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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr
1. Begriff
Der Z. verarbeitete die Nationalstaatsidee des 19. Jh. für das Judentum und stellte andererseits die konsequent „dissimilatorische“ Reaktion auf den modernen Antisemitismus dar. Zu seinem Kern gehören die Überzeugung von einer nationalen Einigung und Selbstbestimmung des jüdischen Volkes unter Rückbesinnung auf seine kulturelle Identität („jüdische Renaissance“) sowie die Auffassung, dass der „assimilatorische“ Weg des europäischen Diasporajudentums der Moderne in der Illusion, die Juden könnten durch Selbstaufgabe ein Verschwinden des Antisemitismus bewirken, gescheitert sei. Beide Grundannahmen wurden bei weitem nicht von allen Juden geteilt, weder von der religiösen Orthodoxie noch vom Gros der „bürgerlichen“ Juden Westeuropas, sodass der aktive Z. bezogen auf die gesamte jüdische Bevölkerung und ungeachtet seiner Dynamik eine Minderheitenbewegung blieb. Innerhalb der Bewegung entwickelten sich unterschiedlichste, teils stark konkurrierende ideologische wie politische Vorstellungen über die exakte Zielrichtung des Z. und die Wege, den jüdischen Staat zu errichten, die sich in zahlreichen Fraktionsbildungen niederschlugen.
Der Begriff Z. bezieht sich auf den Tempelberg in Jerusalem als den Kristallisationsort jüdischer Rückkehrhoffnung und -erwartung seit dem Beginn der durch die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 verursachten (v. a. europäischen) Diaspora der Juden. Dabei ist die religiös-messianische Rückkehrhoffnung von der national-aktivistischen Rückkehrplanung des Z. zu unterscheiden. Erste „zionistische“ landwirtschaftliche jüdische Siedlungen in Palästina entstanden in den frühen 1880er Jahren als Ergebnis der osteuropäischen Bewegung Chibbat Zion (Zionsliebe), deren Anhänger als Zionsfreunde auftraten.
Als Begründer der Hauptlinie der modernen zionistischen Bewegung gilt der Wiener, seit 1891 in Paris tätige Journalist Theodor Herzl, dessen charismatische Persönlichkeit, hoher Aktivitätsgrad und v. a. dessen visionär-programmatische Schriften, „Der Judenstaat“ (1896) und „Altneuland“ (1902), dem Z. innerhalb von wenigen Jahren ein weltweites Echo verschafften. T. Herzls Antrieb erwuchs v. a. aus der Erfahrung des maßlosen Antisemitismus, den er im Frankreich der Dritten Republik und der Dreyfus-Affäre erlebte. Als eigentlicher Beginn des Z. gilt der erste, von David Farbstein und T. Herzl organisierte Kongress in Basel, Ende August 1897 (bis zur Staatsgründung fanden weitere 21 Kongresse statt), als Höhe- und Zielpunkt die Gründung des Staates Israel im Mai 1948. Aber freilich hat weder T. Herzl den zionistischen Gedanken erfunden noch ist der Z. mit der Staatsgründung beendet, insofern, als zur raison d’être Israels der Gedanke gehört, für Juden in aller Welt stets Heimstatt und Zufluchtsort zu sein. In diesem Sinne, und um den Staat Israel zu stärken, fanden auch die Zionistenkongresse seit 1951 (bis zuletzt 2006) eine Fortsetzung in loser Folge. Die Art des Fortwirkens der zionistischen Idee unter den Bedingungen der Existenz des jüdischen Staates ist in den geschichtspolitischen Debatten in und um Israel schwer umstritten. Dabei treten sich „(Neo)-Zionisten“ und „Antizionisten/Postzionisten“ gegenüber. In nichtjüdischen Diskursen über Israel ist „Israelkritik“ – etwa an der Siedlungspolitik – oftmals mit antizionistischen Verdikten untersetzt, deren Übergänge in eine Spielart des Antisemitismus fließend sind. Weltweites Aufsehen erregte die UN-Resolution 3379 vom 10.11.1975, in der Z. als eine Form des Rassismus und der Rassendiskriminierung verurteilt wurde. Die Resolution wurde von den Vereinten Nationen im Dezember 1991 zurückgenommen.
2. Konzeptionen und Sinnstiftung
Wichtige Vordenker des Z. waren der frühsozialistische Theoretiker Moses Hess, der russisch-jüdische Arzt und Publizist Leon Pinsker und der Journalist Nathan Birnbaum. Während M. Hess in seinem Buch „Rom und Jerusalem“ (1862) die jüdische Frage als „die letzte Nationalitätsfrage“ behandelte und in einem utopisch-sozialistischen Staatsgedanken auflöste, schrieb L. Pinsker zwanzig Jahre später sein Werk „Autoemanzipation“ (1882) unter dem Eindruck der Pogrome in Odessa. N. Birnbaum („Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande“ [1893]), der sich später allerdings vom Z. abwandte, gehört zu den ersten, die, seit Anfang der 1890er Jahre, mit dem Begriff Z. operierten.
Neben der „politischen“ Herzl-Richtung mit ihrem Akzent auf der jüdisch-nationalen Idee, die – durch die möglichst unverzügliche Gründung eines Judenstaates – die Lösung des Antisemitismusproblems bringen sollte, entwickelte sich eine eher kulturelle, sozialutopische (Utopie) und auch stärker religiös untersetzte Variante. Als Vordenker dieses „kulturzionistischen“ Konzepts – dem auch der junge Martin Buber anhing –, gilt Achad Ha’am (eigentlich Ascher Ginsberg), dessen Forderung lautete, vor einer Staatsgründung jüdische Kultur zunächst in Palästina wieder einzuwurzeln, um es als geistiges Zentrum des Judentums neu zu etablieren. Eine Staatsgründung könne nicht aus dem Modus der „inneren Knechtschaft“ (1901) erfolgen, sondern müsse geistig und kulturell vorbereitet sein. Im Unterschied zu T. Herzl, dessen größerer Realismus mögliche Alternativen zu Palästina zumindest nicht gleich verwarf („Uganda-Plan“), stand für A. Ha’am das „Land Israel“ (Erez Israel) um keinen Preis zur Disposition. Z. durfte nicht zu einer beliebigen, sondern musste zwingend zu einer Staatsgründung in Palästina führen, die Ergebnis einer Rückbesinnung auf die geistigen und religiösen Wurzeln des Judentums zu sein hatte.
Zu den Fraktionierungen des dann schon entwickelten Z. zählt der sogenannte „Revisionismus“, der 1925 zu einer „Rechtsabspaltung“, angeführt von Wladimir Zeev Jabotinsky, von der 1897 in Basel gegründeten Zionistischen Weltorganisation führte. W. Z. Jabotinsky kritisierte die Hauptlinie der Organisation unter ihrem langjährigen Präsidenten Chaim Weizmann als zu sozialistisch und der britischen Mandatsmacht in Palästina und v. a. den Arabern gegenüber zu nachgiebig. In den großen diasporajüdischen Organisationen der neuen Welt, wie dem World Jewish Congress (WJC, gegründet 1936 unter wesentlicher Mitwirkung von Nahum Goldmann) und dem American Jewish Committee (AJC) spielte der Z. stets eine zentrale, wenngleich leidenschaftlich diskutierte Rolle: Für diese Organisationen war der jüdische Staat zwar eine anerkannte, als notwendig und unbedingt unterstützenswert begriffene Manifestation jüdischen Lebens in der Moderne, aber keineswegs die einzige, gegenüber jüdischen Lebensformen in der Diaspora in jedem Fall zu präferierende. Diese Auffassung begründete eine „universalistische“, auf umfassendes Lebensrecht und Minderheitenschutz (Minderheiten) für Juden überall auf der Welt, garantiert durch die Akzeptanz der allgemeinen Menschenrechte pochende Haltung, die zu denjenigen Zionisten, die ausschließlich in einem jüdischen Staat die Zukunft des Judentums erblickten, oftmals in heftig ausgetragenen Gegensatz trat.
Untrennbar mit der politischen Aktion und letztlich mit dem Erfolg des Z. ist seine unablässige kulturelle Sinnstiftung verbunden. Die stete Propagierung bestimmter „zionistischer“ Bilder, bes. auch Körperbilder, vom Juden als „Pionier“ (Hechaluz) und vom gemeinschaftlichen Aufbau einer blühenden Zivilisation in der Wüste, stärkte die Dynamik der Bewegung und vermittelte die Vision einer großen Zukunft. In sogenannten Hachschara-Kursen („Vorbereitung“) sollte v. a. die junge Generation bürgerlicher Juden für die Auswanderung geschult und auf neue landwirtschaftlich-sozialistisch-kollektivistische Lebensweisen (Kibbuzim) vorbereitet werden. Auch zionistisch nicht aktive Juden sollten sich mit der Bewegung identifizieren lernen, und sie durch eigenen Einsatz zuhause, etwa durch Geld- oder Baumspenden unterstützen. Aufbau und Pflege des Neuhebräischen als Nationalsprache gehören ebenfalls in den Zusammenhang dieser zionistischen Sinnstiftung.
3. Von den ersten Ansiedlungen zum Staat
Die Entwicklung des Z. als jüdische Ansiedlungsbewegung in Palästina hängt entscheidend zusammen mit den jüdischen Migrationswellen aus Osteuropa, v. a. dem Zarenreich, seit 1881, andererseits mit der Schwäche des Osmanischen Reichs, die in Palästina zu einem Machtvakuum führte. Die erste Einwanderungswelle (Alija) begann nach den russischen Pogromen von 1881 und führte bis zum Beginn des 20. Jh. etwa 30 000 v. a. osteuropäische Juden nach Palästina. Dass im gleichen Zeitraum fast 700 000 (ost-)europäische Juden nach Nordamerika auswanderten, verdeutlicht die Relationen. In der zweiten Alija, wiederum Teil einer größeren, von Pogromen (v. a. Kischinew 1903) in Gang gesetzten Migrationswelle aus Osteuropa, gelangten weitere ca. 40 000 Juden nach Palästina; insgesamt verließen bis 1914 um die 1,6 Mio. Juden (Ost-)Europa, die weitaus meisten von ihnen wiederum in Richtung USA.
Die drei folgenden Alijot (1919–1923, 1924–1927 und 1930–1939) standen bereits unter den durch den Ersten Weltkrieg, die britische Mandatsübernahme in Palästina und die Balfour-Erklärung vom November 1917 gekennzeichneten neuen Bedingungen und führten in den verschiedenen Phasen weitere ca. 400 000 Juden nach Palästina, seit 1933 auch zahlreiche vom Nationalsozialismus verfolgte und immer mehr „illegale“ (Alija Bet). Je mehr infolge der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland die Flüchtlingsströme anschwollen, umso mehr riegelte die britische Mandatsmacht, ihrerseits unter dem Druck des arabischen Aufstands der Jahre 1936 bis 1939, Palästina ab. Das sogenannte „Weißbuch“ (White Paper) von 1939 beendete faktisch die jüdische Immigration ins Mandatsgebiet. Erst mit der Gründung Israels kam eine neuerliche Migrationswelle in Gang, die nun einen großen Teil der durch den Krieg entwurzelten jüdischen Displaced Persons, wiederum meist osteuropäischer Herkunft, in den neuen jüdischen Staat in Palästina führte – zwischen 1948 und 1954 etwa 740 000.
Unter den Augen der britischen Mandatsmacht und mit deren Zusicherung aus der Balfour-Erklärung, die Errichtung einer „nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk“ fördern zu wollen, hatte die zionistische Bewegung seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Aufbau einer „vorstaatlichen Gemeinschaft“ – des Jischuw – begonnen und deren institutionelle Ausgestaltung in der Folgezeit weit vorangetrieben. Mit diesem „Staat auf dem Weg“ wurde die eigentliche Staatsgründung von langer Hand vorbereitet. Als Vertretungskörperschaft der in Palästina lebenden Juden gegenüber der Mandatsmacht wie für interne Angelegenheiten des Jischuw wirkte die 1929 gegründete Jewish Agency.
Der UN-Teilungsplan vom November 1947 stieß bei den Arabern nicht nur nicht auf Zustimmung, sondern war für sie Anlass, den offenen Krieg gegen die Juden in Palästina zu führen, in dessen Verlauf Israel seine Unabhängigkeit proklamierte. Israel wurde nicht durch den Teilungsbeschluss gegründet, dieser führte aber doch die Konstellation herbei, in der die Staatsgründung schließlich international-politisch möglich wurde. Die gleichfalls oft wiederholte Behauptung, der jüdische Staat sei ein kausales Ergebnis der Vernichtung des europäischen Judentums durch das nationalsozialistische Deutschland (Shoa) gewesen, darf als geschichtspolitische Konstruktion (Geschichtspolitik) gelten, die unterschiedlichen legitimatorischen Zwecken diente und noch heute in innerisraelischen Debatten über das „Wesen“ das Staates Israel argumentativ eingesetzt wird. Sie hält aber einer Faktenprüfung nicht stand. Zwar bestätigte die Shoa eine der Grundannahmen des Z. auf die denkbar katastrophalste Weise, und als solche ist sie auch in die Gründungsnarration der israelischen Unabhängigkeitserklärung eingeflossen. Aber in der konkreten historischen Situation hat die Tragödie des europäischen Judentums weder die britische Mandatsmacht in Palästina noch die großen internationalen Mächte (v. a. USA und UdSSR) noch die führenden Politiker im Jischuw selbst in ihren Entscheidungen und Handlungen wesentlich beeinflusst. Der jüdische Staat ist ein lange vorbereitetes Ergebnis der zionistischen Bewegung in Reaktion auf den europäischen Antisemitismus und Nationalismus, und er war in nuce längst vorbereitet und vorhanden, als der systematische Judenmord in Europa begann.
Literatur
T. Brechenmacher: 70 Jahre Israel. Die Shoah als Faktor der Staatsgründung?, in: HPM 26 (2019), 5–15 • J. Loeffler: Rooted Cosmopolitans. Jews and Human Rights in the Twentieth Century, 2018 • T. Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, 2018 • M. Brenner: Geschichte des Zionismus, 32008 • A. Timm: Israel. Gesellschaft im Wandel, 2003 • B. Morris: Righteous Victims: A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881–2001, 2001 • A. Rubinstein: Geschichte des Zionismus. Von Theodor Herzl bis heute, 2001 • H. Haumann (Hg.): Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, 1998 • M. Wolffsohn: Die ungeliebten Juden. Israel – Legenden und Geschichte, 1998 • M. Berkowitz: Zionist Culture and West European Jewry Before the First World War, 1993 • S. J. Zipperstein: Elusive Prophet. Ahad Ha’am and the Origins of Zionism, 1993 • T. Herzl: Altneuland: Roman, 1902 • A. Ha’am: Äußere Freiheit und innere Knechtschaft. Eine zeitgemäße Betrachtung, 1901 • T. Herzl: Der Judenstaat, 1896 • N. Birnbaum: Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage: ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen, 1893 • L. Pinsker: Autoemanzipation, 1882 • M. Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage: Briefe und Noten, 1862.
Empfohlene Zitierweise
T. Brechenmacher: Zionismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Zionismus (abgerufen: 23.11.2024)