Zentralverwaltungswirtschaft: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Wirtschaftswissenschaft]]

Version vom 14. November 2022, 06:02 Uhr

Der Begriff „Z.“ ist eine Bezeichnung für diejenige Form der Wirtschaftsordnung, die umgangssprachlich oft „Planwirtschaft“ genannt wird. Letzterer Begriff ist dahingehend unpräzise, dass die Pläne der Wirtschaftssubjekte in jeder Wirtschaftsordnung eine zentrale Rolle spielen. Zum gängigen wissenschaftlichen Begriff im deutschsprachigen Raum wird „Z.“ bes. durch die Ordnungstheorie in der Tradition von Walter Eucken und dessen Schüler Karl Paul Hensel. Dieser Eintrag fokussiert auf die theoretischen Debatten zur Z. als radikale Alternative zur Marktwirtschaft, und zeigt zudem auf, dass die Argumente aus diesen Debatten für die praktische Planung in den sozialistischen Volkswirtschaften von hoher Relevanz sind.

1. Sozialismus und Wirtschaftsordnung vor der Gründung der Sowjetunion

Die Idee des Sozialismus wird im Zuge des 19. Jh. von verschiedenen Denkern in sehr unterschiedlichen Fassungen formuliert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Varianten besteht darin, wie konkret sie die praktische Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung in der sozialistischen Gesellschaft ausführen. Der wohl wirkungsmächtigsten sozialistischen Doktrin des 19. Jh., derjenigen von Karl Marx (Marxismus), wird oft attestiert, dass sie diesbezüglich wenig Konkretes bietet. Vor dem Hintergrund der deterministischen Geschichtsauffassung (Geschichte, Geschichtsphilosophie) ist diese Leere der Marx’schen Lehre verständlich, denn demnach wird sich die konkrete sozialistische Wirtschaftsordnung mit Notwendigkeit „von selbst“ verwirklichen. Diese Unbestimmtheit bedeutet aber, dass es späteren Generationen vorbehalten blieb, die Wirtschaftsordnung des Sozialismus zu durchdenken und umzusetzen. Nichtsdestotrotz wird im 19. Jh. und im frühen 20. Jh. über die Möglichkeit, die markwirtschaftliche Koordination radikal durch einen zentralen Plan zu ersetzen, kontrovers diskutiert, und zwar von methodologisch und ideologisch so unterschiedlichen Theoretikern und Praktikern wie John Stuart Mill, Hermann Heinrich Gossen, Léon Walras, Vilfredo Pareto, Nicolaas Gerard Pierson, Friedrich von Wieser, Enrico Barone und Edwin Cannan.

2. Die Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus in den 1920er Jahren

Mit der Novemberrevolution in Russland sowie dem Ausrufen der Räterepubliken in Mitteleuropa in der unmittelbaren Nachfolge des Ersten Weltkrieges erfahren die frühen theoretischen Debatten eine gänzlich neue Aktualität und Relevanz. Die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, durch dessen Ausmaß und Länge die logistischen Planungsaufgaben in der Praxis des Krieges eine bisher unvorstellbare Dimension erreichen, sorgen bei vielen für Begeisterung bzgl. der Planbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft auch nach dem Krieg.

Ludwig von Mises löst mit seinem Beitrag „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“ aus dem Jahre 1920 eine höchst intensive Debatte aus, die zunächst größtenteils im deutschsprachigen Raum ausgetragen wird. Die zentrale These fokussiert auf die Abwesenheit von Preisen für Produktionsmittel (d. h. Kapitalgüter), deren Vergemeinschaftung ein zentrales Merkmal der sozialistischen Wirtschaftsordnung ist. Sozialistische Theoretiker und Praktiker wie Rudolf Hilferding, Otto Bauer, Otto Neurath, Karl Polanyi und Jacob Marschak, aber auch Joseph Alois Schumpeter nehmen zwar die Mises’sche Kritik ernst, dass die Abwesenheit von Preisen für Produktionsmittel die Entscheidungen über die bestmögliche Verwendung der bestehenden Produktionsmittel und über die Investitionen in neue Produktionsmittel erschwert. L. von Mises’ Diagnose, dass die Abwesenheit von Preisen und die damit einhergehenden Kalkulationsprobleme eine rationale Ressourcenallokation (Allokation) schlichtweg unmöglich machen und die Z. sich deshalb mittel- und langfristig der Marktwirtschaft als unterlegen erweisen muss, wird von sozialistischer Seite dennoch bestritten.

3. Die Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus in den 1930er und 1940er Jahren

Wladimir Iljitsch Lenins „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) ab 1921 ist eine explizite Reaktion darauf, dass die zentrale Planung des sog.en Kriegskommunismus während des russischen Bürgerkriegs zu immensen materiellen Engpässen geführt hat. Damit stellt die NEP den ersten von vielen späteren Versuchen dar, Zugeständnisse an die Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Koordination zu machen und marktwirtschaftliche Elemente in die von Z. dominierte Ordnung einzubauen, um diese funktionsfähiger zu machen.

Die zweite Auflage der Kalkulationsdebatte verlagert sich ab den späten 1920er Jahren in den angelsächsischen Raum. Theoretiker wie Fred Manville Taylor, Henry Douglas Dickinson, Maurice Dobb, Abba Ptachya Lerner und Oskar Ryszard Lange formulieren ein Forschungsprogramm, das unter dem Begriff „Marktsozialismus“ subsumiert wird. Dabei wird zugestanden, dass L. von Mises die Wichtigkeit des Preismechanismus für die Ressourcenallokation zu Recht betont hat. Durch Modellierungen der neoklassischen Theorie vom Allg.en Gleichgewicht wollen die Marktsozialisten allerdings zeigen, dass der Preismechanismus nachgebildet und die optimalen Preise und Mengen für alle Güter identifiziert werden können, so dass der Preismechanismus in der Praxis ersetzt werden kann.

Demgegenüber wendet Friedrich August von Hayek ein, dass zwar solche Gleichungssysteme eine statische Abbildung der Ökonomie ermöglichen, dass aber durch die ständige Neuentdeckung von Wissen die Konstanz der Parameter bei den in den Gleichungssystemen enthaltenen Angebots- und Nachfragefunktionen nicht gegeben ist. F. A. von Hayek zweifelt insb. an, dass auch der mit marktsozialistischen Instrumenten ausgestattete zentrale Planer über so viel Wissen verfügen kann, wie der Preismechanismus in der Marktwirtschaft permanent verarbeitet. Die Innovationen der Produzenten und die Verhaltensänderungen von Konsumenten bedeuten eine permanente Neuentdeckung von Wissen und führen zu ständig neuen Preisen. Damit diagnostiziert F. A. von Hayek die Unterlegenheit der zentralen Planung in ihrer Unfähigkeit, die heterogenen und sich ständig verändernden Präferenzen der Konsumenten mit heterogenen und sich ständig verändernden Produkten zu versorgen (Österreichische Schule der Nationalökonomie). Ordoliberale Ökonomen wie W. Eucken und Wilhelm Röpke schließen sich F. A. von Hayeks Diagnose aus seinem 1944 erschienenen Buch „The Road to Serfdom“ an, dass die Z. nicht nur im materiellen Sinne einer wohlgeordneten Marktwirtschaft unterlegen ist, sondern dass sie außerdem ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und Autonomie unmöglich macht.

4. Die Zentralverwaltungswirtschaft in der Nachkriegszeit und heute

Paul Anthony Samuelson, einer der bedeutendsten Ökonomen der Nachkriegszeit, hält in einer Retrospektive aus dem Jahre 2009 fest, dass seine Generation durch F. A. von Hayeks Beitrag „The Use of Knowledge in Society“ aus dem Jahre 1945 davon überzeugt wurde, dass die marktwirtschaftliche Koordination durch Preise kaum simulierbar und ersetzbar ist. Nichtsdestotrotz bleibt in den Nachkriegsjahrzehnten die Faszination für die zentrale Planung in den westlichen Gesellschaften lange erhalten, auch dank der Robustheit der sowjetischen Wirtschaft während des Zweiten Weltkriegs. So hält P. A. Samuelsons einflussreiches Lehrbuch „Economics“ über viele Auflagen hinweg bis in die späten 1970er Jahre die These vom Aufholen der UdSSR gegenüber den USA aufrecht. In der Bundesrepublik wird die Leistungsfähigkeit der osteuropäischen Z.en unterschiedlich eingestuft: Die Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, gegründet 1954 in Freiburg von K. P. Hensel und ab 1957 angesiedelt an der Universität Marburg, nimmt die Mises-Hayek-Argumente ernster als bspw. das DIW, das die DDR-Wirtschaft deutlich optimistischer einschätzt.

Jenseits des Eisernen Vorhangs wird die totale Dominanz der zentralen Planung aus der Epoche des Stalinismus in vielen Ostblock-Ländern im Laufe der 1960er Jahre herausgefordert, indem eine Neuauflage der Lenin’schen NEP ausprobiert wird, die in der DDR den Namen „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung“ (NÖSPL) erhält. Indem die Betriebe mehr Autonomie erhalten, Gewinne erwirtschaften und über deren Verwendung z. T. selbst entscheiden dürfen, sollen nunmehr die Anreize für die einzelnen Wirtschaftssubjekte ähnlich wie in der Marktwirtschaft gesetzt, die stalinistische Z. dezentralisiert und durch den maßvollen Einbau von Elementen marktwirtschaftlicher Koordination flexibilisiert werden.

Das NÖSPL endet nicht nur durch die neue politische Eiszeit nach dem Prager Frühling von 1968. Gerhard Schürer, von 1965 bis 1989 Leiter der Staatlichen Plankommission der DDR, zeigt in seinen Memoiren an praktischen Beispielen auf, wie schwierig sich die Kombination von zentraler Planung in Ost-Berlin und dezentraler Planung in den einzelnen Betrieben gestaltet. Außerdem lässt sich der Schürer’schen Darstellung deutlich entnehmen, dass die Argumente von L. von Mises und F. A. von Hayek, die auch er kennt, sich als stichhaltig erweisen: G. Schürer stellt wiederholt dar, dass der Mangel an Dynamik und Innovation in der DDR-Wirtschaft nicht an der Einfallslosigkeit der Ingenieure oder Arbeiter liegt, sondern an der Einsicht der Planer, dass sie höchstens ein statisches System planen können, so dass sie beim Planen systematisch verhindern, dass die Ideen der Ingenieure und Arbeiter in innovative Produkte umgewandelt werden.

Es ist zweifelhaft, ob diese fundamentalen Probleme künftig durch Fortschritte etwa in der Informatik lösbar werden. G. Schürer betont, dass auch neue Disziplinen wie die Kybernetik und die Entwicklungen der Rechentechnologien die Kardinalschwäche der Z. – den Umgang mit der Dynamik bei den einzelnen Produzenten, Konsumenten und ihren Interaktionen – nicht beheben konnten. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten hat die Kombination aus Globalisierung und Digitalisierung in der heutigen Wirtschaftsordnung eine zusätzliche Dynamik entfaltet, die wohl auf absehbare Zeit einer zentralen Planung unzugänglich bleibt.