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Aktuelle Version vom 21. Dezember 2022, 13:49 Uhr
Z., engl. future, lat. futurum, bedeutet vom deutschen Wort her gesehen wie das französische avenir und lateinische adventus zunächst Ankunft sowohl von Erwartbarem als auch von Unerwartetem, das auf uns zukommen kann, aber noch nicht da ist, wie die aventure des Abenteuers. In abstraktiver Nominalisierung ist die Z. seit der Zeit der Aufklärung Inhalt eines Reflexionsterminus, der die Welt in der Zeit nach der Gegenwart in spekulativer Handbewegung vage benennt. Die Zeitmodi des Vergangenen, Präsentischen und Zukünftigen stehen dabei in direkter Parallele zu den drei grammatikalischen Verb-Zeit-Formen des praeteritum, praesens et futurum (so schon Augustinus in „Confessiones“). Die neuere Modallogik hat dazu klar gemacht, dass Aussagen im Futur grundsätzlich über Möglichkeiten sprechen. Diese können sich in der Z. sogar „verzweigen“ (zur „branching time“ [Belnap 1992]). Wer sich z. B. dafür entscheidet, in die USA zu fliegen, wird nach Ankunft andere Entscheidungen über seine weiteren Reisen treffen können, als wenn er in Europa bliebe. Ein Satz der Form: „was sein wird, wird sein“ artikuliert nur eine Tautologie. Schon nach Aristoteles ist daher vielen Aussagen über die Z. heute noch gar kein Wahrheitswert zuzuordnen. Aristoteles diskutiert das am Beispiel einer zukünftigen Seeschlacht in „De interpretatione“. Die Z. ist als Möglichkeitsraum anzusehen, nicht als (kausal) determinierter Bereich von Sachen und Geschehnissen, die es geben wird. Der Weg in die Z. ist keine „thin red line“ (Belnap/Perloff/Xu 2001: 133), die mit Notwendigkeit zu all dem führt, was es gegeben haben wird, wie wir in der grammatischen Form des futurum exactum über eine als abgeschlossen vorgestellte Z. sprechen.
Die Gegenwart liegt im Zwischenbereich zwischen offener Z. und abgeschlossener Vergangenheit. Im Unterschied zu den Geschichten, die wir über sie erzählen, gilt: „ewig still steht die Vergangenheit“ (Schiller 1795: 39); sie ist als solche nicht mehr veränderbar. Es sind aber keine Zeitpunkte, sondern je noch laufende Prozesse, welche bestimmen, was in relevanter Weise als gegenwärtig, was schon als zukünftig anzusehen ist. So kann z. B. der ganze heutige Abend, nur der Sonnenuntergang oder nur der Moment des Verschwindens der Sonne als gegenwärtig zählen. Wir können zwar die Gegenwart rein formal beliebig verkürzen zu einem Nu (griechisch nyn, lateinisch nunc). Es liegt an der idealen Darstellung des Präsentischen als punktförmiger Augenblick, dass es so scheint, als wäre das flüchtige Jetzt bloß noch Grenze zwischen Vergangenheit und Z.
Ursprünglich war die Zeit selbst als aevum, als dauernde Gegenwart der Lebenszeit (auch aetas) begriffen worden. Das griechische aion steht noch bei Homer zunächst für das Leben (Odyssee, IX, 523) oder die Lebensdauer (Ilias, IX, 415), dann für das gegenwärtiges Zeitalter – im Kontrast zu einer vorlaufenden Vergangenheit und nachfolgenden Z. als den früheren und späteren Epochen oder „Weltaltern“. Zunächst steht der Plural der Äonen, dann die Abfolge ganzer Weltzeiten in der Formel von Jh.en an Jh.en, saecula saeculorum, für die Ewigkeit der Z. Schon bei Aristoteles aber ist die Zeit „Maßzahl der Bewegung“ (Aristoteles, Physik IV 218b9) (der Planeten) in einer Ordnung nach dem „Früher und Später“ (Aristoteles, Physik. IV, 219b12). Sie wird analogisch durch eine Linie geometrisch vertreten. Die Unendlichkeit der Zahlenfolge führt dabei zu einer ideal-naiven Vorstellung der Zeit ohne Anfang in der Vergangenheit und ohne Ende in der Z.
Es gibt zwar die Meinung, dass man kein Geschehen durch Vorgriff auf die Z., also teleologisch, „erklären“ könne, da es jeweils nur ein causa efficiens als zeitlich vorlaufende Ursache geben soll. Doch das schränkt die reflexionslogische Rede von (kausalen) Erklärungen sowohl systematisch als auch im Blick auf die Begriffsgeschichte ungebührlich ein. Schon die enaktive Wahrnehmung von Tieren ist auf ein futurisches Ziel insofern ausgerichtet, als ihr Tun als Folge von Perzeptionen praktische Reaktion auf einen Normalweltverlauf ist. Über Empfindungen der Befriedigung oder der Unerfülltheit ist es auf ein begehrtes (bzw. zu vermeidendes) Ende (telos, finis) bezogen und auch nur unter Hinweis auf die causa finalis in bestimmter Weise verstehbar. Die „empiristische“ Vorstellung, es werde nur Vergangenes gewusst, nur Gegenwärtiges wahrgenommen und es gäbe auch noch im animalischen Verhalten keine Gerichtetheit auf Z., operiert mit einer bloß erst formalistisch aufgefassten Zeit. Einer nichtmenschlichen Natur kann man zwar, wie Immanuel Kant sieht, Zwecke bzw. Absichten oder Intentionen nur im Modus eines metaphorischen Als-ob zuschreiben. Denn im kanonischen Sinn sind diese immer vermittelt durch sprachlich oder bildlich zu vergegenwärtigende Z.s-Szenarien, was auch Ludwig Wittgenstein betont. Tiere verfolgen dennoch wirklich Ziele, freilich nur solche, die ihnen über präsentisch ablaufende Prozessformen gegeben sind. Die menschliche Sorge zielt dagegen, wie Martin Heidegger analysiert, über alles Zuhandene hinaus auf ein Sein-Können in einer erhofften Z. unter Abwehr von befürchteten Möglichkeiten.
Schon Parmenides und Platon unterscheiden zwischen wahren Aussagen über rekurrente Typen, ausgedrückt im generischen Präsens (vgl. z. B. Parmenides, Frgm. 2, Zeile 3, 4 zum generisch-notwendigen Sein, Frgm. 8, Zeile 51–62 zur empirischen Meinung [doxa und gnome], ferner Platon, Parmenides 130–132 zum Unterschied zwischen eidetischen [Sätzen zu ewigen] Formen und empirischen [Aussagen zu] Dingen), und einer bloß erst empirischen doxa, die sich syntaktisch am Gebrauch eines temporalen „war“, „ist“ und „wird sein“, also des Präteritums, Präsens und Futurs zeigt. Die zeitallgemeinen Sätze der epistēmē drücken wie die der Geometrie formenentheoretische Schlussregeln aus und sprechen daher über „Ideen“, nicht über alle oder viele Einzelfälle. Diese bleiben als empirische abhängig von subjektiven und anaphorisch-indexikalischen Bezugnahmen je von uns als den Sprechern hier und jetzt her. Zwar unterscheidet man auch seit dem Neuplatonismus ein Unendliches, das ewig bleiben soll, vom Endlichen, den vergänglichen empirischen Prozessen. Das fließende Jetzt mache die Zeit, das stehende Jetzt die Ewigkeit, sagt dazu Boethius („Nunc fluens facit tempus, nunc stans facit aeternitatem“ [Boethius, De Trinate, 4,70]) und wird nicht nur von Thomas von Aquin zitiert. Gottes Wissen wird dabei als intellektuelle Anschauung im Sinne I. Kants vorgestellt, das alles Vergangene und Zukünftige im Modus „nunc aeternum praesens“ vor sich haben soll (Augustinus, De trinitate, XV, 23), d. h. als ewige Gegenwart. Der offenbare Widerspruch zur modalen Offenheit der Z. als notwendiger Bedingung freien Handelns (Handlungstheorie) lässt sich aber entgegen allen Versicherungen nicht auflösen, weder durch Boethius’ Unterscheidungsversuch zwischen einem Vorgriff auf eine abgeschlossene Z. und einer Notwendigkeit (zum Streit um die Vorsehung vgl. Boethius, Consolatio Philosophiae 5, bes. 247–271), noch in den Prädestinationslehren der Reformation oder im Determinismus und Kompatibilismus gegenwärtiger Analytischer Philosophie. Schon die Vorstellung der Welt sub specie aeternitatis, im Blick Gottes, auch als Wissen eines perfekten Physikers, der alle Ereignisse irgendwie kausal erklären können soll, zerstört, wie insb. auch schon M. Heidegger erkennt, den fundamentalen Unterschied zwischen Vergangenheit und Z. sowohl in der Logik unseres Redens und Erkennens als auch in der zugleich temporalen und modalen Ontologie des Wirklichen. Auch I. Kants Rede über das Ding an sich ist am Ende nur als spekulative Rede über alles zu verstehen, was es in aller Z. irgendwo wirklich gegeben haben wird. Das Wahre ist das Ganze (der Welt), wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel dazu sagt.
Nicht ein neuer Begriff der Zeit und der Z. oder neues Wissen über Zeit und Raum, vielmehr eine veränderte Lebenshaltung, welche die Gegenwart der Z. radikal unterordnet, ist gegenüber der klassischen Antike ein neues Element christlicher, bes. aber postchristlicher Weltanschauung. Das zeigt sich z. B. auch am konsequentialistischen Utilitarismus und am optimistischen Positivismus Auguste Comtes, am präfaschistischen italienischen Futurismus zu Beginn des 20. Jh. und am Utopismus Ernst Blochs (Utopie), aber auch noch an der Vorstellung einer unbegrenzten Verantwortung für die ganze irdische Welt bei Hans Jonas, die scheinbar in alle Z. reicht.
Literatur
N. Belnap/M. Perloff/M. Xu: Facing the Future. Agents and Choices in Our Indeterminist World, 2001 • N. Belnap: „Branching Space-Time“, in: Synthese 92/3 (1992), 385–434 • M. Heidegger: Sein und Zeit, 151979 • H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation, 1979 • L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 1958 • E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bde. I–III, 1954–59 • I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: AA: Bd. 3, 1911 • Ders.: Kritik der Urteilskraft, in: AA, Bd. 5, 1913 • F. Schiller: Spruch des Konfuzius, in: ders. (Hg.): Musen-Almanach für das Jahr 1796, 1795, 39.
Empfohlene Zitierweise
P. Stekeler-Weithofer: Zukunft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Zukunft (abgerufen: 21.11.2024)