Protestantismus

Der erst im späten 18. Jh. geprägte, erstmals bei Johann Gottlieb Herder nachweisbare Kollektivsingular „P.“ bezeichnet all jene christlichen Konfessionskirchen, Erneuerungsbewegungen und Gruppen, die aus den Reformationen des 16. Jh. hervorgegangen sind und sich selbst als Erben des reformatorischen Protests verstehen. Den P. gibt es allerdings nicht. Denn schon die reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jh. waren durch große theologische, religionskulturelle, ethische und politisch-soziale Vielfalt geprägt und unterschieden sich auch im Grad ihrer kritischen Absage an die überkommene lateinische Kirche.

1. Zur Begriffsgeschichte

Der Begriff P. war urspr. eine Fremdbezeichnung. Altgläubige Reichsstände benutzten ihn polemisch gegen die sechs Reichsfürsten von Hessen, Kursachsen, Brandenburg-Ansbach, Braunschweig-Lüneburg, Anhalt und Fürstenberg sowie 14 Reichsstädte, unter ihnen Straßburg, Nürnberg, Ulm und Konstanz, die beim Reichstag zu Speyer im Juni 1529 in einer „Protestatio“ gegen die Aufhebung des einstimmig gefassten Reichstagsbeschlusses von 1526 protestiert hatten, mit dem durch faktische Suspendierung des Wormser Edikts Fürsten und Städte rechtliche Legitimität zur Durchführung der Reformation gewonnen hatten. Ihre „Protestatio“ hatten die evangelischen Stände damit begründet, dass „in den Sachen Gottes Ehre und unserer Heil und Seligkeit belangend, ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben muss“. Damit hatten sich die protestierenden evangelischen Stände nicht nur das von Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms formulierte Bekenntnis zu eigen gemacht, dass der Christ in allen den Glauben betreffenden Fragen nicht irgendeiner kirchlichen Autorität oder politischen Mehrheit, sondern ausschließlich seinem je eigenen, allein an Gottes Wort gebundenen Gewissen verpflichtet sei. Hier wurde das Eigenrecht christlicher Gewissensfreiheit (Gewissen, Gewissensfreiheit) behauptet.

Die altgläubigen Verteidiger des kirchlichen Status quo bezeichneten zunächst nur die Anhänger der Wittenberger Reformation M. Luthers und Philipp Melanchthons als „Protestanten“, „Protestierende“ oder „Protestantes“. Unter den Bedingungen der Konfessionalisierung seit dem ausgehenden 16. Jh. bzw. im „Konfessionellen Zeitalter“ – dieser Begriff dürfte auf Ernst Troeltsch zurückgehen – benutzten ihn v. a. römisch-katholische Kontroverstheologen wie Georg Cassander und Jacques Bénigne Bossuet als Kampfbegriff zur Bezeichnung der religiösen wie theologischen Illegitimität reformatorischer Theologie. Mit Ausnahme des Helmstedter Lutheraners Georg Calixt und seiner Schüler, der für eine interkonfessionelle Verständigung zwischen den drei großen Religionsparteien warb, verwendeten ihn lutherische wie reformierte bzw. calvinistische Theologen nicht, weil er die innerprotestantischen Konfessionsdifferenzen zu relativieren drohte. Erst seit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurde der Begriff auch für die Reformierten gebraucht und nun zunehmend von lutherischen wie calvinistischen Theologen und Juristen als Selbstbezeichnung in Anspruch genommen. Hingegen wurde in England „Protestant“ schon seit ca. 1560 von anglikanischen Gelehrten positiv für die eigene Konfession verwendet. Für anglikanische Theologen wie William Barlow, den Verfasser der „Defense of the Articles of the Protestant Religion“ (1601) und entschiedenen Gegner der „Puritans“, und William Chillington, den Autor von „The Religion of Protestants a Safe Way to Salvation“ (1638), galten all jene als „Protestants“, die gegen die Machtansprüche des römischen Papstes und die Herrschaft der Kleriker über die Laien das „Priestertum aller Gläubigen“ und die „Freiheit eines Christenmenschen“ vertraten. Sie trugen entscheidend dazu bei, dass sich England seit der Herrschaft Elisabeths I., der zweiten Tochter Heinrichs VIII. und seiner Frau Anne Boleyn, als die wichtigste Macht im Kampf gegen den autoritären „Papismus“ der römischen Kirche verstand. Die damit verbundene Hochschätzung des P.-Begriffs im englischen Diskurs beeinflusste auch die Geschichten des Begriffs im niederländischen, deutschen und französischen Sprachraum, wo sich nun immer mehr lutherische wie calvinistische Theologen, Juristen und auch populäre Schriftsteller den Begriff konfessionsstolz als Selbstbezeichnung zu eigen machten. Die Nivellierung des innerprotestantischen Konfessionsgegensatzes in Pietismus und Aufklärung verstärkte diese Tendenz.

Zunehmend wurde P. zu einer Sammelbezeichnung für all jene Kirchen, Sekten und religiösen Erneuerungsbewegungen im okzidentalen Christentum, die sich durch die Reformationen des 16. Jh. bestimmt sahen und den Anspruch der römisch-katholischen Kirche (Katholische Kirche) bestritten, die exklusiv wahre Kirche Christi zu sein. Dieser weite P.-Begriff umfasste neben Lutheranern, Reformierten, Anglikanern und den kleineren in der Reformationszeit entstandenen Gruppen (wie etwa den Mennoniten und täuferischen Bewegungen), die in der englischsprachigen Welt später entstandenen Kirchen und einflussreichen freien Gemeinschaften der Independenten, Kongregationalisten, Baptisten, Quäker und Methodisten sowie die von den Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jh. geprägten Gruppen wie die Brüdergemeine oder die Heilsarmee. Auch die schon vor der Wittenberger Reformation von der lateinischen Kirche sich absondernden Glaubensgemeinschaften der Waldenser und der böhmisch-mährischen Brüder wurden sprachpolitisch nun in die protestantische Konfessionsfamilie aufgenommen. Im 19. und 20. Jh. kamen die durch teils freiwilligen, teils obrigkeitlich verordneten Zusammenschluss von lutherischen und reformierten Gemeinden gebildeten Kirchen der Union sowie die dank vielfältiger Missionsaktivitäten entstandenen Jungen Kirchen außerhalb Europas, insb. in Afrika und Teilen Asiens, hinzu. Auch die um 1900 in den USA entstandenen Pfingstkirchen sehen sich selbst als Erben der Reformation. „P.“ repräsentiert insoweit einen religionsklassifikatorischen Idealtypus, der ein hoch differenziertes Spektrum christlicher Lebenswelten und Konfessionskulturen umfasst, die sich kritisch immer durch mehr oder minder entschiedene Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Christentümern des Ostens (Ostkirchen) sowie konstruktiv durch Vorrang des gottunmittelbaren Frommen vor der Institutionalität der Kirche auszeichnen. In den Prozessen der Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft wurde diese protestantische Vielfalt noch gesteigert, indem neben alte theologische und religiöse Differenzierungen noch neue politisch-kulturelle und sozialstrukturelle Fraktionierungen traten. In der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972: XV) des späten 18. und frühen 19. Jh. spaltete sich bspw. der deutsche P. in einen politisch modernitätskritisch konservativen kirchlichen Milieu-P. und einen bürgerlich-liberalen Kultur-P.

Die innere Pluralisierung der diversen Protestantismen (P.en) spiegelt sich auch in der bisher erst partiell erkundeten, seit 1800 beobachtbaren Bildung zahlreicher neuer Komposita des P.-Begriffs. Schon zu Beginn des 19. Jh. wurde zwischen „Alt-P.“ und „Neu-P.“ unterschieden, um die fundamentalen theologischen, religionskulturellen, ethischen und sozialstrukturellen Differenzen zwischen den konfessionellen P.en in der frühen Neuzeit und den durch Pietismus und Aufklärung zutiefst verwandelten P.en der Moderne seit dem ausgehenden 17. Jh. sichtbar zu machen; diese Grundunterscheidung wurde um 1900 v. a. von E. Troeltsch in seinen kulturhistorischen P.-Studien ausgearbeitet. Interne Fraktionierung spiegeln auch in der zweiten Hälfte des 19. Jh. geprägte Neologismen wie „Bildungs-P.“, „Kultur-P.“, „Kirchen-P.“, „Sozial-P.“, „Moral-P.“, „National-P.“, „Staats-P.“ und – wohl erst in den 1920er Jahren – „Welt-P.“, aber auch Formeln wie „politischer P.“, „polizeilicher P.“, „literarischer P.“, „moderner P.“, „freier P.“, „liberaler P.“, „kirchlicher P.“ und „positiver P.“. Doch so wenig es den P. geschichtlich gab und gegenwärtig gibt, so sehr lässt sich in der großen Vielfalt der diversen P.en auch ein identifizierbarer Bestand an genuin protestantischen Grundüberzeugungen erschließen. Auch wenn die Rede vom „Wesen des Christentums“ (Harnack 1900) epistemologisch naiv und irreführend ist – so die berechtigte Kritik seines Freundes E. Troeltsch – und man deshalb von einem „Wesen des Judentums“, „Wesen des Katholizismus“ oder „Wesen des P.“ nicht sprechen sollte, lassen sich in aller irreduziblen Pluralität der zahllosen P.en doch einige elementare Gemeinsamkeiten erkennen.

2. Protestantische Identität

Theologisch normativ umfasst der P.-Begriff die konstitutiven theologischen und religionskulturellen Elemente, die allen sich selbst auf die Reformation zurückführenden christlichen Kirchen und Gruppen gemeinsam sind. Grundlegend sind das sola scriptura und der dezidierte „Wort“-Bezug, d. h. der konsequente Vorrang der Bibel vor kirchlicher Tradition, das sola gratia bzw. die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gottes souveräner Gnade, das freie, durch keinerlei klerikal-institutionelle Mechanismen objektivierbare Wirken des Heiligen Geistes, das Priestertum aller Gläubigen und die darin implizierte Absage an irgendeinen religiösen Eigenwert des kirchlichen Amtes, die libertas christiana des in seinem Gewissen allein an Gott gebundenen frommen Individuums, der wahre Gottesdienst durch weltliche Berufserfüllung und ein exklusiv auf die Wahrheit des Evangeliums bezogenes funktionalistisches Kirchenverständnis, demzufolge die Kirche nichts anderes ist als die „Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden“ (CA VII); die breite Vielfalt unterschiedlicher äußerer Ordnungen, sozialer Gestaltungen und liturgischer Vollzüge von Kirchen ist protestantisch legitim.

Neben theologischen Normbegriffen wurden seit dem 18. Jh. zahlreiche philosophische und kulturwissenschaftliche P.-Konzepte entwickelt. Bes. Aufmerksamkeit galt möglichen Vermittlungszusammenhängen zwischen P. und Neuzeit. In den Konfessionsdiskursen des 18. Jh. behaupteten viele Aufklärer, dass die Lehre vom weltlichen Beruf des Christen einen Habitus asketischer Weltbemächtigung gefördert habe, sodass der evidente höhere Wohlstand protestantischer Territorien religionskulturell induziert sei. Schon vor der „Union“ zwischen lutherischen und reformierten Kirchen sprachen viele Aufklärer von „der protestantischen Kirche“. Friedrich Schleiermacher forderte für Preußen 1808, dass „die protestantische Kirche in diesem Staate durchaus nur Eine sey“ (Schleiermacher 2011: 4). Die Differenzen zwischen Katholizismus und P. explizierte er in einer als klassisch geltenden Formel: Man könne „den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältnis des einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältnis zur Kirche“ (Schleiermacher 1960: 137). Analog erklärte Johann Gottlieb Fichte programmatisch: „Verstand in Anwendung auf das Christentum und Protestantismus ist ganz dasselbe; daher der moderne Philosoph und Gelehrte notwendig ein Protestant ist“ (Fichte 1846: 609). Der im Tübinger Stift geprägte Georg Wilhelm Friedrich Hegel deutete M. Luthers libertas christiana als epochalen Durchbruch zu moderner Autonomie. „Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein“ (Hegel 1970, Bd. 12: 497), teilte er seinen Studenten in den „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ mit. So erklärte er in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“: „Das protestantische Prinzip ist, daß im Christentum die Innerlichkeit allgemein als Denken zum Bewußtsein komme“ (Hegel 1971: 123), der P. also den christlichen Glauben in eine „denkende Religion“ transformiere. In seiner „Rechtsphilosophie“ hieß es dann: „Nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“, sei „das eigentümliche Princip des Protestantismus“ (Hegel 1970, Bd. 7: 27). Von G. W. F. Hegel beeinflusste Theologen wie insb. der politisch demokratische Tübinger Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur feierten den P. in emanzipatorischer Absicht, um der Herbeiführung einer vorstaatliche Freiheitsrechte der Bürger anerkennenden konstitutionellen Monarchie willen, als Religion der Freiheit: „Der Protestantismus ist seinem innersten Wesen nach das Princip der Autonomie, die Befreiung und Entäusserung von allem, worin der seiner selbst bewußte Geist nicht sein eigenes Wesen erkennen und mit sich selbst Eins wissen kann“ (Baur 1970: 40). Wilhelm Traugott Krug, der Nachfolger Immanuel Kants auf dem Königsberger Lehrstuhl für Philosophie, behauptete 1823 in seiner „Geschichtliche[n] Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit“, der ersten deutschsprachigen Liberalismus-Geschichte überhaupt, dass die Reformation mit der Vorordnung des Gewissens des frommen Einzelnen vor die Institutionalität der Kirche einen „religiösen Liberalismus“ entbunden habe und der P. „seinem Wesen nach“ nichts anderes als „ein religiöser und kirchlicher Liberalismus“ sei, in dem „die Ideen der Freiheit und der Gleichheit – diese beiden großen Ideen, die in unserer Zeit die Welt in so lebhafte Zuckungen versetzt haben – mit Klarheit und Beschränktheit“ hervorgetreten seien (Krug 1823: 134). Diese Gleichsetzung des „protestantischen Prinzips“ mit spezifisch liberalen Freiheitskonzepten (Liberalismus) provozierte die Kritik sowohl römisch-katholischer Restaurationstheoretiker (Restauration) als auch lutherisch konservativer Theologen und Juristen.

In diesen heftigen vormärzlichen Kulturkämpfen entstand seit 1840 mit der „Konfessionskunde“ eine neue theologische Disziplin, die sich nicht nur auf die Lehrunterschiede und religionskulturellen Differenzen zwischen Katholizismus und P. konzentrierte, sondern auch die sozialmoralischen Differenzen zwischen Calvinismus und Luthertum untersuchte. Der aus dem württembergischen Luthertum stammende Berner Kirchenhistoriker Matthias Schneckenburger schrieb dem Luthertum ein quietistisch passives Verständnis frommen Lebens zu, dem Calvinismus hingegen einen Geist aktiver Weltbemächtigung. Sein Fakultätskollege Karl Bernhard Hundeshagen analysierte in „Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesamten Nationalentwicklung“ (1847) die politisch-ethischen Ideenwelten der diversen P.en und entfaltete in einer Festrede „Ueber den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen von Staat und staatsbürgerlicher Freiheit“ 1841 die These, dass erst der Calvinismus dem Staate „die volle Autonomie in den ihm zustehenden Lebenskreisen“ gegeben und „die Rechte aller Glieder des gesamten Gesellschaftskörpers aus einer sittlich-vernünftigen Notwendigkeit als angeborene, unveräußerliche und unverjährbare zu konstruieren“ erlaubt habe (Hundeshagen 1946: 38). Diese Zuordnung von Calvinismus und demokratiekompatiblem Menschenrechtsethos wirkte bis in die im Deutschen Kaiserreich bes. intensiv geführten P.-Diskurse hinein. Der Heidelberger Staatsrechtslehrer Georg Jellinek publizierte 1895 „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte“, in der er die modernen Menschenrechtskataloge nicht auf die Französische Revolution, sondern auf die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und hier insb. die „Bill of Rights“ des Staates Virginia zurückführte. In den heftigen religionspolitischen Auseinandersetzungen, die seit den Pilgrim Fathers die innere Entwicklung der Kolonien entscheidend geprägt hatten, sei die Freiheit des gläubigen Gewissens zum Ursprung und Kernbestand aller Menschenrechte erklärt worden. „Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe“ (Jellinek 1996: 74 f.).

In seinem berühmten Essay „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ deutete Max Weber 1904/05 die „innerweltliche Askese“ der Puritaner als einen sozialmoralischen Habitus, der den modernen okzidentalen Betriebskapitalismus (Kapitalismus) ermöglicht habe. E. Troeltsch fasste seine kulturhistorischen Studien über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ 1906 in der These zusammen, dass nicht der offizielle P. der großen Kirchen, sondern allein die täuferischen Gruppen und Alternativbewegungen entscheidende Grundmotive der modernen westlichen Freiheitsgeschichte (Freiheit) geprägt hätten. Auch betonten E. Troeltsch und M. Weber die größere Bürgerlichkeit und Demokratienähe des reformierten P., wohingegen sie dem Luthertum eine Wahlverwandtschaft zu autoritärer politischer Kultur und sozialpaternalistischem Antikapitalismus zuschrieben. Ihre in den USA v. a. von den Theologen Reinhold Niebuhr und Richard H. Niebuhr rezipierten Idealtypen von Calvinismus und Luthertum verloren in der neueren P.-Geschichte seit der Mitte des 20. Jh. insoweit an analytischer Relevanz, als viele protestantische Religionskulturen zunehmend weniger durch Askese und religiös induzierte rationale Lebensführung, sondern durch neue Mystik und charismatische Spiritualität geprägt sind. Auch gewannen seit dem Beginn des letzten Jh. gerade in den USA neue autoritäre Frömmigkeitsstile großen Einfluss, und der biblizistische „Fundamentalismus“ der Christian Right stärkte kommunitäre Netzwerke, die dem überkommenen protestantischen Individualismus die äußerst dichte Vergemeinschaftung der Sekte entgegensetzten. Charismatische Bewegungen und religiöse Kleingruppen mit einer hart bindenden, dem einzelnen viel abverlangenden, aber auch stabile Gewissheit bietenden Botschaft sind auf den Religionsmärkten der Gegenwart sehr viel erfolgreicher als die etablierten protestantischen main line churches. Dies zeigen bes. deutlich die großen Erfolge protestantischer Mission in den einstmals dominant katholischen Gesellschaften Lateinamerikas, aber auch charismatische P.en in einigen asiatischen Gesellschaften, etwa in Südkorea. Zur pluralistischen Signatur protestantischer Frömmigkeit gehört zudem die Protestantisierung der Religionskulturen verschiedener westeuropäischer Katholizismen, die, entgegen dem Hierarchiekult des römischen Lehramtes, die Individualisierung der Glaubenspraxis als christlich legitim anerkennen.