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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr
I. Philosophische Aspekte
Abschnitt druckenU.n im Sinne idealer Gesellschafts- oder Staatsentwürfe hat es von Anfang an in der philosophischen Literatur gegeben, wenn auch das Wort U. erst seit Thomas Morus’ Werk „Utopia“ (1516) ein Terminus ethisch-praktisch-politischen Denkens geworden ist. Auch in der schönen Literatur finden sich zahllose utopische Romane, Reisebeschreibungen von fernen Inseln und entlegenen Orten, an denen gemeinschaftliche Lebensformen praktiziert werden, denen exemplarische Gültigkeit zugeschrieben wird. Die klassischen U.n sind i. d. R. Gesamtentwürfe für eine vollkommene, auf dem Prinzip der Gerechtigkeit basierende Gesellschaftsordnung, die ein in kritischer Absicht entwickeltes Kontrastprogramm als Korrektiv zu bestehenden Verhältnissen abgeben soll.
Das Wort U., obwohl erst im 16. Jh. entstanden, setzt sich aus griechisch οú (nicht) und tόpos (Ort) zusammen und bedeutet: kein Ort, nirgends. Die in den klassischen U.n geschilderte Sozietät hat somit keine empirisch angebbare Raum-Zeit-Stelle; sie existiert weder hier und jetzt noch in einer fernen Zukunft. Vielmehr ist U. ein normativer Begriff in ethisch-praktischer Absicht, durch den eine Lebensform gedacht wird, der Maßstabfunktion zukommt. Solche statischen U.n mit normativem Gewicht könnte man als vertikale U.n bezeichnen. Das Grundmodell aller vertikalen U.n, auf das sich die meisten klassischen Utopisten beziehen, findet sich in Platons „Staat“ (6. und 7. Buch). Die im Höhlengleichnis beschriebene Aufstiegsbewegung hebt an bei der Praxis des Höhlenstaats und führt über verschiedene Zwischenstufen zur Idee des Guten als Inbegriff von Normativität und Letztgrund alles unbedingt Gesollten. Diese Idee des Guten soll bei der Abstiegsbewegung mit Hilfe der Einbildungskraft utopisch „verleiblicht“ werden, was bei Platon in einem Prozess zunehmender Verbildlichung bzw. Versinnlichung geschieht: Die Idee des Guten konkretisiert sich im Prinzip der Gerechtigkeit, dieses in der Grundfähigkeit der Seele, ihre drei Teile (Vernunft [ Vernunft – Verstand ], Besonnenheit, Mut) zu koordinieren. Das Seele-Modell wiederum objektiviert sich im Dreiständestaat (Archonten, Bauern/Handwerker, Krieger), in dem jeder das Seine tut. Damit die Philosophenkönige vernünftig regieren, wird Bestechlichkeit und Korruption dadurch vorgebeugt, dass sie kein Privateigentum besitzen dürfen. Damit die Bauern und Handwerker besonnen arbeiten, vertraut man ihnen Grund und Boden sowie Materialien und Geräte als Eigentum an. Damit die Krieger tapfer kämpfen/verteidigen, lässt man sie in einer Frauen- und Kindergemeinschaft leben.
T. Morus entwickelte im Zuge seiner sozialkritischen Analyse der feudalen Verhältnisse im England des 16. Jh. das Konzept eines Idealstaats, in dem er die platonische Verwerfung des Privatbesitzes mit dem epikuräischen Lustprinzip als Garanten für soziale Gerechtigkeit und kollektives Glück verband.
Tommaso Campanella wiederholte in seiner U. „La citta del sol“ (1602) die Struktur der platonischen Abstiegsbewegung unter christlichem Aspekt, indem er an die Stelle der Idee des Guten Gott setzt, der sich als dreieiniger in den Sinndimensionen Macht, Weisheit und Liebe realisiert. Analog steht an der Spitze des Sonnenstaats der „Sol“ oder „Metaphysikus“ genannte höchste Regent, der gemeinsam mit dem Triumvirat „Pon“, „Sin“ und „Mor“ (potentia, sapientia, amor), deren Amtsbereiche Kriegswesen, Bildungswesen und Gesundheitswesen sind, die Staatsgeschäfte leitet. Untergeordnete Behörden tragen die Namen von Tugenden und repräsentieren eine Art personalisierten Moralkodex. Wie schon T. Morus sieht auch T. Campanella das Prinzip der Gerechtigkeit in einer kommunistischen Lebensform verwirklicht.
Im Unterschied zur vertikalen U., die als statische Orts-U. konzipiert ist, kann man die Zeit-U. als horizontale U. charakterisieren. Das platonische Modell einer auf- und absteigenden Dialektik wird gewissermaßen im Uhrzeigersinn aus der Vertikalen in die Horizontale gedreht und das utopische Konstrukt aus dem „Nirgendwo“ ins „Irgendwann“ verlegt. Die horizontale U. ist als Zukunftsentwurf in erster Linie nicht mehr Maßstab, regulative Norm zur Beurteilung bestehender Verhältnisse, sondern Resultat eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, an dessen Ende die verwirklichte U. als Ziel steht. Entspr. bekommen die Überlegungen, die den Weg zur als Ziel vorgestellten U. betreffen, stärkeres Gewicht als in den klassischen vertikalen U.n, die von der Fiktion einer durch keine Tradition und Konvention vorbelasteten Neugründung ausgehen. Die horizontalen U.n hingegen knüpfen an eine bestehende Gesellschaftsordnung an und suchen von dorther angemessene Mittel und Wege zur utopisch vorentworfenen besseren oder besten Staats- bzw. Lebensform. Vertikale U.n sind ungeschichtlich, horizontale U.n dagegen eminent geschichtlich (Geschichte, Geschichtsphilosophie). Zu den Geschichts-U.n s. a. Reich Gottes.
Obwohl Karl Marx und Friedrich Engels ihr Modell einer klassenlosen Gesellschaft nicht als U. verstanden wissen wollten, gibt es doch das beste Beispiel für eine horizontale Zeit-U. ab. Ausgehend vom Kapitalismus entwickeln sie über die Stufen des Sozialismus und Kommunismus die U. eines Reichs der Freiheit, indem sie in einer Fortschrittsdialektik (Fortschritt) den Weg als einen notwendigen Gang wissenschaftlich zu konstruieren versuchen. Jede Stufe treibt aufgrund der ihr immanenten Widersprüche die nächste aus sich heraus. Getragen durch die Revolution des Proletariats wird die Entwicklung dahin führen, dass mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit verbunden der Klassengegensätze schließlich der Staat überflüssig und absterben wird. An seine Stelle tritt eine sich einvernehmlich organisierende Gemeinschaft freier Individuen.
Die marxistische U. hat von verschiedenen Seiten Kritik erfahren. Während Ernst Bloch im Reich der Freiheit eine metaphysische oder religiöse Dimension vermisst, die den von der Arbeit entlasteten, neuen kreativen Menschen mit dem Sinn einer verwandelten Kirche erfüllen soll, konstatiert Leszek Kolakowski für die „utopische Anti-Utopie“ (Kolakowski 1974: 9) von K. Marx einen Widerspruch: sie hebe den Unterschied zwischen normativem Anspruch und empirischer Prognose auf. Außerdem ermangele sie einer Ethik, die statt für eine auf Kosten der Menschlichkeit praktizierte perfekte Gesellschaftsordnung für eine vielleicht nicht vollkommene, aber doch erträgliche Lebensform plädiere. Hans Jonas wendet sich gegen das Projekt „Umbau des Sterns Erde“ (Bloch 1918: 148) schlechthin und deklariert den Glauben, man könne das Reich der Freiheit von dem der Notwendigkeit abtrennen, als einen Irrtum. Es gelte, dem erbarmungslosen Optimismus der Utopisten eine barmherzige Skepsis, dem Prinzip Hoffnung das Prinzip Verantwortung entgegenzusetzen und anstatt von einem schlechthin Guten zu träumen die Ausbreitung des Bösen zu verhindern.
Eine bes. Form von kritischen Zeit-U.n stellen die negativen Anti-U.n oder Dystopien dar, die im Gegensatz zu allen Eutopien Schreckensvisionen einer schönen Hölle zeichnen, in denen die Vorstellung einer Gemeinschaft guter, autonom handelnder Menschen in die Endzeit-U. einer hochtechnisierten Gesellschaft verkehrt wird, deren Mitglieder ab ovo manipuliert sind und in ihren Interaktionen wie mechanisch gesteuerte Automaten reibungslos funktionieren. Bereits Francis Bacon entwarf in seiner unvollendet gebliebenen U. „Nova Atlantis“ (1638) einen Staat, der von Ordensbrüdern regiert wird, die zugleich Wissenschaftler sind. Diese betrachten die Natur als göttliches Machwerk, das sie zu entschlüsseln und durch menschliche Erfindergabe nachzuahmen streben. Die experimentelle Erforschung der Natur und die von einer erstaunlichen technischen Phantasie zeugenden Apparaturen dienen dem Lobe Gottes und verstehen sich als Wiederholung der göttlichen Schöpfung mit menschlichen Mitteln. F. Bacon erweist sich damit als Vorläufer der Science-Fiction-Literatur eines Cyrano de Bergerac („Histoire comique des états et empires de la lune“ [1657]; „Histoire des états et empires du soleil“ [1662]) und Jules Verne („De la terre à la lune“ [1877]).
In den modernen Anti-U.n von Herbert George Wells („The Time Machine“ [1895]), Jewgeni Iwanowitsch Samjatin („Nous autres“ [1924]), Aldous Huxley („Brave new World“ [1932]), George Orwell („Nineteen-Eighty-Four“ [1949]) u. a. werden negative Tendenzen des 20. Jh. in die Zukunft extrapoliert, um das Zerrbild einer sittlich entgleisten Menschheit vorzuführen. Wenn die theoretische qua technisch-instrumentelle Vernunft den Vorrang über die praktische qua sittliche Vernunft erringt, besteht die Gefahr, dass die Maschine zum Vorbild einer konfliktfrei miteinander verkehrenden, gleichförmigen Einheitsgesellschaft wird. Das durch Gentechniken, lebenslange Normierungsprozesse und Kontrollverfahren stabilisierte soziale Gleichgewicht und das mit Hilfe von Drogen und Lustmaschinen künstlich herbeigeführte größte Glück der größten Zahl sind erkauft durch den Verlust jedweden Privatbereichs, der den Nährboden von Kreativität und Individualität bildet. Die Menschen werden zu Nummern, die beliebig austauschbar sind. Der Preis des Glücks ist die Freiheit. Die Botschaft der Anti-U.n besteht darin, dass man all das Leid, das aus unkontrollierter Willkürfreiheit und menschlicher Gewalt entsteht, zwar durch Züchtung gehorsamer menschlicher Herdentiere, die wie Marionetten funktionieren, vermeiden kann, dass jedoch ein durch die Aufhebung von Freiheit hergestelltes systemkonformes Handeln Ergebnis einer viel schlimmeren Gewalttätigkeit ist, durch die die sittliche Natur des Vernunftwesens Mensch und damit seine Humanität vernichtet werden.
Die mit dem Übergang ins 21. Jh. erfolgte digitale Wende, verbunden mit der Fokussierung auf KI, hat zwei neue Typen utopischen Denkens hervorgebracht, die mit positiven und negativen Zukunftsszenarien operieren. Während im Transhumanismus das Ideal eines durch Selbstoptimierung (enhancement) physisch, neuronal und hinsichtlich seiner Wertvorstellungen verbesserten Menschen propagiert wird, warnen die Spezialisten in Folgenabschätzungskommissionen vor der Gefahr eines Super-GAU, der die Menschheit ausrotten könnte.
Literatur
D. Fenner: Selbstoptimierung und Enhancement, 2019 • S. L. Sorgner: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt!?“, 2016 • J. Broome: Climate Matters. Ethics in a Warming World, 2012 • U. Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007 • R. Martinsen (Hg.): Politik und Biotechnologie. Die Zumutung der Zukunft, 1997 • M. Buber: Pfade in Utopia, 31985 • H. Gnüg: Der utopische Roman, 1983 • L. H. Silbermann/H. Fries: Utopie und Hoffnung, in: CGG, Bd. 23, 1982, 55–86 (Lit.) • W. Voßkamp (Hg.): Utopieforschung, 3 Bde., 1982–85 • W. Erzgräber: Utopie und Anti-Utopie, 1980 • H. Jonas: Kritik der Utopie und die Ethik der Verantwortung, 1979 • F. E. Manuel/F. P. Manuel: Utopian Thought in the Western World, 1979 • R. Spaemann: Zur Kritik der politischen Utopie, 1977 • R. Grimm/J. Hermand (Hg.): Deutsches utopisches Denken im 20. Jahrhundert, 1974 • L. Kolakowski: Marxismus – Utopie und Anti-Utopie, 1974 • O. Rühle: Baupläne für eine neue Gesellschaft, 1971 • J. Servier: Der Traum von der großen Harmonie. Eine Geschichte der Utopie, 1971 • F. E. Manuel (Hg.): W unschtraum und Experiment. Vom Nutzen und Nachteil utopischen Denkens, 1970 • W. Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, 1969 • E. Jäckel: Utopia und Utopie. Zum Ursprung eines Begriffs, in: GWU 7 (1956), 655–667 • E. Bloch: Geist der Utopie, 1918 • K. Marx/F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880.
Empfohlene Zitierweise
A. Pieper: Utopie, I. Philosophische Aspekte, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Utopie (abgerufen: 24.11.2024)
II. Politikwissenschaftliche Perspektiven
Abschnitt drucken1. Definition und Prototyp
U. ist der Entwurf einer alternativen Gesellschaftsfiktion, die die bestehende Ordnung in kritischer Absicht kontrastiert. Der Begriff geht zurück auf Thomas Morus, der durch einen fingierten Reiseberichterstatter in „De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia“ (1516) das Leben eines imaginären Volkes auf der Insel „Utopia“ beschreibt. Das Kunstwort ist zusammengesetzt aus den beiden griechischen Vokabeln οú (nicht) und tόpos (Ort) und verweist damit auf Nichtexistenz, auf ein literarisches „Nirgendwo“. Im Anschluss an T. Morus wäre die Gleichsetzung von U. mit einer schlichten Idealstaatskonstruktion jedoch ein Missverständnis. Die Vielschichtigkeit des Textes und sein spielerisch-intellektueller Charakter lassen das Gesellschaftsporträt vielmehr als Reflexionsfläche und Diskursfolie erscheinen, eine Qualität, die auch vielen späteren Entwürfen zu eigen ist. Unerreicht aber blieb die raffinierte, interpretationsbedürftige Ambivalenz von T. Morus’ „Utopia“: Das Lob vermeintlich vorbildlicher Einrichtungen und Sitten erweist sich immer wieder als vergiftet, als heiter-absurde Überzeichnung oder sogar warnend-dystopische Intention. Kennzeichnend ist neben einer harten sozialkritischen Analyse insb. ein soziales Gedankenexperiment, das die Vernunft (Vernunft – Verstand) – schwankend zwischen Ernst und Ironie – als Staatsprinzip erprobt. In seiner Grundstruktur, bestehend aus Sozialkritik und alternativer Gesellschaftsfiktion, ist das Werk aber zweifellos prototypisch für die gesamte Denktradition.
2. Utopiegeschichte
In historischer Perspektive durchlebte das Genre zahlreiche Veränderungen und Wandlungen. Während sich in Antike und Mittelalter bereits Vorläuferformen und verwandte Ansätze finden lassen (z. B. Platons „Politeia“, Iambulos „Sonneninseln“, Joachim von Fiores „Drittes Zeitalter des Heiligen Geistes“), die T. Morus teilweise aufgreift, die sich aber zumeist nur eingeschränkt als U.n werten lassen, dominierten in Renaissance und früher Neuzeit schließlich Insel- und Reise-U.n und prägten damit maßgeblich das klassische Profil der Gattung (Tommaso Campanella [1996], Johann Valentin Andreae [1975], Francis Bacon [1996], François Fénelon [1984], Denis Veiras [1990]). Dieses Muster wurde spätestens im ausgehenden 18. Jh., mit Louis-Sébastien Merciers „L’an 2440“ (1771) von Zeit-U.n abgelöst, die die alternative Gesellschaft fast ausschließlich in die Zukunft projizierten (z. B. Edward Bellamy [1983], William Morris [1974]). Im 19. Jh. überlagerten Fortschrittsdenken (Fortschritt), Geschichtsphilosophie (Geschichte, Geschichtsphilosophie), die Auswirkungen der industriellen Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und das Aufkommen der sozialistischen Bewegungen (Sozialismus) das U.-Profil. Neben programmatisch-utopischen beherrschten verstärkt auf Realisierung und Vorbildfunktion gerichtete Intentionen die Traditionsgeschichte. Mit Beginn des 20. Jh. emanzipierte sich die U. von diesen Konvergenzen. Eine einschneidende Neuerung ging mit den sogenannten Dystopien einher. Autoren wie Jewgeni Iwanowitsch Samjatin (1982), Aldous Huxley (1988) oder George Orwell (1976) skizzierten keine positiv konnotierten Gesellschaftsmodelle mehr, sondern Szenarien der Unterdrückung und Überwachung. Die Entwürfe dienten einerseits der Warnung vor totalitären Entwicklungen in Politik und Gesellschaft (Totalitarismus), waren andererseits aber auch gleichbedeutend mit einer Art Selbstkorrektur und -kritik des Genres. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. pluralisierte sich die Tradition weiter, eine Entwicklung, die bis heute anhält. Neben der Reaktion auf neuartige Herausforderungen (Ökologie, globale Ungerechtigkeit, Frauendiskriminierung, Transhumanismus, Selbstoptimierung [enhancement]) dominiert eine verstärkte Integration positiver und negativer Szenarien, Raum- und Zeitprojektionen sowie liberaler und autoritärer Modelle, oftmals in kritisch-reflexiver Distanz zu den jeweiligen Entwürfen selbst.
3. Begriffsfelder
In Umgangssprache und öffentlichem Diskurs war das Wort in Gestalt feuilletonistischer oder schlagwortartiger Form neben positiver und wertneutraler Konnotation bereits seit dem 19. Jh. auch als politischer Kampfbegriff zur Diffamierung gegnerischer Positionen („irreale Zielvorstellung“, „Wolkenkuckucksheim“) in Gebrauch. In der jüngeren U.-Forschung existieren insb. drei paradigmatische Begriffe: Ausgehend vom inzwischen als unglücklich empfundenen Begriff „Staatsroman“ (Mohl 1960) begründeten um 1900 zunächst Vertreter eines eng umgrenzten Begriffs der literarischen Gattung die Tradition der frühen U.-Forschung und rekurrierten dabei primär auf die kanonisch-literarischen Texte (Friedrich Kleinwächter [1891], Arthur von Kirchenheim [1892]). Zum Zweiten etablierte sich der Begriff in einem sozialtransformatorischen und deutlich umfassenderen Verständnis sowohl als ideologieverwandte Denkhaltung (Karl Mannheim [1995]) als auch als anthropologisch-ontologisches Prinzip (Ernst Bloch [1959]). Drittens tauchte er im Kontext totalitarismustheoretischer Verkürzungen (Karl Raimund Popper [1992], Joachim Fest [1991]) auch als polemische Kategorie auf. Insb. die Implosion der realsozialsozialistischen Diktaturen um 1989/90 wurde dabei häufig mit der These vom „Ende des utopischen Zeitalters“ (Fest 1991) gleichgesetzt. Doch die als Nachrufe angelegten Analysen ruhten weitgehend auf einem Missverständnis fast aller Kennmerkmale der U. und haben sich in Diagnose wie Prognostik als ebenso unhistorisch wie überholt erwiesen.
Als praktikabelster Begriff der U.-Forschung kristallisierte sich indes der sogenannte „klassische Utopiebegriff“ (Saage 2014: 305) heraus, der primär an die frühe Forschungstradition anknüpft. Er hält einerseits an klaren Charakteristika (kritische Intention, Diesseitsorientierung, soziales Gegenbild) fest und erlaubt so Abgrenzungen gegenüber anderen Formen wie Science-Fiction, Sozialprognostik, Futurismus, Chiliasmus, Eschatologie, politischer Programmatik, Fürstenspiegel, Mythen, Schlaraffenlandidyllen oder Robinsonaden. Andererseits ermöglicht er eine offene Analyse und Diagnose von Kontinuität und Wandel sowie von Konvergenzphänomen und historischen Profilveränderungen der Denktradition.
4. Ausblick
Ihre größte Existenzberechtigung dürfte die U. auch in Zukunft in Gestalt eines sozialen Möglichkeitsdenkens besitzen, das auf kritische Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Ökonomie reagiert und i. S. eines geistig-experimentellen Mediums das Denken für alternative Antworten offenhalten und für mögliche Problemlösungen sensibilisieren kann.
Literatur
Werke:
F. Bacon: Neu-Atlantis, in: K. J. Heinisch (Hg): Der utopische Staat, 1996, 171–215 • T. Campanella: Sonnenstaat, in: ebd., 111–169 • T. Morus: Utopia, in: ebd., 9–110 • M. Piercy: Frau am Abgrund der Zeit, 1996 • D. Veiras: Eine Historie der Neu-gefundenen Völcker Sevarambes genannt, 1990 • L.-S. Mercier: Das Jahr 2440, 1989 • A. Huxley: Schöne neue Welt, 1988 • F. Fénelon: Die Abenteuer des Telemach, 1984 • E. Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, 1983 • J. Samjatin: Wir, 1982 • E. Callenbach: Ökotopia, 1978 • G. Orwell: 1984, 1976 • J. V. Andreae: Christianopolis, 1975 • W. Morris: Kunde von Nirgendwo, 1974.
Literatur:
T. Schölderle: Geschichte der Utopie, 22017 • R. Saage: Nachwort – Zum analytischen Potenzial des klassischen Utopiebegriffs, in: T. Schölderle (Hg.): Idealstaat oder Gedankenexperiment?, 2014, 305–315 • T. Schölderle: Utopia und Utopie, 2011 • R. Saage: Utopische Profile, 4 Bde., 2001–03 • K. Mannheim: Ideologie und Utopie, 81995 • K. R. Popper: Die offene Gesellschaft, 2 Bde., 71992 • J. Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, 51991 • R. von Mohl: Die Staatsromane, in: ders. (Hg.): Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft, Bd. 1, 1960, 167–214 • E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 2 Bde., 1959 • A. von Kirchenheim: Schlaraffia politica, 1892 • F. Kleinwächter: Die Staatsromane, 1891.
Empfohlene Zitierweise
T. Schölderle: Utopie, II. Politikwissenschaftliche Perspektiven, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Utopie (abgerufen: 24.11.2024)