Stalinismus

Mit S. wird gemeinhin die seit Ende der 1920er Jahre durch Josef W. Stalins „Revolution von oben“ in der Sowjetunion geschaffene Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung bezeichnet. Der forcierte Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ (Stalin 1976: 331), die Verabschiedung eines ersten Fünfjahresplans (Zentralverwaltungswirtschaft) und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sollten dem Land eine neue schwerindustrielle Basis geben, die verbliebenen privatwirtschaftlichen Freiräume in Handel und Gewerbe beseitigen und die Millionen Bauernhöfe zu großen Kolchosen und Sowchosen zusammenschließen, denen der Staat die Ziele und die Verwendung ihrer Produktion vorgab. Die in Fabriken und Behörden, Schulen, Hochschulen und anderen kulturellen Einrichtungen verbliebenen „bürgerlichen“ Eliten sollten durch neue „proletarische Kader“ ersetzt und allen „Ehemaligen“, „Überbleibseln“ des Alten, als „Saboteuren“ des sozialistischen Fortschritts, als „Sowjetfeinden“ und „Spionen“ des kapitalistischen Auslands der bedingungslose Kampf („Säuberungen“) angesagt werden: Sie wurden verhaftet, vor Gericht gestellt, in „Schauprozessen“ abgeurteilt, an die Peripherie verbannt, zu Millionen in Arbeitskolonien und Zwangsarbeitslager (Gulag) verbracht und zu Hunderttausenden erschossen.

Als politisches Schlagwort, das wertende, beschreibende und analytische Elemente miteinander verband, war S. bereits zeitgenössisch in Gebrauch. Nur zwei prominente Stimmen. Der Journalist Walter Duranty, der für die New York Times seit Anfang der 1930er Jahre aus der UdSSR berichtete, sprach analog zum „Marxismus“ (Duranty 1931: 1) und „Leninismus“ (ebd.) auch von „S.“ (ebd.): Während Marxismus eine Theorie und Leninismus die Debatte darüber gewesen sei, war S. für ihn die Praxis und Anwendung in der russischen Tradition autokratischer Regime. Stalins „Revolution von oben“ stellte er dabei in die Tradition der Reformen Ivans IV., Peters des Großen und Alexanders II. Reformen seien in Russland stets „von oben“ unternommen worden; ein „autokratisches Regime“, das ein „Allgemeinwohl“ beschwöre, liege dem „asiatischen“ Denken der Russen näher als die Vorstellungen vom „Individuum“, von „freiem Unternehmertum“ und auch als jene „Neue Ökonomische Politik“, die Sowjetrussland seit Anfang der 1920er Jahre betrieben hatte. Für seine durchaus einflussreichen Berichte aus dem stalinistischen Russland erhielt Duranty 1932 den Pulitzer Preis. Nachrichten von der furchtbaren Hungersnot, in der 1932/33 Millionen starben, hielt Duranty für „übertriebene Gräuelpropaganda“ (Duranty 1933: 1).

Für Leo Trotzki – in den 1920er Jahren J. W. Stalins erbittertster innerparteilicher Gegner, 1927 aus der Partei ausgeschlossen und 1929 ins türkische Exil abgeschoben – verriet die „thermidorianische Bürokratie“ (Trotzki 1997: 191) des S. „die Weltrevolution“ (ebd.); den S. trenne vom Leninismus ein „Strom von Blut“ (Trotzki 2009: 13). Schon die massive politische Verfolgung und die Verherrlichung des Staates widersprächen der Behauptung von einer Verwirklichung des Sozialismus. Der Sowjetstaat sei unter J. W. Stalin zu einem „bürokratischen Absolutismus“ (Deutscher 1963: 292) verkommen, eine sich selbst bereichernde, „herrschende Gruppe“ (ebd.: 293) verteidige ihre Interessen inmitten „des Mangels und der Armut“ (ebd.: 287).

In der UdSSR war S. ein Unwort. Zwar hatte Lasar Kaganowitsch, seit 1930 Vollmitglied des Politbüros und J. W. Stalin über dessen Tod hinaus treu ergeben, mehrfach angeregt, nicht nur immer von Wladimir Iljitsch Lenin und Leninismus zu sprechen – W. I. Lenin sei seit 1924 tot. Zeitgemäß wäre es, die Losung vom Leninismus durch diejenige vom S. zu ersetzen, was J. W. Stalin, obwohl geschmeichelt, abgelehnt hatte. Eine solche Losung hätte auch J. W. Stalins Behauptung in Frage gestellt, immer nur Lordsiegelbewahrer des Leninismus gewesen zu und nie von dessen Kurs abgewichen zu sein (ein Vorwurf, den er in den Nachfolgekämpfen nicht zuletzt seinem Erzrivalen L. Trotzki gemacht hatte).

Nach J. W. Stalins Tod (1953) berichtete sein Nachfolger im Parteiamt Nikita Chruschtschow in einer internen Rede Ende Februar 1956 den irritierten Delegierten des 20. Parteitags von dessen „Intoleranz, Brutalität und Machtmissbrauch“ (Chruschtschow 1990: 21), von Massenrepressalien gegen Partei-, Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre 1937/38, Säuberungen der militärischen Führungskader, Deportationen ganzer Völker während des Krieges sowie von Kampagnen gegen regionale Parteigruppen und „Kosmopoliten“ nach dem Krieg. N. Chruschtschow machte unter Ausklammerung des karrierebewussten Führungszirkels J. W. Stalin persönlich und allein für alle „Fehler“ (ebd.) und „zügelloseste Willkür“ (ebd.: 81) verantwortlich, ohne den Begriff des S. zu gebrauchen. Schließlich sollten J. W. Stalins „Revolution von oben“, forcierte Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft weiterhin als revolutionäre Errungenschaften, als Voraussetzungen für den Sieg im Zweiten Weltkrieg und für den Aufstieg zur Weltmacht gefeiert werden. Dass in ihrer Folge Millionen von Sowjetbürgern Anfang der 1930er Jahre verhungert waren, blieb ein Staatsgeheimnis bis Ende der 1980er Jahre.

Der Kurs selektiver Erinnerung hielt an. Wenn Michail S. Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre wiederholt betonte, man könne auf den zurückgelegten Weg „stolz“ (Gorbatschow 1988: 170) sein, wollte er die Stalin-Zeit nicht ausnehmen: „‚Stalinismus‘ ist ein Begriff, den sich die Gegner des Kommunismus ausgedacht haben und der umfassend dafür genutzt wird, die Sowjetunion und den Sozialismus insgesamt zu verunglimpfen“ (Gorbatschow 1988: 178). Doch ließ sich im Zuge der selbst propagierten neuen „Offenheit“ die Auseinandersetzung nicht verhindern. Wenn der sowjetische Philosoph Alexander Zipko in der Artikelserie einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift 1988/89 nach den „Quellen des Stalinismus“ (Zipko 1988 f.) fragte, landete er sehr schnell in jenen Tabuzonen, deren Betreten Gorbatschow hatte verhindern wollte: Stalins Vorstellungen vom Sozialismus unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen anderer Marxisten-Leninisten. Die säuberliche Trennung des S. vom „Leninismus“ war damit obsolet.

Wenn westliche Analysten seit Beginn des Kalten Krieges von der „stalinistischen Sowjetunion“ sprachen, sahen sie deren politisches System v. a. als Variante eines neuen, totalitären Staates, den S. (zusammen mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus) als Gegenentwurf zum demokratischen parlamentarischen Rechtsstaat. Neuere Studien sahen nach dem Krieg im Zentrum totalitärer Systeme eine auf den Endzustand der Menschheit ausgerichtete, alles erklärende, alles legitimierende Ideologie („Weltanschauung“) und als deren Hüter eine hierarchisch organisierte „Massenpartei“ (Friedrich/Brzezinski 1968: 611) mit einem Führer an ihrer Spitze; sie verfüge über ein nahezu „vollständiges Monopol der Kontrolle aller Mittel wirksamer Massenkommunikation“ (Friedrich/Brzezinski 1968: 611) und ein Terrorsystem auf physischer oder psychischer Grundlage; dies erlaube ihr zugl. „eine zentrale Überwachung und Lenkung der gesamten Wirtschaft durch die bürokratische Koordinierung vorher unabhängiger Rechtskörperschaften“ (Friedrich/Brzezinski 1968: 611).

Indem sie den Blick auf das Zusammenspiel von Ideologie, Massenpartei, Führerstaat und Terrorsystem richtete, schien die Totalitarismustheorie (Totalitarismus) Funktionsbedingungen des stalinistischen Systems auf den Begriff gebracht zu haben. Ihr konnte auch der Einwand, dass die Theorie als Teil der ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges entstanden sei, wenig anhaben. Gewichtiger war, dass sie einen gedachten Ist-Zustand beschrieb, Veränderungen, wie sie nach 1956 in der UdSSR zu registrieren waren, kaum erklären konnte, auch nicht die unterschiedlichen Entwicklungen in den sozialistischen Staaten, von Polen, Albanien und Rumänien bis nach Kuba und China. Zugleich hieß ein totaler Machtanspruch noch nicht, dass er trotz Terrorsystem problemlos durchzusetzen war; dann mussten die mentalen Vorbehalte und institutionellen Widerstände historisch erklärt werden, was eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Ideologie unverzichtbar machte. Da schließlich eine dauerhafte Herrschaft, die sich nur auf Gewalt und Terror stützte, nicht vorstellbar war, musste auch die Vorstellung, die die Gesellschaft zum bloßen Objekt und Opfer machte, systematisch hinterfragt werden.

Eben diese sozialgeschichtlichen Untersuchungen mahnten eine neue („revisionistische“) Forschungsgeneration seit Ende der 1960er Jahre an. J. W. Stalins „Revolution von oben“ beschrieb sie (in Anspielung auf die damaligen Ereignisse in China) als „Kulturrevolution“, mit der Ablösung alter Eliten und der Entstehung neuer Trägerschichten, die ihren Platz einnahmen und zu Profiteuren und Trägern dieser Entwicklung wurden; Vergleichbares galt für die Entwicklung auf dem Dorf und in den explosionsartig wachsenden Städten. Sie erschütterten das Bild vom allmächtigen Staat und einer straff organisierten Kaderpartei, machten Machtaushandlungsprozesse und Chaos sichtbar. Selbst der Terror schien unter diesem Blickwinkel, als „Stalinismus von unten“ (Bonwetsch 1988), einen neuen Stellenwert zu bekommen und die Bedeutung Stalins als Initiator und spiritus rector der Massengewalt zu relativieren.

Wie stark sich die (westliche) Forschung zum S. bis Anfang der 1980er Jahre diversifiziert hatte, zeigte eine Studie, die sieben verschiedene Erklärungsmodelle unterschied:

a) die Überzeugung, dass in der sowjetischen Geschichte die Kontinuität von W. I. Lenin zu J. W. Stalin überwog;

b) ein Ansatz, der Revolution und S. in der Tradition der großen russischen („vaterländischen“) Geschichte sah, in deren Tradition sich ja auch die stalinistische Führung seit den 1930er Jahren bewusst stellte;

c) der dargestellte Totalitarismus-Ansatz;

d) eine Beschreibung des S. als Variante der Modernisierungs- und Industrialisierungspolitik (auch unter dem Stichwort einer „Erziehungsdiktatur“ zur Überwindung der Rückständigkeit);

e) ein Verständnis des S. als Parallele zur Französischen Revolution und S. als „thermidorianische Degeneration“ (Fitzpatrick 2001: 2) eines Revolutionsregimes, im Verbund mit der Entstehung einer „neuen Klasse“ (ebd.: 162);

f) die Fokussierung auf die etatistischen und bonapartistischen Züge und Charakterisierung des S. als Staatskapitalismus oder Staatssozialismus;

g) die Sicht des S. als Form einer „asiatischen“ oder „orientalische[n] Despotie“ (Wittfogel 1957), bei der der Staat zentrale, so nur von ihm zu bewältigende Aufgaben übernahm und sich dafür einen riesigen Apparat aufbaute.

Es versteht sich, dass die skizzierten Modelle nicht klar voneinander zu trennen waren und manche Beobachtungen in unterschiedlichen Modellen auftauchten.

Die endachtziger und neunziger Jahre konfrontierten die westliche Forschung mit einer doppelten Herausforderung: Die schrittweise Öffnung der sowjetischen Archive stellte sie auf eine neue, viel breitere Basis. Sie erlaubte erst jetzt, die großen Entscheidungen der Stalin-Zeit, deren Durchführung und Folgen hell und detailliert auszuleuchten; der Forschung völlig unbekannte Tatbestände und Entwicklungen kamen zu tage. Sie bestätigten das riesige Ausmaß von Chaos, Terror und Gewalt. Dass dafür nicht der Namensgeber, sondern ein „Stalinismus von unten“ verantwortlich sei, bestätigten die neuen Quellen nicht. Gerade an den großen Kampagnen und Gewaltexzessen ließ sich zeigen, dass das Signal dazu stets „von oben“ (Barberowski 1995: 97) ausging und man ihnen von dort auch ein Ende setzte. Beispielhaft zeigte dies die Umsetzung des Befehls 00447 vom Sommer 1937, nach dem bis Ende 1938 767 397 Menschen verurteilt wurden, 386 798 zum Tod durch Erschießen.

Die zweite Herausforderung der endachtziger Jahre war der Paradigmenwechsel von der „klassischen Sozial“- zu einer „neuen Kulturgeschichte“. Die „neue Kulturgeschichte“ versuchte, Anregungen aus den Nachbardisziplinen der Anthropologie, Mentalitäts-, Mikro-, Alltags- und Geschlechtergeschichte aufzunehmen, Wertvorstellungen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von historischen Akteuren, Gruppen und Randgruppen einzubeziehen, Kommunikationsformen (Symbole, Rituale und Zeremonien) zu entschlüsseln und mit den „alten“ Ansätzen der Politik-, Verfassungs-, Sozial- und Geistesgeschichte in Beziehung zu setzen. Sie erweiterten damit auch das Spektrum in der S.-Forschung beträchtlich. Ein Versuch, beide Ansätze miteinander zu verbinden, war Stephen Kotkins Plädoyer, „Stalinismus als Zivilisation“ (Kotkin 1995) zu verstehen, in der die eine Seite „von oben“ die Ziele vorgab („Building socialism“ [Kotkin 1995: 27]) und die andere darauf reagierte („Living socialism“ [ebd.: 141]), sich angewöhnte, „bolschewistisch zu sprechen“ (ebd.: 198). Wie unterschiedlich die Forschungsansätze inzwischen sind, zeigen andererseits die Arbeiten Jörg Baberowskis, die J. W. Stalin als Person und Gewalt als Leitkategorie in den Mittelpunkt rücken. Sie beschreiben S. als „Despotie, in der die Willkür des Diktators den Alltag der Funktionäre und ihrer Untergebenen strukturierte“ (Barberowski 2012: 22) und sich von dort aus in alle Lebensbereiche ausbreitete. Das Ordnungsprojekt des Bolschewismus habe nicht zuletzt deshalb in den Massenterror geführt, „weil der Diktator ein Gewalttäter aus Leidenschaft war“ (Barberowski 2012: 30): „Ohne Stalins kriminelle Energie, seine Bösartigkeit und seine archaischen Vorstellungen von Freundschaft, Treue und Verrat wären die Mordprozesse der dreißiger Jahre kaum möglich gewesen. Der Exzess war die Lebensform des Diktators“ (Barberowski 2012: 30). Die kommunistische Ideologie (Kommunismus) diente dabei nur als Rechtfertigung, sie sei nicht deren Motivation gewesen. J. Baberowskis Sichtweise blieb nicht unwidersprochen; kritisch disktuiert wurde sie u. a. in einem speziell diesem Forschungsansatz gewidmeten Heft der Zeitschrift „Osteuropa“.

Insgesamt gilt: Nach dem Zerfall der UdSSR und dem Ende der kommunistischen Regime in Osteuropa hat das Schlagwort S. viel von seiner ursprünglichen politischen Brisanz verloren. An die Stelle des relativ starren Bildes von der totalitären UdSSR ist durch die Beiträge der politik-, sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Forschung ein vielschichtigeres Bild der Zeit getreten, ohne ihr den Schrecken schier beispiellosen Terrors und entgrenzter Gewalt zu nehmen.