Nationalismus
I. Geschichtlich
Abschnitt druckenN. ist als eine historische Tendenz zu verstehen, dass Völker sich in Nationalstaaten organisieren und diese als Objekt ihrer wichtigsten Loyalität ansehen. Es kann daher N. nicht geben, bevor die Staatlichkeit nicht bis zu einem gewissen Maß entwickelt ist. Ebenso sind Tendenzen zur Nivellierung der Ständegesellschaft und ihrer Transformation in die Staatsbürgergesellschaft Vorraussetzung. Folglich ist es angemessen, das Aufkommen des modernen N. nicht vor dem späten 18. Jh. anzusetzen.
1. Nationalismus vor dem Nationalismus
Nicht auf jedem Boden lässt sich ein Nationalstaat errichten. Voraussetzung ist eine kulturelle Disposition und Bereitschaft einer Bevölkerung, sich als zusammengehörig zu betrachten. Hierzu bedarf es einer großen Erzählung von einem gemeinsamen Schicksal oder auch einer Fremdzuschreibung, die man sich zu eigen machen und positiv wenden kann. Um diese kulturelle Disposition zu ergründen, ist es für europäische Verhältnisse erforderlich, bis zum Beginn der Neuzeit zurückzugehen.
Die Erzählungen von einem gemeinsamen Schicksal können sowohl überwiegend fiktiv als auch auf rezenter historischer Erfahrung beruhend sein. So stellt sich der fiktive Teil der nationalen Erzählung Schwedens und Polens als die Konstruktion einer nationalen Urgeschichte dar (Götizismus und Sarmatismus). Die Niederlande wiederum entwickelten ihr Gefühl der Gemeinsamkeit während ihres achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien. Ähnlich entstanden die USA, die sich als nation bezeichnen, aus der gemeinsamen Erfahrung der dreizehn Kolonien von ihrer Revolution, ihrer erfolgreichen Loslösung von Großbritannien und einer längeren Periode der Verfassungsgebung.
In Deutschland erweckten die Humanisten durch ihre Lektüre der „Germania“ des Tacitus alte Fremdzuschreibungen zu neuem Leben. In der Abgrenzung von anderssprachigen Kulturräumen, zunächst v. a. den romanischen, wurden die bei Tacitus erwähnten Charaktermerkmale fortentwickelt. Im 18. Jh. war der Bestand der nationalen Autostereotype der Deutschen weitgehend ausgearbeitet. Während die überwiegend aristokratisch-fürstenstaatliche Verfasstheit Deutschlands eine Betonung der Nation als Abstammungsgemeinschaft nahelegte, entwickelte die Schweiz bereits im Humanismus eine Begründung, die den Charakter des bündischen Zusammenschlusses als Willensakt betonte.
2. Nationalismus als Tendenz der westlichen Welt seit dem späten 18. Jahrhundert
Während in der neuen Welt eine Ständegesellschaft gar nicht erst entstanden war, löste sich die Ständegesellschaft in Europa durch die Französische Revolution, die napoleonische Überformung West-, Süd- und Mitteleuropas und durch die Reformen, die der Wettbewerb mit Frankreich in verschiedenen Teilen Europas erzwang, langsam auf. Die zunehmende Anonymisierung des Marktes und der Berufsrollen machte es erforderlich, die Bürger mit einer neuen Loyalitätsbindung zu versehen. Die Durchsetzung des Gedankens der Volkssouveränität verlangte danach, das Volk stände- und klassenübergreifend zu definieren und die Träger der Bürgerrechte, insb. des Rechts auf Freizügigkeit und auf Teilnahme an Wahlen, nach einem einheitlichen Kriterium gegen die Außenwelt abzugrenzen. Gleichzeitig vergrößerten die Alphabetisierung, die Verbilligung der Druckerzeugnisse und die Verkehrsrevolution seit Anfang des 19. Jh. die Kommunikationsräume. Die standardisierten, homogenisierten und immer dichter organisierten Kommunikationsräume schufen sich in der Nation ihre neue Identität, die sofort als ursprünglich und von jeher vorhanden ausgegeben wurde (sogenannter Primordialismus). Aufgrund ihrer schieren Größe konnte die Nation nur als „imagined communit[y]“ (Anderson 1983) existieren. Während die Annahme einer gewissen ethnischen Homogenität allen Nationalismen (N.en) eigen ist, lässt sich doch die Ausprägung einer Willensnation, wie sie v. a. in Frankreich behauptet wurde, von einer Abstammungsnation unterscheiden, wie sie in Deutschland auch Grundlage des Staatsbürgerschaftsrechts wurde. Neben der Abstammung wurde die Sprache als Mittel einer objektivierenden Zuschreibung nationaler Zugehörigkeit verwendet. Motivierend wirkte ein überwiegend jüdisch-christlich zu erklärender Erwähltheitsglaube, der schließlich die Welt in einen Kreis von auserwählten Völkern zerfallen ließ, die jeweils eine bes. Mission für die Menschheit zu haben glaubten.
Die Konstruktion der nationalen Identität (Konstruktivismus) oblag seit dem 18. Jh. einer wachsenden Schicht von Intellektuellen, die im Staatsdienst, im Bildungswesen und als freie Autoren tätig waren und nunmehr die Mittelschichten erreichten. Mit der zunehmenden Integration des Proletariats in die Gesellschaft seit dem Ende des 19. Jh. begann sich auch die Arbeiterschaft national einzuordnen. Der inzwischen erreichte hohe Grad an nationaler Loyalität hintertrieb die u. a. auf der Basler Friedenskonferenz von 1912 erkennbaren Bestrebungen der Arbeiterparteien, einen kommenden Krieg durch gemeinsame Aktionen zu verhindern. Wenn auch die Bildung moderner Nationen in Europa dem Industrialisierungsprozess vorausgegangen ist, so lässt sich doch sagen, dass eine Industriegesellschaft ihren Angehörigen einen derart hohen Abstraktionsgrad der Sozialbeziehungen zumutet, dass ihr Zusammenhalt ohne nationale Identität schwer denkbar ist.
3. Nationalismus im 20. Jahrhundert
Insb. im Ersten Weltkrieg vermochte die nationale Idee den Bürgern ungeheure Opfer abzuverlangen, da es gelungen war, die Nation als „höchste Rechtfertigungsinstanz und Spitze der Werthierarchie“ (Wehler 2016: 40) zu etablieren. Die Funktion der Religionen beschränkte sich darauf, die Leidensbereitschaft der Kriegsteilnehmer zu stärken. Tatsächlich hielten die europäischen Nationen den Belastungen des Krieges stand, während die multiethnischen Imperien (Österreich-Ungarn, Russisches und Osmanisches Reich) in diesem Krieg zerbrachen und sich in Nationalstaaten auflösten. Die britischen Siedlerkolonien Australien, Neuseeland und Kanada erlebten gerade durch ihre Kriegsteilnahme einen Schub im Selbstverständnis als eigenständige Nationen.
Der Ausbau der Wohlfahrtsstaaten seit Ende des 19. Jh. hat zusätzlich zur Frage der politischen Partizipationsrechte die Frage nach der Teilhabe an den Solidaritätsleistungen aufgeworfen, die überwiegend nicht mehr im lokalen, sondern im nationalen Rahmen organisiert wurden (Rentenversicherungen, National Health Service in Großbritannien).
Die Militarisierung der Gesellschaft und eine bis dahin unbekannte Legitimierung der Gewalt führten im Gefolge des Ersten Weltkriegs vornehmlich in Italien und Deutschland zur Ausbildung faschistischer Bewegungen (Faschismus), die die herkömmliche Bindung von Nation und Demokratie aufkündigten und dem liberalen Rechtsstaat anlasteten, unfähig zur Durchsetzung nationaler Interessen zu sein. Die Kombination der Termini „national“ und „sozialistisch“ wurde von verschiedenen Intellektuellen schon um 1900 vollzogen. Der deutsche Nationalsozialismus entwickelte jedoch eine rassistische Argumentation (Rassismus), die dem klassischen Nationalstaat lediglich als Instrument der Durchsetzung einer Herrenrasse eine vorübergehende Funktion zuwies. Die Erfahrung der erfolgreichen sozialistischen Revolution in einem Land veranlasste Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin dagegen dazu, die vorübergehende Existenz einer „sozialistischen Nation“ anzunehmen, in der die siegreiche Arbeiterklasse mit der Nation identisch geworden war. Die (nach 1945 mehrfach auftretenden) sozialistischen Nationen hätten laut J. Stalin und Mao Zedong die Aufgabe, unterdrückten Nationen bei ihrer Befreiung zu helfen. Die gemessen an den ideologischen Umwälzungen des 20. Jh. erstaunlich reibungslose, von der Weltgemeinschaft akzeptierte Wiedervereinigung Deutschlands (Deutsche Einheit) im Jahr 1990 kann als Beweis für die stabile Fortdauer eines nicht-aggressiven und nicht-überheblichen N. gedeutet werden.
In Lateinamerika hatte die napoleonische Herrschaft über die Mutterländer ab 1810 die Loslösung der ehemaligen Überseeprovinzen als Nationalstaaten ermöglicht, wobei das Vorbild der USA ermunternd wirkte. Diese neuen Nationalstaaten, die sich z. T. einen revolutionären Gründungsmythos zulegten, fixierten ihre Grenzen untereinander teilweise erst nach blutigen Kriegen. Die Ethnien der ehemaligen Kolonien europäischer Mächte in Afrika und Südasien waren durch willkürlich gezogene Grenzziehungen zersplittert und die Schaffung eines Nationalgefühls gestaltete sich in den ab 1947 in großer Zahl unabhängig werdenden Staaten schwierig. Auf dem Globus finden sich zu Beginn des 21. Jh. Regionen, in denen die Nationsbildung bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Dazu gehören die Bestandteile des ehemaligen Osmanischen Reichs auf dem Balkan und im Nahen Osten und große Teile Afrikas. Dagegen haben die alten monarchischen Großreiche Japan und China nach mehreren Modernisierungsschüben im 19. und 20. Jh. den Übergang zu Industriegesellschaften mit einheitlicher Sprache und nationaler Kultur gemeistert. Hierbei haben aus Europa importierte Ideologiebestandteile geholfen, einen „Transfernationalismus“ (Wehler 2016: 90) entstehen zu lassen.
Die Schuld an der zerstörerischen Wirkung der beiden Weltkriege wurde von manchen Europäern dem Nationalstaat zugeschrieben, und seine Überwindung wurde gefordert. Die seit 1957 entstehende EU weist in ihrer Struktur supranationale Elemente auf. So können insb. die Europäische Kommission und der EuGH in manchen Bereichen die Souveränität der Mitgliedstaaten einschränken. Das Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten der EU zu einer einheitlichen Nation ist bisher nicht eingetreten, da u. a. die Bildung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit ausgeblieben ist. Stattdessen bedrohen wieder auflebende N.en den Zusammenhalt der Union.
Literatur
H. U. Wehler: Nationalismus, 42016 • S. Salzborn (Hg.): Staat und Nation, 2011 • T. Stamm-Kuhlmann: Arndts Beitrag zur Definition der Nation, in: W. Erhart/A. Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt (1769–1860), 2007, 17–29 • V. Reinhardt: Nation und Nationalismus in der Frühen Neuzeit, in: F. Huber (Hg.): Nation und Nationalismus in Europa, 2002, 155–177 • Z. Sternhell u. a.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie, 1999 • E. Renan: Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, 1996 • B. R. O’G. Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 1983 • J. Stalin: Die nationale Frage und der Leninismus, 1951.
Empfohlene Zitierweise
T. Stamm-Kuhlmann: Nationalismus, I. Geschichtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Nationalismus (abgerufen: 21.11.2024)
II. Politikwissenschaftlich
Abschnitt druckenN. bezeichnet erstens ein Konglomerat politischer Ideen, Gefühle und damit verbundener Symbole, dessen Hauptinhalt ausgeprägtes, übersteigertes Nationalbewusstsein ist, das sich zu einer geschlossenen Ideologie fügen kann (aber nicht muss); die Gruppe, auf die sich der N. bezieht, wird (i. d. R. synonym) als Nation oder Volk bezeichnet; zweitens politische Bewegungen, die diese Ideen tragen; N. als gesellschaftliche Bewegung fordert für das, was seine Anhänger für eine Nation halten, staatliche Einheit und Autonomie, also einen Nationalstaat; ist er erreicht, wollen nationalistische Bewegungen seine innere Einheit und politische Handlungsfähigkeit erhalten, i. d. R. verbessern und ihn oft territorial expandieren (Kolonialismus, Imperialismus).
N. hat zahllose Menschen zu politischem und gesellschaftlichem Engagement motiviert, zu Widerstand gegen Unterdrückung und Kolonialismus aufgestachelt und zu Höchstleistungen auf unterschiedlichsten Gebieten angespornt. N. vermittelt bis heute ein Gefühl von Zugehörigkeit und verspricht Gleichheit durch Einheit – und in dieser Einheit Teilhabe an Macht. Die nationalistische Prägung der meisten Menschen war und ist eine wichtige Triebkraft für zwischenstaatliche Kriege, Bürgerkriege und Alltagskonflikte. Alle historischen Nationsbildungsprozesse belegen das Zusammenwirken von konstruktiven und destruktiven Elementen, also die Janusköpfigkeit jeder über Loyalität hinausgehenden, emotional fundierten Identifikation mit einer Nation.
1. Konglomerat politischer Ideen, Gefühle und Symbole
Drei politische Überzeugungen gelten als Dogmen des N. Sie weisen strukturelle Ähnlichkeiten mit religiösem Denken auf, weshalb N. auch als politische Religion bezeichnet wird.
Dem nationalistischen Weltbild zufolge ist die Welt in Nationen unterteilt, die sich hinsichtlich ihres Charakters, der „Nationalcharakter“, „Volksgeist“ oder „nationale Identität“ genannt wird, ihrer Geschichte und ihrer Rolle („Mission“ oder „Bestimmung“) unterscheiden. Hierin liegt eine entscheidende Reduktion der Komplexität der internationalen Beziehungen wie auch des Verhältnisses zu den unabsehbar vielen „Anderen“. Diese Funktion zählt zu den wichtigen Ursachen für die weltweite Verbreitung und Popularität des N. Die Reduktion der Vielzahl von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen unterschiedlichsten Gruppen von Menschen auf eine begrenzte Zahl von Nationen geht häufig einher mit einer Individualisierung der Nationen bzw. Völker. Ganze Völker werden häufig bis in die Semantik hinein (z. B. „der Russe“) wie Einzelpersonen behandelt. Kraft dieser Individualisierung lassen sich dann individualpsychologische Verfahren aus Alltagspraxis oder Wissenschaft auf die Sphäre der internationalen Politik oder innerstaatlicher Feinderklärung übertragen: Nationen, die aus einer unüberschaubaren Masse von Individuen bestehen, werden typische Eigenschaften oder Verhaltensweisen attestiert.
Aus der Einteilung der Welt in Nationen folgt, dass jedes Individuum einer (und nur einer) Nation angehören kann und soll. Zugehörigkeit zu mehreren Nationen ist im nationalistischen Weltbild nicht vorgesehen. Auch der Wechsel von einer Nation in eine andere ist nur im politischen N. (Nation als Wertegemeinschaft) denkbar. Vermischung von Völkern und Nationen wird im „ethnisch“-kulturellen N. (Nation als Sprach- und Kulturgemeinschaft) und im völkisch-rassistischen N. (Nation als Abstammungsgemeinschaft) kritisch gesehen bzw. abgelehnt.
Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird privilegiert gegenüber allen anderen denkbaren Zugehörigkeiten – etwa Familie, Geschlecht, soziale Schicht oder Klasse, Religionsgemeinschaft, Berufs- oder Altersgruppe. Im Zweifelsfall hat der Einzelne die Imperative, die sich aus seiner Nationalität ergeben, über alle anderen Interessen, Bindungen und Zugehörigkeitsgefühle zu stellen. Nationale Zugehörigkeit wird zum höchsten Wert. Von jedem kann verlangt werden, fürs Vaterland zu sterben.
Dieses nationalistische Welterklärungsmodell prägen zwei Grundwerte: Einheit (nach innen und außen) und Autonomie (die Möglichkeit, als Nation unter anderen selbstbestimmt und erfolgreich zu agieren).
2. Politische Bewegung
In allen historisch dokumentierten Fällen zeigt sich derselbe Verlauf: N. beginnt im kulturellen Bereich, als wissenschaftlich-intellektuelles Interesse für Geschichte, Kultur, Sprache, Folklore und spezifische Traditionen eines Volkes. Am Anfang stehen Sammlungen kultureller Überlieferungen wie Märchen, Lieder, Rechtstraditionen und „vaterländische Archäologie“, häufig durch Laien. Ihnen ging es um die Rekonstruktion historischer Überreste und von Überlieferungen jenseits belegbarer Fakten, meist aus der Vorgeschichte oder aus illiteraten Bevölkerungsschichten, die i. d. R. als bes. authentisch angesehen werden. Nicht selten stehen am Anfang nationalistischer Bewegungen auch Fälschungen schriftlicher Quellen, die einen Gründungsmythos belegen oder eine Tradition stiften sollen. Die archäologischen, philologischen oder kulturgeschichtlichen „Forschungen“, die am Anfang aller N. stehen, gehören oft zur „invention of tradition“ (Hobsbawm/Ranger 1983). Archäologische Funde, philologische bzw. historische Befunde werden einseitig interpretiert oder nur jene Fakten berücksichtigt, die das gewünschte Ergebnis stützen.
Die Ergebnisse dieser „Forschungen“ werden in volkspädagogischer und nationalistischer Absicht verbreitet durch populäre „wissenschaftliche“ Publikationen (Vorträge, „Volksbücher“, „Volkszeitschriften“), durch Museen, Schulen und Universitäten, an denen viele nationalistische Intellektuellen lehren, durch Sängerbünde und Konzerte, die sich „vaterländischem“ Liedgut und der Folklore widmen. Wörterbücher und Grammatiken dienen der Durchsetzung einer normierten Hochsprache („Nationalsprache“) gegen heterogene Dialekte. Lexika und Enzyklopädien fixieren den nationalen Wissensbestand und sollen ihn verbindlich machen, Theateraufführungen und Lesungen vorbildliche Beispiele der ge- und erfundenen Nationalkultur verbreiten. Wichtigste Multiplikatoren waren bildungsbürgerliche Vereine (literarische Gesellschaften, Geschichts- und Altertumsvereine, Gelehrtenversammlungen) und Berufsverbände der Philologen, Juristen oder Historiker. Über das Bürgertum hinaus gelangten nationale Kulturgüter, Mythen, Geschichtsbilder etc. durch Lieder, die Kirchen wie Gesangvereine verbreiteten, durch den niederen Klerus und Volksschullehrer.
Erst nach dieser kulturellen Formierung und Normierung bilden sich explizit politisch-nationalistische Organisationen, durch die der N. Formen des Massenprotestes wie Petitionen, Demonstrationen, Wahlbeteiligung, Organisierung nutzt und zur sozialen Bewegung wird. So beginnen separatistische N. (Separatismus), die ein Volk als neue Nation aus einem bestehenden Staat herauslösen wollen, als sprachlich-kulturelle Autonomiebewegungen; erst in einem zweiten Schritt kommen politische Forderungen hinzu.
Die Ausbreitung des N. fällt historisch mit dem Aufstieg des Bürgertums zusammen. Er wurde trotz einer Dominanz bürgerlicher Kreise aber nicht allein von diesen getragen. Er entstand i. d. R. in intellektuellen Zirkeln, verbreitete sich innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit und wurde allmählich zu einer in vielerlei Vereinen organisierten, städtisch geprägten Bewegung, die sich allmählich in weitere soziale Schichten ausbreitete. Nach 1848 fand der N. seine Anhänger auch in der entstehenden Arbeiterbewegung. Zur Massenbewegung wurde er erst Ende des 19./Anfang des 20. Jh. und erfasste nun auch die städtischen und ländlichen Unterschichten.
3. Modernes Phänomen
Nach der weithin akzeptierten Theorie Karl Wolfgang Deutschs, die Benedict Richard O’Gorman Anderson popularisiert hat, waren Buchdruck und Entstehung einer kapitalistischen Marktwirtschaft notwendige Voraussetzungen für die Verbreitung des N. Der Buchdruck erlaubte die Herstellung von Flugschriften, Zeitungen und Büchern in hohen Auflagen zu erschwinglichen Preisen. Ohne die Entstehung eines literarisch-publizistischen Marktes konnte es keine politische Öffentlichkeit geben. Im Übergang von der Stände- zur marktorientierten Klassengesellschaft entstand eine Schicht prekärer Intellektueller, die maßgeblich zur Verbreitung nationalistischen Denkens beigetragen haben, die sich seit dem späten 18. Jh. über ganz Europa und im 20. Jh. weltweit ausbreiteten. Eines der wichtigsten und folgenreichsten Anliegen der frühen Nationalisten war die Schaffung einer einheitlichen Sprache für das nun als Nation angesehene Volk. Weitere Faktoren für den Siegeszug des N. waren die Bildungs- und Verkehrsrevolution des 19. Jh. (Abbau des Analphabetismus, leichtere überlokale Kommunikation durch zuverlässige Postverbindungen und die Eisenbahn) und die Fundamentalpolitisierung in den europäischen Revolutionen 1789–1849.
Während man in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit viele Beispiele für Heimatverbundenheit, Vaterlandsliebe und andere Zugehörigkeitsgefühle finden kann, macht es wenig Sinn, vor der Moderne von „N.“ zu sprechen. Erst seit dem 18. Jh. entstanden die spezifischen Voraussetzungen, dass eine Masse von Menschen sich als eine Nation fühlen konnte.
N. muss sich allerdings keineswegs auf sprachlich oder „ethnisch“ homogene Bevölkerungen beziehen. Die Schweiz oder die USA sind Beispiele dafür. Genau genommen beziehen sich sogar alle N. auf „ethnisch“, kulturell und sprachlich inhomogene Einheiten. Denn für die historische Entwicklung der Staatsgrenzen (Grenze) waren i. d. R. Machtverhältnisse entscheidend, und Migration ist eine universalgeschichtliche Konstante. Insofern kann es keine homogenen Nationen geben. Scheinbare Homogenität ist immer das Produkt gewaltsamer Anpassungs- oder friedlicher Akkulturationsprozesse.
Literatur
C. Jansen/H. Borggräfe: Nation – Nationalität – Nationalismus, 2007 • B. R. O’G. Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzeptes, 22005 • M. Hroch: Das Europa der Nationen, 2005 • D. Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, 2000 • O. Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, 31996 • M. Jeismann/H. Ritter: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, 1993 • T. Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, 1991 • J. Ehlers: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, 1989 • É. Balibar: Race, Nation, Classe, 1988 • P. Alter: Nationalismus, 1985 • E. Hobsbawm/T. Ranger: The Invention of Tradition, 1983 • J. A. Armstrong: Nations Before Nationalism, 1982 • M. Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas, 1968 • K. W. Deutsch: Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundations of Nationality, 1953.
Empfohlene Zitierweise
C. Jansen: Nationalismus, II. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Nationalismus (abgerufen: 21.11.2024)