Plebiszit
I. Rechtswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Begriff und Formen
P. bezeichnet Rechtsformen der direkten Demokratie, in denen das Volk als Träger und zugl. Organ der Staatsgewalt unmittelbar über eine politische Sachfrage entscheidet („Sach-“ oder „Real-P.“). Dadurch unterscheidet sich das P. von den beiden Funktionsmerkmalen der repräsentativen Demokratie: vom plebiszitären Vorgang der Wahl einer Volksvertretung (Parlament) und den vom Volk mittelbar, durch die demokratischen Organe getroffenen Entscheidungen. Eine Sonderrolle spielt das Territorial-P., das das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes oder Volksteils über die Zugehörigkeit zu einem (Glied-)Staat zum Gegenstand hat. Wie bei der Wahl, so handelt das Volk auch im P. in Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich gebundenen Gewalt (pouvoir constitué).
In instrumenteller Hinsicht umfasst der P.-Begriff sowohl den eigentlichen Volksentscheid (oder: die Volksabstimmung) als auch alle aus dem Volk rührenden Akte, die einen solchen auslösen können, wie namentlich das Volksbegehren (und ggf. den Antrag auf dessen Durchführung). Hingegen stellt die sog.e Volksinitiative (auch: Bürgerantrag oder Bürgerinitiative) keine Ausübung von Staatsgewalt dar und ist daher der Bürgerbeteiligung (Partizipation) zuzurechnen. Volksbegehren und Volksentscheid zielen typischerweise auf den Erlass eines Gesetzes (Volksgesetzgebung), sind darauf aber nicht beschränkt. Abstimmungen über Akte der (gesetzesvollziehenden) Verwaltung sind dagegen ausgeschlossen. Administrative Bürgerentscheide kommen jedoch dort in Betracht, wo Aufgaben der Selbstverwaltung, wie im kommunalen Bereich, durch eigenständig gewählte Volksvertretungen wahrgenommen werden. Eine Variante des P.s ist das Referendum, d. h. die auf Antrag einer Volksvertretung oder obligatorisch vorgesehene Abstimmung über eine von ihr beschlossene Vorlage. In Konkordanzdemokratien wie der Schweiz findet sich zudem das bügerinitiierte fakultative Referendum, das dem Volk vor dem Inkrafttreten beschlossener Parlamentsgesetze ein Vetorecht in die Hand gibt. Von solchen konstitutiven sind lediglich konsultative Referenden (amtliche Volksbefragungen) zu unterscheiden, die aber wegen ihrer faktischen Bindungswirkung gleichwohl einen Akt der Staatswillensbildung darstellen.
2. Funktionen und Grenzen
Die plebiszitäre Ambition speist sich aus der antirepräsentativen Überzeugung, dass „mehr Demokratie ohne Repräsentation“ zu haben ist. Dem liegt die Idee eines quantitativen Demokratismus zugrunde, der allein den unmittelbaren, empirischen Volkswillen (die volonté des tous i. S. Jean-Jacques Rousseaus) als Quelle und Maß des Gemeinwohls (der volonté générale) erachtet und daher für repräsentationsunfähig hält. Nach der Gegenthese eines Charles de Montesquieu oder Emmanuel Joseph Sieyès ist das Gemeinwohl indessen eine qualitativ-normative Kategorie, so dass es vom Volkswillen immer nur (i. S. d. Kantischen Repubiklehre) repräsentiert und dieser wiederum nur von den Repräsentanten des Volkes artikuliert werden kann. Darauf gründet das Konzept der repräsentativen Demokratie, mag auch heute das Postulat einer real-demokratischen Repräsentation des Volkswillens in der staatlichen Politik überwiegen. Während sich die Schweiz für ein spezifisches Mischsystem aus repräsentativer und direkter Demokratie entschieden hat, konstituiert das GG sowohl für die Bundesebene als auch mit Wirkung für die Länder (Art. 20 Abs. 2, 28 Abs. 1 GG) die verschiedenartige Grundform der parlamentarischen Repräsentativdemokratie. Diese sperrt sich jedoch keineswegs prinzipiell gegen den Einbau plebiszitärer Elemente und sucht dadurch im demokratietheoretischen Grundsatzstreit (Demokratietheorie), welches denn die „eigentliche“ Form der Demokratie sei, eine hartleibige Frontstellung von Volk und Parlament zu vermeiden.
Dabei fällt zugunsten direkt-demokratischer Instrumente allemal in die Waagschale, dass sie den gestiegenen Mitentscheidungsbedürfnissen der Bürger Rechnung tragen und manchen Unzufriedenheiten mit der repräsentativen Demokratie, auch Empfindungen der Distanz und Entfremdung, mangelnder Responsivität und eigensinnig agierender Politiker ein politisches Ventil bieten. Interessen, die in der repräsentativen Staatswillensbildung kein Gehör gefunden haben, werden verfahrensförmlich kanalisiert und so im Dienste demokratischer Lebendigkeit und pluralistischer (Pluralismus) Offenheit in den politischen Entscheidungsbetrieb eingespeist. Dennoch gehört, wie auch die Gerichte betonen, die Dominanz oder Prävalenz des repräsentativ-demokratischen Systems zur deutschen Verfassungsidentität. Daraus folgt, dass die plebiszitären Instrumente auf eine punktuell ergänzende Funktion beschränkt bleiben müssen. Die Grenze liegt dort, wo die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie, namentlich die Bedeutung der Wahl als Akt der demokratischen Grundlegitimation und periodischen Volksbeurteilung, geschwächt oder gefährdet wird. Dem gewählten Repräsentationsorgan als dem Primärraum der staatlichen Willensbildung müssen quantitativ und qualitativ genügende Entscheidungsbefugnisse verbleiben. Das gilt insb. in Anbetracht der volksinitiierten Volksgesetzgebung, weil hier den Initiatoren, ohne über eine demokratische Legitimation zu verfügen, mit der Auswahl der Fragestellung, auf die der Volksentscheid nur mit Ja oder Nein antworten kann, ein bestimmender Einfluss auf die plebiszitäre Willensäußerung zufällt.
3. Anforderungen an die Ausgestaltung
Unter diesen Maßgaben stellt das Verfassungsrecht an die Ausgestaltung plebiszitärer Rechte eine Reihe von Anforderungen, die dazu dienen, sowohl die funktionale Stellung der Volksvertretung als auch die demokratische Legitimität des P.s zu sichern. So muss das Volksgesetz, weil ihm kein höherer Wert und Rang zukommt, vom Parlamentsgesetzgeber übernommen oder derogiert werden können. Zum Schutz der haushalts- und personalpolitischen Gesamtverantwortung des Parlaments sind P.e mit substantiellen finanziellen Auswirkungen auf den Staatshaushalt und zu Personalentscheidungen unzulässig (sog.er Finanzvorbehalt). Zudem bedarf es hinreichender Zustimmungsquoren sowohl für die Einleitung (Volksbegehren) als auch für den Erfolg (Volksentscheid) des P.s. Diese sind der Höhe nach so zu bemessen, dass sie einerseits ihre legitimierende Funktion erfüllen, die Mehrheit des stimmberechtigten Volkes vor einer Fremdbestimmung durch aktive Minderheiten zu bewahren, andererseits aber für das plebiszitäre Begehren praktisch erreichbar bleiben, mithin keine prohibitive Wirkung entfalten.
Literatur
M. Möstl: Elemente direkter Demokratie als Entwicklungsperspektive, in: VVDStRL, Bd. 72 (2013), 355–416 • F. Wittreck (Hg.): Volks- oder Parlamentsgesetzgeber: Konkurrenz oder Konkordanz?, 2012 • M. Martini: Wenn das Volk (mit)entscheidet …, 2011 • J. Isensee: Demokratie ohne Volksabstimmung: das Grundgesetz, in: C. Hillgruber/C. Waldhoff (Hg.): 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, 117–137 • J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), HStR, Bd. III, 32005 • E.-W. Böckenförde: Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: ebd., § 34 • P. Krause: Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: ebd., § 35 • H.-D. Horn: Mehrheit im Plebiszit, in: Der Staat 38/3 (1999), 399–422 • E. Fraenkel: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, 1991, 153–204 • F. Scharpf: Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970 • K. Loewenstein: Volk und Parlament, 1922.
Empfohlene Zitierweise
H. Horn: Plebiszit, I. Rechtswissenschaftlich, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Plebiszit (abgerufen: 05.12.2024)
II. Politikwissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Plebiszite im Kontext demokratischer Ordnung
Volksinitiativen und Referenden, in Deutschland „plebiszitäre Instrumente/Elemente“ genannt, werden oft verlangt, um die repräsentative Demokratie direktdemokratisch zu ergänzen und zu verbessern. Manche erachten nur eine solche Demokratie als „wirkliche“ Demokratie, in der das Volk sich personal- und sachunmittelbar selbst regiert. Dann wären alle Inhaber öffentlicher Ämter vom Volk zu wählen und alle wichtigen Entscheidungen plebiszitär zu treffen. Da sich aber nicht alle Bürger gleichermaßen für Politik interessieren oder mit ihrem Wissen auf der Höhe politischer Entscheidungsmaterien befinden, erwies es sich als vorteilhaft, mit dem Demokratieprinzip das vor- und außerdemokratische Repräsentationsprinzip (Repräsentation) zu verbinden. Das meint: Abgeordnete werden personalunmittelbar gewählt, sei es als Einzelbewerber oder auf Parteilisten; anschließend aber haben sie – in Ernst Fraenkels berühmter Formulierung – den jeweils „empirisch feststellbaren Volkswillen“ (Fraenkel 1958: 5) zu jenem Gemeinwillen zu formen, den die Bürger dann wohl hätten, wenn sie sich ebenso gründlich wie ihre Repräsentanten mit anstehenden Entscheidungen befassen könnten.
Eine rein repräsentative Demokratie kennt keinerlei Volksinitiativen oder Referenden. Rückgebunden an Sichtweisen und Interessen in der Bevölkerung sind die Abgeordneten nur durch die Vorauswirkung der jeweils nächsten Wahl. Solange man die nicht verlieren will, handelt man während der Wahlperiode möglichst zustimmungsträchtig. Intensivieren lässt sich die Rückbindung von Politikern ans Volk aber durch plebiszitäre Instrumente, welche – praktisch nutzbar ausgestaltet – zusätzliche Kommunikations- und Erklärungspflichten der Repräsentanten erzwingen. Allerdings ist darauf zu achten, dass nur die Responsivität der Repräsentanten erhöht, der Mehrwert repräsentativer Demokratie aber nicht gefährdet wird. Also müssen die Repräsentanten stets das erste Wort haben, das letzte Wort hingegen die Bürger.
2. Arten von Plebisziten
Gerade deshalb ist es so folgenreich, von wem ein P. ausgehen kann. Bestens vereinbar mit repräsentativer Demokratie sind jene P.e, die – auch vermittelt über Parteien – aus der Mitte des Volks hervorgehen. Sie wirken nämlich von den Regierten hin zu den Regierenden, also „von unten nach oben“. Das bekannteste plebiszitäre Instrument ist hier die Volksgesetzgebung. Oft dreistufig ausgestaltet und unterschiedlich benannt, verlangt zunächst ein Volksantrag legislatives Tätigwerden von Parlament oder Regierung. Ein Volksbegehren schlägt dann dem Parlament ein – von einer Antragsinitiative formuliertes – Gesetz vor. Und durch Volksentscheid wird abschließend geklärt, ob dieses Gesetz – oder ein alternativ vom Parlament vorgeschlagenes – wirklich zustande kommt. Sodann gibt es zwei Arten von Referenden, welche die Abhängigkeit der Repräsentanten vom Staatsvolk steigern. An obligatorische Referenden über wichtige Gesetze, Verfassungsänderungen oder internationale Verträge gebunden, kann auch eine noch so große Parlamentsmehrheit nicht mehr „durchregieren“, sondern muss die Grenzen der ausreizbaren Zustimmungsbereitschaft des Volks im Blick haben. Gleiches gilt für fakultative Referenden. Sie werden durch die Sammlung einer verfassungsmäßig vorgesehenen Zahl von Unterschriften der Abstimmungsberechtigten seitens einer „Antragsinitiative“ herbeigeführt. Es kann entweder die Vorlage einer zu treffenden Sachentscheidung verlangt werden („fakultatives Sachreferendum“). Oder es kann verlangt werden, dass ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz dem Volk zur abschließenden Entscheidung vorgelegt wird („fakultatives gesetzesaufhebendes Referendum“, auch: „Volksveto“). Dieses plebiszitäre Instrument hindert Repräsentanten auch am punktuellen „Durchregieren“ und zwingt selbst allergrößte Parlamentsmehrheiten dazu, nur „referendumssichere“, also dem Volk plausibilisierbare, Gesetze zu verabschieden. Das verstärkt im Lauf der Zeit die konkordanzdemokratischen Züge eines politischen Systems und verlangsamt – um besserer demokratischer Legitimation willen – konflikthaltige Entscheidungsprozesse.
Schlecht vereinbar mit repräsentativer Demokratie sind hingegen alle P.e, die von einem Staatsoberhaupt, einer Regierung oder einer Parlamentsmehrheit nach eigenem Ermessen angesetzt werden können. Üblicherweise betreffen sie stark umstrittene Sachfragen oder persönliche Machtfragen, etwa im Fall der plebiszitären Umwandlung eines (semi-)parlamentarischen Regierungssystems in ein präsidentielles Regierungssystem, womöglich samt Einführung der Präsidentschaft auf Lebenszeit. Ohnehin werden solche Referenden meist von Sachabstimmungen zu Vertrauensabstimmungen über jene Politiker oder Parteien, die ein P. herbeigeführt und im Abstimmungswahlkampf zur Entscheidungsfrage eine klare Position bezogen haben. Im letzteren Fall wird beim P. gleichzeitig über zwei ganz verschiedene Fragen entschieden: über die Sachfrage auf dem Abstimmungszettel und über die persönliche Vertrauensfrage. Das macht das Abstimmungsergebnis stets doppeldeutig. Grundsätzlich können Politiker durch von ihnen ansetzbare Sachreferenden die von ihnen zu tragende Verantwortung für eine Entscheidung bequem der Wählerschaft zuschieben. Obendrein können sie die Formulierung der Abstimmungsfrage manipulieren und durch ein anberaumtes Sachreferendum auf jeweils wünschenswerte Weise von anderen Problemen ablenken. Nichts davon dient repräsentativer Demokratie.
3. Politische Bewertung
Leider sind gerade die unbedingt zu verhindernden P.e die populärsten und werden regelmäßig von Populisten (Populismus) verlangt. Deshalb neigen Verfechter repräsentativer Demokratie dazu, überhaupt alle Formen von P.en abzulehnen und zu verkennen, wie sehr Volksgesetzgebung und Volksveto der Qualität repräsentativer Demokratie nützen können. Besser wäre es, die konkrete Ausgestaltung von einzuführenden P.en zu erörtern: die erforderliche Anzahl von Unterschriften („Antragsquorum“), die Beteiligungs- und Zustimmungsquoren, die möglichen Ausschlussmaterien bei Volksgesetzgebung oder Volksveto. Obendrein bekäme der deutschen Diskussion die Einsicht, dass Deutschlands Demokratie ohnehin nur auf der Bundesebene „rein repräsentativ“ ist: Alle Bundesländer kennen die Volksgesetzgebung, und auf kommunaler Ebene gibt es inzwischen die ganze Palette möglicher P.e.
Literatur
S. Vospernik: Modelle der direkten Demokratie. Volksabstimmungen im Spannungsfeld von Mehrheits- und Konsensdemokratie, 2014 • W. J. Patzelt: Welche plebiszitären Instrumente könnten wir brauchen?, in: Jb. für direkte Demokratie 2010 (2011), 63–106 • P. Neumann: Sachunmittelbare Demokratie, 2009 • E. Fraenkel: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958.
Empfohlene Zitierweise
W. Patzelt: Plebiszit, II. Politikwissenschaftlich, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Plebiszit (abgerufen: 05.12.2024)