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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:11 Uhr
P. bezeichnet die Fürsorglichkeit in Beziehungen, die hinsichtlich physischer Macht, Wissen, rechtlicher Kompetenz, Erfahrung, Alter, Einfluss u. a. mehr asymmetrisch sind. Der Begriff leitet sich vom Bild des Vaters (lateinisch pater) ab, der für seine noch nicht mündigen Kinder wohlwollend entscheidet. P. ist das rekonstruierte Prinzip eines grundlegenden Typus von Interaktion, der auf das Wohl von anderen zielt, es dabei aber für nicht erforderlich erachtet, die Zustimmung der Betroffenen einzuholen, oder sich sogar absichtlich über deren Willen hinwegsetzt. Die Überordnung der eigenen Fürsorgepflicht über die eventuelle Selbstbestimmung der Umsorgten bzw. Geschützten ist verbunden mit der komplementären Erwartung, dass diese sich den zu ihrem Wohl getroffenen Entscheidungen oder angeordneten Maßnahmen fügen. Gerechtfertigt wird paternalistisches Eingreifen i. d. R. mit dem Argument, der mächtigere Part könne aufgrund seiner größeren Lebenserfahrung, seines detaillierten Professionswissens, seiner Ausbildung bzw. aufgrund bestimmter institutionell zugewiesener Amtsbefugnisse besser als das Kind, der Patient oder ein anderer auf Hilfe Angewiesener ermessen und entscheiden, was sachlich und unter den gegebenen Bedingungen für diesen gut sei. Manchmal wird zusätzlich auf Defizite oder Einschränkungen abgehoben, die die Entscheidungsfähigkeit von Betroffenen in physischen, psychischen oder sozialen Belastungssituationen einschränken; gegenüber nur vorübergehend bestehenden Wünschen und Vorzugswahlen müsse advokatorisch das längerfristige bzw. gewichtigere Beste zur Geltung gebracht werden.
1. Die philosophische Debatte
Unter Bezugnahme auf den Grundlagentext liberaler Staatstheorie von John Stuart Mill „On Liberty“ hat sich in der angelsächsischen Philosophie seit den 1970er-Jahren eine intensive Debatte über P. entwickelt, die v. a. in der medizinischen Ethik Widerhall gefunden hat, wo sie sich mit anderen Debattensträngen (insb. über die Zulässigkeit von Humanexperimenten und über die Sterbehilfe) gekreuzt hat. Grundlegend sind die von Joel Feinberg vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen hartem und mildem und zwischen starkem und schwachem P. Ausgangslage bei allen Spielarten ist eine Konstellation von Schwäche, Selbstgefährdung oder sogar von Selbstschädigung auf der einen Seite und die Möglichkeit zu schützen, Gefahren abzuwehren oder sogar zu unterstützen auf der anderen. Während „milder P.“ nur Maßnahmen umfasst, die versuchen, mittels Appellen oder Warnungen zu erreichen, dass das gewünschte Verhalten aus eigener Einsicht geschieht, steht „harter P.“ für Maßnahmen, die den Betreffenden durch Einwirkungen oder Verhindern zu einem bestimmten Tun oder Lassen bringen. „Schwacher P.“ ist eine Unterart von hartem P. und charakterisiert ein fürsorgliches oder stellvertretendes Eingreifen dort, wo die Wünsche, Willensäußerungen und Entscheidungen von Personen sicher nicht hinreichend autonom sind. „Starker P.“ liegt hingegen dann vor, wenn aus Fürsorglichkeit fremdbestimmte Personen eigentlich in der Lage wären, autonome Entscheidungen zu fällen.
Einhellig der ethischen Kritik unterliegt nur der starke P., weil sich in entsprechenden Fällen der Helfende über den Willen und die Freiheit einer anderen Person hinwegsetzt. Ihm gegenübergestellt wird das Ethos der Selbstbestimmung bzw. Autonomie. In dem Maße, wie die Achtung der Autonomie im Vergleich zum Wert des Wohlergehens veranschlagt und als Teil des Selbstkonzepts verstanden wird, erscheint auch schwacher P. als kritikbedürftig oder zumindest als rechtfertigungspflichtig und grundsätzlich begrenzt. Im konkreten Fall ist die Unterscheidbarkeit von starkem und schwachem P. allerdings meist schwierig, weil sowohl die Einschätzung von Hilfebedürftigkeit als auch die des Wohlergehens durch die Betroffenen selbst und durch mögliche Unterstützer häufig subjektiv-perspektivisch und komplex sein dürfte.
Ein weiteres Thema ist die starke Fokussierung der angewandten Ethiken auf Autonomie als Reaktion auf die Kritik des inkulturierten und etablierten paternalistischen Ethos. Vorbehalte werden insb. bzgl. der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Entscheidungen und bzgl. der Außerachtlassung von Vertrauen geäußert.
2. Bereiche
Obschon schwerpunktmäßig mit Blick auf die Beziehung zwischen Arzt und Patient thematisiert und diskutiert, handelt es sich beim P. um einen Typus von Handlungen und Entscheidungen, der ganz unterschiedliche Konstellationen betrifft wie z. B. die zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Lehrendem bzw. Meister und Lernendem bzw. Schüler, zwischen Informiertem und Uninformiertem, zwischen einer staatlichen Behörde und den einzelnen Bürgern, zwischen dem Inhaber einer amtlichen Kompetenz und dem Antragsteller usw. Die P.-Debatte legt offen, dass es dabei jeweils auch um Konstellationen ungleicher Macht geht und die grundlegenden Werte und Zielvorstellungen der Beteiligten nicht selbstverständlich gemeinsame sind. Dies bedingt Konflikte zwischen Handlungsoptionen der Beteiligten, Verletzungen der persönlichen Integrität und auch den Eindruck, der Willkür des überlegenen Teils ausgeliefert zu sein.
2.1 Medizinisches Handeln
Die Neigung zu paternalistischem Fürsorge-Handeln ist im Feld der Medizin bes. ausgeprägt, weil die Beziehung zwischen Arzt und Patient meist rollen- und anlassbedingt von einem Augenblick auf den nächsten eingerichtet wird, ohne dass seitens des Patienten Vertrauenswürdigkeit und Einfühlungsvermögen des Arztes geprüft werden können. Bes. empfindliche Phasen im Prozess dieser Beziehung sind die Aufklärung des Patienten über seine Krankheit, die Einwilligung in ärztlich vorgeschlagene Behandlungsmaßnahmen, ferner der verschwiegene Umgang mit der persönlichen Sphäre und den medizinischen Daten, die Durchführung bzw. Begrenzung von Maßnahmen, die vom Patienten als schädlich empfunden werden könnten. Der Austarierung zwischen Patientenwohl und verletzender Bevormundung dienen heute rechtliche Rahmenregelungen (institutionalisierte Möglichkeiten der Bevollmächtigung, der Betreuung und der Patientenverfügung) und standesethische Richtlinien. Wichtigster Referenzpunkt ist das Prinzip des informierten Einverständnisses, das, abgesehen vom akuten Notfall, ausnahmslos für jede diagnostische und therapeutische Maßnahme gilt.
2.2 Erziehung
Menschen im Kindesalter sind bes. intensiv auf fürsorgliches Handeln erwachsener Bezugspersonen angewiesen. Zugleich sind sie in besonderem Maße verletzlich. Insofern ist Erziehung wie auch kindliche Pflege zweifellos eine Form von P., allerdings eines bloß transitorischen, dessen Ziel es von vornherein ist, sich selbst überflüssig zu machen. Fürsorge seitens der Eltern und Erzieher soll das Kind dabei unterstützen, selbst einmal ein autonomes, für sich und andere sorgen könnendes Subjekt zu werden.
2.3 Staat, Recht, Politik
Kritik am P. im Recht, in der Staatskonzeption und in der politischen Programmatik ist ein Element der liberalen Staatstheorie (Liberalismus) seit deren Anfängen. Dabei geht es sowohl um die Zuständigkeit des Staates für die soziale und ökonomische Sicherheit der einzelnen Bürger als auch um die Frage, wie weit es legitim ist, moralische Verhaltensnormen der Mehrheit rechtlich verbindlich zu machen. Programmatische Prinzipien einer antipaternalistischen Politik sind Partizipation, Zivilgesellschaft und Bürgernähe.
2.4 Sozial- und Entwicklungsarbeit
Lange Zeit verstanden sich Sozialarbeit und Sozialpädagogik vom Gedanken der Fürsorge her. In den letzten Jahrzehnten wurden zunehmend Konzeptionen entwickelt und in die Praxis implementiert, die auf eine präventive und aktivierende Sozialarbeit setzen und Problemlösungen favorisieren, die bei den Hilfsbedürftigen selbst ansetzen und deren Fähigkeitspotentiale und Stärken nutzen. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass Fremdhilfe Abhängigkeit generiert (Selbsthilfe, empowerment, Capability Approach).
2.5 Seelsorge
Die Sorge um die Menschen „in Freude und Hoffnung, in Trauer und Angst“, bes. aber um „die Armen und Bedrängten“ ist nach dem Selbstverständnis der Kirche ihre zentrale Aufgabe in der Welt von heute (GS 1). Für das Gelingen solcher Sorge ist es entscheidend, dass sie nicht paternalistisch an den Bedürfnissen und Verletzbarkeiten der Menschen und der Gemeinden vorbei praktiziert wird. Eine Chance bzw. Gefahr stellt hierbei das katholische Amtsverständnis dar, insofern es das kirchliche Tun auf den Einzelnen fokussiert, gleichzeitig jedoch auf Relikte eines tradierten Klerikalismus stößt, der das geistliche Gefälle mit Definitionsmacht über Lebenssituationen, mit sakramentaler Amtsvollmacht und mit Privilegierung des männlichen Geschlechts verquickt.
3. Grenzen des Paternalismus-Problems
Ohne der P.-Kritik Berechtigung und Notwendigkeit abzusprechen, ist es sozialethisch wichtig, ihre Voraussetzung zu sehen: das Leitbild des starken Bürgers, der reflektieren kann, informiert ist oder sich Informationen beschaffen und seine Interessen selbst zur Geltung bringen kann. Es gibt aber auch Menschen, die diesen Status nicht nutzen können, und weltweit unzählige, denen er verweigert wird. Der achtsame Blick auf und die Hilfe für diese Schwachen sind ein Kernanliegen der jüdisch-christlichen Glaubenstradition, die sich aus der Erinnerung an geschichtlich erfahrene Knechtung, Armut und Marginalisierung zur Sorge um einen menschengerechten Umgang mit den Schwächsten verpflichtet sieht (Option für die Armen).
Literatur
U. Wiesing (Hg.): Ethik in der Medizin, 42012 • B. Fateh-Moghadam/S. Sellmaier/W. Vossenkuhl (Hg.): Grenzen des Paternalismus, 2010 • H. U. Zude: Paternalismus, 2010 • B. Schöne-Seifert: Grundlagen der Medizinethik, 2007 • M. Anderheiden/H. Heinig/P. Bürkli (Hg.): Paternalismus und Recht, 2006 • J. Giesinger: Paternalismus und Erziehung, in: ZfPäd 52/2 (2006), 265–284 • T. Gutmann: Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, in: ZRG GA 122/1 (2005), 150–194 • K. Möller: Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005 • T. Rehbock: Autonomie – Fürsorge – Paternalismus. Zur Kritik (medizin-)ethischer Grundbegriffe, in: Ethik in der Medizin 14/3 (2002), 131–150 • R. Anselm: Jenseits von Laienmedizin und hippokratischem Paternalismus, in: ZME 45/2 (1999), 91–108 • U. Fischer: Die Zulässigkeit aufgedrängtem staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997 • T. L. Beauchamp: Paternalism, in: W. T. Reich (Hg.): Encyclopedia of Bioethics, Bd. 4, 1995, 1914–1920 • R. Sartorius (Hg.): Paternalism, 1983 • J. F. Childress: Who should decide? Paternalism in Health Care, 1982 • J. Feinberg: Legal Paternalism, in: CJP 1/1 (1971), 105–124 • J. S. Mill: On liberty, 1859.
Empfohlene Zitierweise
K. Hilpert: Paternalismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Paternalismus (abgerufen: 22.11.2024)