Wirtschaftsrecht

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1. Begriff

Der Terminus W. ist weder legal definiert, noch wird er von den Rechtsanwendern übereinstimmend interpretiert. Zuweilen wird das W. nicht als eigenständiges Rechtsgebiet, sondern als Wissenschaftszweig eingestuft. Es besteht jedenfalls Einigkeit darüber, dass mit dem Terminus eine bestimmte Normenmasse adressiert wird, die durch einen wirtschaftlichen Bezug gekennzeichnet ist.

2. Weites Verständnis

Zum W. im weiteren Sinne werden alle die Wirtschaft betreffenden Rechtssätze gezählt, i. S. d. Rechts allen wirtschaftlichen Handelns und aller wirtschaftlich Handelnder. Ein derart weites Verständnis des W. soll grundsätzlich ohne normative-wertende Zuordnungen auskommen. Vertreter einer weiten Definition bedienen sich zur Eingrenzung vielmehr häufig beispielhafter Enumerationen, was dem Begriff freilich kaum hinreichende Konturen verleiht. Zum W. sollen hiernach wesentliche Bestandteile des Bürgerlichen Rechts wie das Kauf- und das Werkvertragsrecht gehören, aber auch das Haftungsrecht und das Sachenrecht, das Handelsrecht, das Gesellschaftsrecht, das Kartellrecht, das Lauterkeitsrecht sowie der gewerbliche Rechtsschutz. Aus dem Öffentlichen Recht werden bspw. das Gewerberecht, das Außenwirtschaftsrecht, das Währungs-, Bank- und Börsenrecht, das Subventionsrecht sowie das Recht der Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand benannt. Man spricht insoweit auch vom öffentlichen W., ohne dass damit eine inhaltlich präzisere Zuordnung verbunden wäre. Das W. umfasst schließlich die Vorschriften des Wirtschaftsstrafrechts, etwa die Straftatbestände zur Bekämpfung von Betrug, Korruption, Insolvenzverschleppung, Steuerhinterziehung oder Untreue.

Unter formalen Gesichtspunkten kann das W. nach dem zuständigen Rechtsetzungsorgan kategorisiert werden. Gemäß der in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vorgesehenen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Recht der Wirtschaft ist das private und öffentliche deutsche W. traditionell Bundesrecht. Die Rechtsprechung fasst das Recht der Wirtschaft gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ebenfalls weit, i. S. d. „Normen, die neben der Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regeln“ (BVerfGE 68, 319; 116, 202; BVerwGE 97, 12; 120, 311). Landesrechtliche Vorschriften des Wirtschaftsverwaltungsrechts wie das sog.e kommunale W. stellen praktisch wichtige, aber zahlenmäßig begrenzte Ausnahmen dar. Mit der Entwicklung eines Europäischen Binnenmarkts wurden viele wirtschaftsrelevante Sachverhalte unionsrechtlich harmonisiert (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG). Man spricht insofern auch vom europäischen W. Das internationale W. ist insb. durch die Regelungen der WTO geprägt, maßgeblich gekennzeichnet durch die drei völkerrechtlichen Abkommen GATT, GATS und TRIPS.

3. Systematisch-teleologisches Verständnis

Eine inhaltlich engere Bestimmung der zum W. gehörenden Rechtssätze im Wege einer systematisch-teleologischen Einordnung stellt ein anspruchsvolles Unterfangen dar. Dies gründet u. a. auf dem Umstand, dass Normen des W.s gleichzeitig in nicht wirtschaftsrelevanten Rechtsbereichen bedeutsam sein können, man denke nur an allg.e privatrechtliche Institute wie die Geschäftsfähigkeit. Darüber hinaus ist der Normenbestand des W.s dynamisch (Digitalisierung, Industrie 4.0, etc.). Diese Dynamik schlägt sich nicht selten in neuen normativen Vorgaben nieder, aber auch in einem geänderten Normverständnis, deren Zugehörigkeit zum W. jeweils neu beurteilt werden muss. Schließlich haben teleologische Definitionen des W.s an sich ändernden gesellschaftlichen Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse teil. In jüngerer Zeit zeigt sich dieses Phänomen etwa im Rahmen des Klima- und Umweltschutzes, der zuweilen mit einer grundlegenden Kapitalismuskritik einhergeht. Etwaige normative Abgrenzungsschwierigkeiten können in einer wertungsbasierten Rechtsordnung nicht von der Notwendigkeit einer teleologisch stimmigen und systematisch folgerichtigen Einordnung rechtlicher Begriffe entheben.

4. Systematische Vorgaben der nationalen und europäischen Wirtschaftsverfassung

Einen bedeutsamen Anknüpfungspunkt für eine materiell-rechtliche Definition des W.s stellt die geltende Wirtschaftsverfassung dar. Diese gestaltet den rechtlichen Rahmen der Wirtschaft und beschreibt, welche Verhaltensweisen im wirtschaftsrelevanten Bereich zulässig sind. In Deutschland knüpft das Wirtschaftsverfassungsrecht an die in Art. 12 Abs. 1 GG normierte Berufs- und Gewerbefreiheit an, die als Form der Berufsausübung auch das Verhalten der Unternehmen als Anbieter und Nachfrager auf Märkten erfasst. Art. 14 Abs. 1 GG garantiert als materielle Grundlage individueller Freiheitsrechte das Privateigentum (Eigentum) inklusive der Möglichkeit seiner ökonomischen Nutzung als individuelles Grundrecht sowie als Institut der rechtlich geformten Sozialordnung. Art. 9 Abs. 1 GG spricht allen Deutschen das Recht der Gründung von Handelsgesellschaften sozietärer und korporativer Art zu, ebenso wie das Recht der Betätigung in solchen Vereinigungen. Art. 9 Abs. 3 GG verankert ergänzend das Freiheitsrecht, Koalitionen (Koalitionsfreiheit) zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben, um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in einer Ordnung der sozialen Selbstverwaltung festzulegen. Die Privatautonomie als das auf dem menschlichen Selbstverwirklichungsbedürfnis aufbauende Prinzip der eigenverantwortlichen Gestaltung der privaten Lebensverhältnisse in den Grenzen der Rechtsordnung ist, sofern keine speziellen Freiheitsrechte berührt sind, im Hauptfreiheitsrecht der allg.en Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt. Trotz der vorbenannten wirtschaftsrelevanten Grundrechtsgewährleistungen ist das GG nach Ansicht des BVerfG wirtschaftspolitisch neutral (BVerfG v. 20. 7. 1954 – Az. 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7, 17 – Investitionshilfe; BVerfG v. 11. 6. 1958 – Az. 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377, 400 – Apotheken). Es schreibt damit kein bestimmtes Wirtschaftssystem vor, wie dies in den 1960er Jahren für die soziale Marktwirtschaft westdeutscher Prägung vertreten wurde. Im Zuge der Einbindung Deutschlands in die EU wird die geltende Wirtschaftsverfassung zunehmend durch das Unionsrecht geprägt. Art. 3 Abs. 3 EUV richtet die Wirtschaftstätigkeit der Union auf eine in hohem Maße wettbewerbliche und zugl. soziale Marktwirtschaft aus. Diese Grundentscheidung wird durch wirtschaftsrelevante Unionsgrundrechte wie die Berufsfreiheit gemäß Art. 15 EuGRC, die Unternehmerfreiheit gemäß Art. 16 EuGRC, die Eigentumsfreiheit gemäß Art. 17 EuGRC, aber auch das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen gemäß Art. 28 EuGRC untermauert. Auf der Ebene des sonstigen Primärrechts sind die binnenmarktöffnenden Grundfreiheiten gemäß Art. 26 ff. AEUV und die Wettbewerbsregeln gemäß Art. 101 ff. AEUV bedeutsam. Wesentliche Bereiche des wirtschaftsrelevanten Privatrechts liegen allerdings weiterhin in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, werden also nicht durch die europäische Wirtschaftsverfassung ausgestaltet, sondern durch mitgliedstaatliches Recht auf nationaler Ebene konkretisiert.

5. Funktionen des Wirtschaftsrechts in der nationalen und europäischen Wirtschaftsverfassung

Aus der Anerkennung einer Wirtschaftsverfassung folgt eine übergeordnete Funktion des W.s, die sog.e Ordnungsfunktion. Schon Art. 151 WRV sprach von „einer Ordnung des Wirtschaftslebens“, auf die sich auch heute noch Stimmen im Schrifttum beziehen, die die „Verwirklichung einer gesamtwirtschaftlichen Ordnung“ fordern. Nach anderen bedarf es eines „Rahmen[s] für eine gesetzte Wirtschaftsverfassung“. Da das GG nach Ansicht des BVerfG wirtschaftspolitisch neutral ist, muss diese Ordnung durch einfaches Gesetzesrecht mit Inhalten gefüllt werden. Die europäische und die deutsche Privatrechtsordnung basieren in ihrem Kern auf der Gewährleistung wirtschaftlich relevanter Freiheitsrechte. Nach den immer noch grundlegenden Überlegungen Franz Böhms soll das Privatrecht das Verhältnis zwischen Gleichfreien und Gleichberechtigten regeln, als Teil einer Gesellschaftsordnung, in der die Bürger ihre Ziele und die zu deren Verwirklichung einzusetzenden Mittel selbst determinieren. Normativer Kern dieser Konzeption ist die auch grundrechtlich gewährleistete Vertragsfreiheit als zentrale Ausprägung des Grundsatzes der Privatautonomie.

Sofern eine Vertragspartei im wirtschaftlichen Wettbewerb ein wirtschaftliches Übergewicht hat, aufgrund dessen sie sich die Kooperationsrendite einseitig aneignen kann, muss der Staat durch rechtliche Vorgaben einen fairen Interessenausgleich sichern. Das BVerfG verortet die gebotenen Korrekturen zum Schutz von wirtschaftlich Schwächeren im Sozialstaatsprinzip (Sozialstaat) gemäß Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG (BVerfG v. 7. 2. 1990 – Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 254 f. – Handelsvertreter). Überzeugender erscheint eine materiale Konzeption der Vertragsfreiheit. Hiernach ist das Vertragsrecht kein Mittel zur Erreichung übergeordneter Gemeinwohlziele wie eines gesamtgesellschaftlich „richtigen“ Investitions-, Produktions-, Preis- und Lohnverhaltens, sondern dient der Verwirklichung der chancengleichen Selbstbestimmung der Bürger. Vor diesem Hintergrund zielt eine staatliche Vertragsinhaltskontrolle nicht auf die Herstellung einer rechtlichen und faktischen Gleichheit im Privatrecht ab, sondern allein auf die Sicherung der Möglichkeiten auf Selbstbestimmung als Freiheit zur Verfolgung der eigenen Interessen ohne eine Verpflichtung auf ein spezifisches – dem gesellschaftlichen Wandel unterliegendes – Gerechtigkeitsideal. Unter den Bedingungen einer freien Marktwirtschaft beeinflusst ökonomische Ungleichheit außerhalb der vom Wettbewerbsrecht erfassten Fallgestaltungen als solche weder den Vertragsinhalt zum Nachteil einer der Vertragsparteien, noch führt sie dadurch zwangsläufig zu ungerechten Ergebnissen. Vielmehr kann wirtschaftliche Macht unabdingbar sein zur Erreichung positiver Gemeinwohlergebnisse (Gemeinwohl). Folgerichtig ist ein Vertrag vorbehaltlich anderer Unwirksamkeitsgründe grundsätzlich auch bei Fehlen eines objektiv gerechten Interessenausgleichs wirksam, sofern er auf einer selbstbestimmten Entscheidung beruht. Das Vertragsrecht beruht damit auf demselben Geltungsgrund wie das Wettbewerbsrecht: Es dient der Sicherung der materialen Vertragsfreiheit der Bürger vor erheblichen Beeinträchtigungen ihrer Selbstbestimmung, sei es, dass diese „typischer Weise“ auftreten, sei es, dass es sich im Einzelfall um „unzumutbare“ Vertragsbedingungen handelt. In der geschilderten Aufladung eines formalen Freiheitsbegriffs durch Erfordernisse chancengleicher Selbstbestimmung kann man eine Ausprägung einer Schutzfunktion des W.s sehen, für die es keines Rückgriffs auf ein vage konturiertes Sozialstaatsgebot bedarf. Dessen ungeachtet ist es dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber unbenommen, in den privaten Interessenausgleich auch zur Verfolgung übergeordneter Gemeinwohlinteressen einzugreifen, etwa zum Klima- und Umweltschutz. Darin kann man eine Wohlfahrtsfunktion des W.s erblicken.

Aus dem Zusammenspiel der vorstehend geschilderten Aufgaben des W.s ergibt sich die sog.e Ausgleichsfunktion. Einerseits soll es eine material-chancengleich verstandene Vertragsfreiheit fördern und damit eine faire Selbstregulierung privater Wirtschaftsprozesse ermöglichen (Freiheits- und Schutzfunktion). Andererseits kann diese Selbstregulierung von außen zur Verwirklichung sozialer, politischer Ziele gesteuert werden (Wohlfahrtsfunktion).

6. Definition

Auf der Grundlage der nationalen und europäischen Wirtschaftsverfassung ist eine materiell-wertende Definition des W.s möglich. Danach gehören zum W. diejenigen Rechtssätze, die zur Ausgestaltung der durch die Wirtschaftsverfassung vorgegebenen Ordnung des wirtschaftlichen Handelns und der wirtschaftlich Handelnden beitragen; also diejenigen Normen, die der Sicherung grundrechtlich gewährleisteter wirtschaftlicher Freiheiten dienen. Das W. umfasst zudem diejenigen Normen, die diese Freiheiten zur Verfolgung sozialer oder sonstiger gemeinwohlbezogener Ziele regulieren.