Objektive und subjektive Zeit, in: KantSt 71/1–4 (1980), 1–34 • H. Niedermüller: Zeit und Rhythmus in Biologie und Medizin, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 11/33 (1980), 458–465 • R. Koselleck: Vergangene Zukunft, 1979 • W. Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie, 1976 • G. Böhme: Zeit und Zahl, 1974 • H. Everett: The Theory of the Universal Wave Function, in: B. de Witt/N. Graham (Hg.): The Many Worlds Interpretation of Quantum Mechanics, 1973, 1–140 • B. Hoffmann: Albert Einstein, 1972 • I. Newton: Optics, in: ders.: Opera quae exstant omnia, Bd. 4, 1969, 1–264 • W. Beierwaltes: Exaifnes oder: Die Paradoxie des Augenblicks, in: PhJ 74 (1966/67), 271–283 • G. Böhme: Über die Zeitmodi, 1966 • E. Husserl: Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1966 • R. W. Meyer (Hg.): Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, 1964 • H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 1, 1964 • K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 41961 • O. Cullmann: Christus und die Zeit, 1946 • J. L. Borges: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, 1941 • A. Hoche: Langeweile, in: Psychologische Forschung 3/1 (1923), 258–271 • H. Bergson: Zeit und Freiheit, 1911.
Empfohlene Zitierweise
K. Gloy: Zeit, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Zeit (abgerufen: 24.11.2024)