Umweltethik
Die Natur- oder U. bzw. ökologische Ethik als ein mittlerweile etabliertes Feld der praktischen Philosophie, mithin eine Bereichsethik, rekonstruiert in kritisch-reflexiver Einstellung die wesentlichen Argumentationsmuster, die auf einer diskursiven Ebene zum Schutz von natürlichen Entitäten und zur nachhaltigen Nutzung der Naturgüter geltend gemacht werden können. Schutz ist ein Wertbegriff; geschützt werden soll, was aufgrund seiner Werthaftigkeit des Schutzes würdig und aufgrund bestimmter Umstände schutzbedürftig ist. Schutz kann normativ institutionalisiert werden (etwa durch Ausweisung von Schutzgebieten). Schutzbestimmungen sind Regeln, die von Personen zu befolgen sind (Normen). Sie gliedern sich in rechtliche und moralische Normen.
Die U. setzt bei ihren argumentativen Bemühungen ontologisch voraus, dass es Naturwesen realiter gibt und dass die Rede von Natürlichkeit sinnvoll bleibt, obschon in der heutigen Welt viele Naturwesen mit menschlichen Praxisformen vermittelt, d. h. graduell überformt sind. Natur ist nicht mit Wildnis gleichzusetzen. Auch überformte Naturgebilde können schutzwürdig sein (etwa die Lüneburger Heide). Die U. lässt sich nicht aus Biologie, Ökologie oder „der“ Natur ableiten (sog.er naturalistischer Fehlschluss).
Man kann die Werthinsichten von Naturwesen sechs Kategorien zuordnen:
a) Angewiesenheitswerte und instrumentelle Werte,
b) kulturell-eudaimonistische Werte,
c) Zukunftsverantwortung,
d) (existentielle) Tugenden,
e) moralische Selbstwerte für bestimmte Naturwesen und
f) neue „ökosophische“ Weltbilder.
Diese Kategorien schließen einander nicht aus, können also in unterschiedlichen Variationen vertreten werden. Daraus ergibt sich, dass es mehr als nur eine, aber nicht unendlich viele diskursrational vertretbare Varianten und Konzepte von U. geben kann.
Angewiesenheitsargumente machen geltend, dass Menschen als leiblich verfasste und prekäre Wesen auf einen kontinuierlichen Metabolismus mit einer äußeren Natur angewiesen sind, zu dessen Aufrechterhaltung auch ein pfleglicher Umgang mit natürlichen Ressourcen und Umweltmedien zählt. Dieser Metabolismus sollte möglichst schadstoffarm vonstattengehen, weshalb der Eintrag von Gift- und Schadstoffen minimiert werden sollte. Hieraus ergeben sich Konzepte naturverträglichen Wirtschaftens, in die auch Vorsorge- und Sparsamkeitsgrundsätze eingehen können. Kulturelle oder eudaimonistische (eudaimonia = gutes Leben) Werte machen geltend, dass Naturerfahrungen wesentlich zu einem reichen, gelingenden und sinnerfüllten Leben hinzugehören. Diese Werte gliedern sich auf in unterschiedliche Weisen von Naturgenuss wie etwa naturästhetische Erfahrungen, Heimatgefühle angesichts vertrauter Landschaften sowie Erholung und Genesung in der Natur. Diese Werte vermitteln sich mit naturverbundenen Praktiken wie Gärtnern, Wandern, Segeln, Tauchen usw. Die Naturphänomenologie bietet eine philosophische Methode, Arten und Weisen des Naturgenusses sprachlich zu artikulieren. Die Werte der ersten beiden Kategorien (Angewiesenheit, Naturgenuss) können in eine intergenerationelle Perspektive übertragen werden. Es geht dann um die „Kunst langfristig zu denken“ (Klauer u. a. 2013) und um die Frage, auf welche Naturausstattung zukünftige Generationen legitime Ansprüche haben könnten. Diese Frage führt in Theorien und Konzepte von Nachhaltigkeit und in die Problemfelder des Klimawandels, der Land- und Forstwirtschaft, der Renaturierungsökologie, des Gewässer- und des Meeresschutzes einschließlich der Fischerei. In der Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften wird erörtert, ob sich zukünftige Weltzustände abdiskontieren lassen, ob Naturkapitalien substituiert und ob Verluste an Naturgütern anderweitig kompensiert werden können.
Die Werte und Verpflichtungen der ersten drei Kategorien wiederum führen fast zwangsläufig zu der „klassischen“ tugendethischen Frage, welche Art von Mensch man selbst im Zeitalter des Anthropozän sein möchte. Diese Frage fächert sich auf hinsichtlich unterschiedlicher Einstellungen und Haltungen in Ansehung von Natur und wird damit zur „Umwelttugendethik“ (Sandler/Cafaro 2005). Diese setzt voraus, dass ein Charakter nicht einfach schicksalhaft gegeben ist, sondern sich bilden lässt. Hege und Pflege, Schonung, Rücksicht, Mäßigung, aber auch Neugier, freudige Zuwendung, Lebensbejahung und Dankbarkeit sind einige solcher umwelttugendethischen Haltungen. Die Umwelttugendethik vermittelt sich mit den pädagogischen Praktiken der Umwelt- und Naturbildung. Die Umwelttugendethik kennt freilich nicht nur Tugenden, sondern auch Laster. Da Laster etwas Tadelnswertes sind, birgt das Vokabular der Tugendethik auch die Gefahr eines Moralisierens von Lebensstilen und gerät mit liberalistischen Grundsätzen in Konflikt.
Die bisherigen Kategorien sind anthropozentrisch, d. h. sie beruhen zwar auf einem umfassenden praktischen Vernunftinteresse an gelingenden Naturbeziehungen, erkennen aber nur Menschen Würde und Rechte zu. Naturwesen sind in der anthropozentrischen Perspektive Bestände von Naturkapitalien, die nachhaltig zu bewirtschaften sind, oder Naturgüter, die aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Seltenheit, ihrer Erholungswirkung usw. unter Schutz zu stellen sind. Das Verständnis dieser Kategorien erhellt, dass Menschen dabei keineswegs als Wesen vorgestellt werden müssen, die gierig und kurzsichtig die Natur plündern. Menschen dürften als Erbschaft der Evolution auch eine biophile Neigungsstruktur besitzen, die allerdings in der Moderne unterdrückt oder (als „Romantik“) belächelt wurde. In der Praxis der Renaturierung zeigt sich, dass Menschen altruistisch zugunsten von Natur handeln können.
Die Kategorie der moralischen Selbstwerte führt über die Anthropozentrik hinaus, sofern und indem sie für den Schutz von bestimmten Naturwesen um ihrer selbst willen plädiert, da ihnen ein moralischer Selbstwert zukommt (sog.e Physiozentrik). In der Physiozentrik werden unterschiedliche Kriterien direkter moralischer Berücksichtigungswürdigkeit vorgeschlagen (sog.es Inklusionsproblem). So werden Empfindungsfähigkeit (Sentientismus), spürendes Gewahren (Zoozentrik), Lebendig-Sein (Biozentrik), ökologische Selbstorganisation (Ökozentrik) oder Existenz (Holismus) als Kriterien geltend gemacht. Auch der Begriff des Interesses wird herangezogen, um den Begriff des moralischen Selbstwertes näher zu bestimmen. Innerhalb der U. konnte bislang kein Konsens hinsichtlich des Inklusionsproblems erzielt werden. Eine „richtige“ Lösung des Selbstwertproblems dürfte darin liegen, die Kriterien der Empfindungs- und der Kommunikationsfähigkeit sowie des Interesses zu einem gradierbaren Konzept von Weltoffenheit zu verknüpfen, an das sich eine komplexe Kasuistik anschließt, die von Schimpansen und Walen über Libellen und Spinnen bis hin zu Pflanzen reicht. Vertretbar sind auch Konzepte, die (starke) Biophilie mit (schwacher) Biozentrik zu einer existentiellen Grundhaltung verknüpfen. In der Strömung der Tiefenökologie schließlich wird die U. nicht axiologisch oder moralisch, sondern ontologisch fundiert. Es wird davon ausgegangen, dass die Natur (physis) sich uns Menschen an unterschiedlichen Orten auf unterschiedliche Weise zeigen (Heidegger: „lichten“ [Heidegger 2000: 630]) kann und dass die modernen Deutungen von Natur als Objektivität (Physikalismus) und nutzbares Ressourcenlager (Ökonomik) nur zwei von vielen möglichen Deutungen sind. Die Tiefenökologie bestreitet insofern das Deutungsmonopol des modernen Weltbildes auf eine Weise, die diesem Weltbild nicht direkt widerspricht. Religiöse, poetische, spirituelle und „ökosophische“ Naturdeutungen und -zugänge gelten in der Tiefenökologie als Bedingungen der Möglichkeit, Auswege aus der Naturkrise der Moderne zu finden. In diesem Sinne ist es möglich, neue Interpretationen religiöser Traditionen vorzulegen, ohne solche Traditionen als direkte Konkurrenz zur naturwissenschaftlichen Weltsicht zu verstehen. In diesem sich erweiternden Kontext ist es auch möglich, in einen Dialog mit nicht-westlichen Naturauffassungen zu treten (Schamanismus, Hinduismus, Buddhismus, Ubuntu u. a.).
Insgesamt korrigiert die U. aufgrund ihrer unterschiedlichen Argumentationsstränge ein primär an Beherrschung und Ausnutzung interessiertes Naturverständnis. Das vertiefte Begreifen der skizzierten Argumentationslinien ermöglicht es jeder verständigen Person, sich eine eigene Konzeption von U. anzueignen, indem sie sich mit Gründen an Gründen orientiert. Diese Konzeptionen lassen sich dann in übergreifende philosophische Strömungen einordnen. Die Tiefenökologie führt in Weltdeutungsphilosophien mitsamt deren Begründungsproblemen. Ein stark an Argumentation orientiertes Konzept ordnet sich einer Diskurstheorie praktischer Vernunft („Diskursethik“) zu. Der Umweltpragmatismus steht in der Tradition des Pragmatismus, insofern er seinen Ausgang bei menschlichen Praxisformen im Umgang mit Natur nimmt und diese Praxisformen auf reformerische Weise naturverträglicher gestalten möchte. Eine Koalition aus Diskursethik und Pragmatismus könnte sich als robuste und tragfähige Grundlage der U. erweisen. Umweltschutz, Tierschutz, und Naturschutz sind demnach gesellschaftliche Praxisfelder, die diskursrational gerechtfertigt, hinsichtlich ihrer Traditionen kritisch angeeignet und pragmatisch fortentwickelt werden können. Das Pluriversum umweltethischer Positionen schließt nicht aus, dass die Geinsamkeiten so weit überwiegen, dass es zur Bildung politischer Koalitionen kommen kann.
Literatur
S. A. N. Lie: Philosophy of Nature, 2016 • K. Ott: On the Meaning of Eudemonic Arguments for a Deep Anthropocentric Environmental Ethics, in: New German Critique 34/2, 128 (2016), 105–126 • Ders./J. Dierks/L. Voget-Kleschin (Hg.): Hdb. Umweltethik, 2016 • Y. H. Hendlin: Tiefenökologie, in: ebd., 195–202 • C. Hardmeier/K. Ott: Naturethik und biblische Schöpfungserzählung, 2015 • K. Ott: Kommunikation, Sprache und das Inklusionsproblem der Umweltethik, in: ZS 37/3–4 (2015), 151–169 • B. Klauer u. a.: Die Kunst langfristig zu denken, 2013 • M. Vogt/J. Ostheimer/F. Uekötter (Hg.): Wo steht die Umweltethik?, 2013 • K. Ott/R. Döring: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, 2011 • K. Ott: Umweltethik zur Einführung, 2010 • B. Norton: Sustainability, 2005 • R. Sandler/P. Cafaro (Hg.): Environmental Virtue Ethics, 2005 • A. Kallhoff: Prinzipien der Pflanzenethik, 2002 • M. Heidegger: Zur Frage nach der Bestimmung der Sache des Denkens, in: ders. (Hg.): GA, Bd. 16, 2000, 620–633 • A. Krebs: Ethics of Nature, 1999 • J. Wetlesen: The Moral Status of Beings Who Are not Persons: A Casuistic Argument, in: Environmental Values 8/3 (1999), 287–323 • G. Böhme/G. Schiemann (Hg.): Phänomenologie der Natur, 1997 • L. Schäfer: Das Bacon Projekt, 1993 • M. Seel: Eine Ästhetik der Natur, 1993 • A. Naess: Ecology, Community and Lifestyle, 1989 • E. O. Wilson: Biophilia, 1984.
Empfohlene Zitierweise
K. Ott: Umweltethik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Umweltethik (abgerufen: 25.11.2024)