Multikulturalismus

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  1. I. Soziologische Perspektiven
  2. II. Multikulturalismus im demokratischen Staat

I. Soziologische Perspektiven

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M. steht als Sammelbegriff für unterschiedliche sozialphilosophische Theorieansätze, in denen der Anspruch für eine kulturpolitische (Neu-)Ordnung der Gesellschaft formuliert wird. Leitmaxime des M. ist die Frage, wie kulturelle Diversität und das konkrete alltagspraktische Zusammenleben in Migrationsgesellschaften (Migration) jenseits der Ideologie einer Assimilation an (nationale) Leitkulturen oder der Vision des melting pot auch staatlich zu organisieren sind. Zu den zentralen Gründungsfiguren des M. zählen die US-amerikanischen Soziologen Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan, die unter dem Begriff des Cultural Pluralism (kulturellen Pluralismus) durch die Absage an damalige populäre Assimilationskonzepte einen Paradigmenwechsel in der Migrations- und Integrationsforschung einläuteten und den Weg für das Folgekonzept des M. bereiteten. Bis heute gelten aber v. a. die Arbeiten des kanadischen Politikwissenschaftlers und Sozialphilosophen Charles Taylor als Schlüsseltexte eines M., der seine Politik der Differenz auf der Anerkennung der Gleichwertigkeit kollektiver Gruppenwerte begründet.

Während M. im normativen Sinn der Frage nachgeht, wie nationalen, ethnischen oder religiösen (Minderheiten-)Gruppen bestimmte Rechte und Förderungen zugestanden werden sollen, um das Zusammenleben gerechter zu gestalten und kulturelle Vielfalt zu schützen und zu bewahren, dient der Begriff der Multikulturalität zunächst einmal zur bevölkerungsstatistischen Beschreibung der empirischen Vielfalt im Hinblick auf Herkunft, Sprache, Religion, Nationalität, Sitten oder Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder. Im deutschen Sprachgebrauch verliert der Begriff Multikulturalität in den meisten Fällen jedoch seine eigentliche Bedeutung; er wird häufig mit Konsummultikulturalität gleichgesetzt.

Betrachtet und analysiert man das Ausmaß der Verflechtungen oder den Grad der Interaktivität zwischen den verschiedenen Kulturen, lassen sich unterschiedliche Grade von Multikulturalität unterscheiden, die vom vorübergehenden Phänomen über ein mehr oder weniger friedliches Nebeneinander verschiedener kultureller Gruppen bis hin zur wechselseitigen Akzeptanz identitätsstiftender Freiräume der anderen Gruppen, mit dem Ziel eines interkulturellen Nebeneinanders und Lernens, reichen. Letzterer Typus der Multikulturalität entspr. am ehesten den Forderungen des politischen M.

M. zählt nicht erst durch die kritische Revision des Kulturbegriffs im Kontext interdisziplinärer Diskussionszusammenhänge, federführend aus Postcolonial (Postkolonialismus) und Cultural Studies, mittlerweile zu einem der heftig umstrittensten Ansätze in Theorie und Politik. M. war bereits von Beginn an ein Konglomerat an z. T. sehr unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und Kulturpolitiken. Prinzipiell können zwei Richtungen innerhalb des M. unterschieden werden:

a) Der sogenannte liberale M. bejaht die Wahrung verschiedener kultureller Identitäten und fordert die Beseitigung jeglicher politischer sowie sozialer Diskriminierung von (Minderheiten-)Kulturen. Gleichzeitig betont er, dass eine Gesellschaft nur dann funktionsfähig bzw. überlebensfähig ist, wenn sich ihre Mitglieder auf eine allgemein akzeptierte politische Kultur und Rechtsgrundlage zum Wohle aller einigen. Hier steht die Betonung formaler Gleichheitsprinzipien und die individuelle Positionierung gegenüber kulturellen und ethnischen Gruppen im Vordergrund; die Einführung von Gruppenrechten wird abgelehnt, die politischen Prozesse sollen weitgehend entkoppelt werden von kulturellen und ethnischen Fragen und Formationen. Problematisch wird dieser Ansatz dann, wenn trotz oder gerade wegen der Überbetonung formaler Gleichheit aller Bürger die wachsende soziale Ungleichheit und ethnische Unterschichtung der Gesellschaft übersehen wird, wie es z. T. in der französischen Gesellschaft der Fall ist.

b) Der sogenannte radikale M. hingegen weist auf die bes. Bedeutung der kulturellen Vielfalt mit all ihren Facetten hin und versucht diese Pluralität in ihrer Reinform zu erhalten und zu garantieren. Dies soll durch weitgehende Selbstbestimmung und Anerkennung von Gruppenrechten im politisch-öffentlichen Raum durchgesetzt werden. Dieser Ansatz widerspricht dem demokratischen-mehrheitlichen Grundgedanken einer Gesellschaft und kann in seiner schärfsten Ausprägung in Anarchie (Anarchie, Anarchismus) und Existenz mehrerer Parallelgesellschaften enden. Kern des radikalen M. bildet die konkrete kulturelle Gemeinschaft, die als starke Wertegemeinschaft gedacht wird, und deren bes. Qualitäten gerade in der starken moralischen Einbettung des Individuums liegt, die durch universale abstrakte Grundrechte und -prinzipien nur z. T. gewährleistet würde.

Während die klassischen Einwanderungsländer wie USA, Kanada und Australien, was die Diskussion über das multikulturelle Zusammenleben anbelangt, auf eine längere Geschichte zurückblicken, hat die bundesdeutsche Öffentlichkeit das Thema M. erst Anfang der 1980er Jahren entdeckt und führt die Debatte allenfalls punktuell. Als politischer Stichwortgeber gilt hierzulande u. a. Heiner Geißler, später dann auch Daniel Cohn-Bendit, zu den wissenschaftlichen Protagonisten zählen neben dem Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer auch Claus Leggewie sowie Frank-Olaf Radtke. Ursprünglich sind es jedoch US-amerikanische Sozialwissenschaftler, die gesellschaftspolitische Folgen der multikulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung früh zum Gegenstand von Forschung und Gesellschaftsbeschreibung machen: Bes. hervorzuheben sind hier die Pionierarbeiten der Chicago School of Sociology.

Viele der hier bis in die 1930er Jahre hinein entstanden Arbeiten widmeten sich nicht nur der Ethnographie „ethnischer Kolonien“ und dem „Mosaik kultureller Welten“ in der globalen Stadt, sondern auch der Aufgabe einer idealen Organisation von Kultur auf der Grundlage soziologischen Wissens. Auch wenn einige Vertreter der Chicagoer Schule in ihren Arbeiten von der Vision eines melting pot, also der schrittweisen Amalgamierung der verschiedenen ethnischen, sprachlichen und kulturellen Minderheiten getragen waren, die etwa durch Mischehen der Nachfolgegeneration der Einwanderer forciert wurden, hielten viele zunächst am sozialökologischen Modell einer Gesellschaft der vielen (kleinen) kulturellen Lebenswelten fest und inspirierten so zahlreiche gemeindesoziologische Arbeiten. Tragender Gedanke, der später auch in der M.-Diskussion immer wieder vorgetragen wurde, war die (kommunitaristische) Annahme (Kommunitarismus), dass die ethnische Bezugsgruppe konstitutiv für die Entwicklung einer stabilen Identität ist, gerade in Zeiten moderner Umwälzungen, in der die Person der Gefahr der Individualisierung, Desorientierung oder gar Anomie ausgesetzt ist.

Ghettoisierung und ethnische Unterschichtung, fundamentalistische Bewegungen (Fundamentalismus) und terroristische Anschläge (Terrorismus) im 21. Jh. haben die Vision eines friedlichen oder zumindest staatlich regulierbaren „Nebeneinanders der Kulturen“ und mit ihr die Debatte um M. verstummen lassen. Auch in politischer Hinsicht blieb der M. weniger folgenreich als zu Beginn erwartet. In den meisten europäischen Ländern, mit Ausnahme von Großbritannien und den Niederlanden, wurde bzw. wird offiziell keine M.-Politik betrieben. Möglicherweise entscheidender für die Krise bzw. Kritik des M. waren aber die empirisch wie theoretisch inspirierten Debatten um Kultur und kulturelle Identität, die angesichts der hybriden Lebensrealitäten in Migrationsgesellschaften den Begriff der Multikultur durch den Begriff der Inter- bzw. Transkultur ersetzten. Nichtsdestotrotz besteht bis heute das Dilemma, wissenschaftlich auf die Vermischung und Durchlässigkeit von Kultur hinzuweisen, im alltagsweltlichen wie politischen Bemühen zur Überwindung der Benachteiligung von Minderheiten aber häufig auf essentialistische Konzepte von Kultur zurückgreifen zu müssen.

II. Multikulturalismus im demokratischen Staat

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M. ist eine theoriegeleitete Strategie zur Integration kulturell bzw. ethnisch heterogener Gesellschaften. Dabei soll Differenz nicht durch rechtsgleiche Staatsbürgerschaft und die Assimilierung an eine gemeinsame nationale Identität überwunden werden. Vielmehr zielt M. auf die Bewahrung von Vielfalt und friedlichem Zusammenleben kultureller Gruppen durch Anerkennung ihrer Besonderheit sowie durch spezielle Ressourcen zur Bewahrung ihrer Koexistenz. Aus politikwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, was M. zumal innerhalb eines demokratischen Staates bedeutet, denn Privilegien und eine dauerhafte Wahrung von Differenz sind mit dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz nicht ohne Weiteres vereinbar.

1. Gleicher Zugang zu Recht und Staatsbürgerschaft

Entstanden ist der heute sehr variantenreiche Ansatz des M. um 1970 in Kanada. Die Provinz Quebec erhielt damals weitgehende Selbstverwaltungsrechte, um die kulturelle Identität ihrer überwiegend frankophonen Bevölkerung vor dem Assimilierungsdruck der anglophonen Mehrheit im Gesamtstaat zu schützen. Die dafür wichtige „Charta der französischen Sprache“ Quebecs privilegiert etwa das Französische vor dem Englischen im öffentlichen Bereich, einschließlich des Vorbehalts englischsprachigen Unterrichts für Kinder anglophoner Eltern. Diese Maßnahme ist umstritten, da sie Kindern frankophoner und anglophoner Eltern eine freie Wahl verwehrt. Radikale Multikulturalisten wie Charles Taylor erachten derartige Eingriffe in die Freiheitsrechte der Mitglieder aber für zulässig, falls nur so das Aussterben einer Kultur verhindert werden kann: Kultur sei nämlich für die Identitätsbildung des Einzelnen und für die Lebensweise von Gesellschaften unverzichtbar. Liberale Multikulturalisten wie Will Kymlicka beharren dagegen auf einem Vorrang individueller Freiheit vor dem Existenzerhalt einer Kultur. Autonomierechte (Autonomie) dürften sich also nur gegen Assimilierungsdruck von außen wenden, doch die persönliche Freiheit nicht beschneiden.

Autonomierechte werden im M. in der Regel nur für solche nationalen Minderheiten erwogen, die im Zuge der Staatsgründung oder durch Kolonialisierung entstanden sind. Migranten (Migration) sollen sich hingegen auf der Basis strikter Rechtgleichheit in eine multikulturelle Identität integrieren, die weitgehend auf der Schnittmenge zusammentreffender Kulturen basiert. Als Anreize zur Integration gelten dabei ein liberales Einbürgerungsrecht sowie die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaft. Beides soll Migranten befähigen, ihr kulturelles Erbe zu bewahren, während eine damit einhergehende Integrationspflicht die Bildung von Parallelgesellschaften verhindern soll.

Zur Integrationsstrategie des M. gehören auch erweiterte kulturelle Grundrechte, darunter individuelle Anspruchsrechte auf eine Achtung kultureller Identität, auf Bildung, Kommunikation in der eigenen Sprache oder auf Medienzugang u. ä. Hinzu kommen Gesetze zum Schutz vor direkter und struktureller Benachteiligung insb. im Bildungswesen, dgl. auf dem Arbeitsmarkt. W. Kymlicka erwägt auch positive Diskriminierungsmaßnahmen durch Quoten, durch Ausnahmeregelungen bei der Schulpflicht oder bei Bekleidungsvorschriften. Dadurch sollen Nachteile ausgeglichen werden, welche kulturelle und ethnische Minderheiten durch eine „differenzblinde“ (Taylor 1993: 35) Anwendung allgemeinen Rechts erleiden könnten. Und selbst Menschenrechte, die universelle Geltung beanspruchen, werden von Vertretern des M. inzwischen auf mögliche hegemoniale, eurozentristische oder leitkulturelle Prägungen untersucht.

2. Anpassungsbedarf des demokratischen Systems

Kulturelle Vielfalt ist mit demokratischer Gleichheit, mit dem Mehrheitsprinzip und mit der Logik politischer Repräsentation nicht ohne Weiteres vereinbar. Machtstreuung soll dominante Gruppen an einer kompromisslosen Durchsetzung ihrer Positionen hindern, etwa mithilfe eines föderalen Systems (Föderalismus) und starker kommunaler Selbstverwaltung. Das Verhältniswahlrecht, der Verzicht auf Sperrklauseln und breite Oppositionsrechte begünstigen obendrein die Entstehung eines Mehrparteiensystems. Dennoch ist eine politische Repräsentation kultureller Gruppen schwer herzustellen, sofern diese nicht über zentrale Strukturen und legitimierte Vertreter verfügen. Neuere Ansätze des M. betonen zudem, dass Kulturen nicht klar voneinander abgrenzbar wären und eine Interessenidentität zwischen Individuen und ihrer Herkunftskultur angesichts der Rollenvielfalt (Soziale Rolle) des Menschen in modernen Gesellschaften nicht unterstellt werden könne. Deshalb bedürfe es erst einmal der Klärung, auf welcher Legitimationsgrundlage und in welcher Form kulturelle Gruppen in das demokratische Repräsentativsystem eingebunden werden können. Dabei ist die Formierung einzelner Parteien entlang der Konfliktlinie „Kulturzugehörigkeit“ durchaus denkbar, deren Bedeutung angesichts der dominanten Konfliktlinie „Arbeit – Kapital“ aber fraglich.

Diskutiert werden im M. auch alternative Beteiligungsformen, etwa im Rahmen einer deliberativen Demokratie. Diese setzt die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigtem Gesprächspartner voraus und erscheint deshalb für den M. bes. anschlussfähig. Zur Verwirklichung eines gleichberechtigten demokratischen Dialogs müsse allerdings erst ein generelles Problem politischer Partizipation überwunden werden: jene soziale Selektivität und Bildungsabhängigkeit, die sich bei Migranten bes. zeigt. Darüber hinaus ist strittig, wie offen und mit welchem Ziel ein Diskurs zwischen kulturellen Gruppen geführt werden kann. Ein demokratischer Diskurs ist nur möglich, wenn Kulturen nicht als abgeschlossene, sondern als wandelbare Sinnentwürfe begriffen werden. Zudem darf die wechselseitige Anerkennung als gleichberechtigt nicht per se als Gleichwertigkeit verstanden werden, da sonst Praktiken wie Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat nicht kritisch thematisiert werden könnten. Insoferm ist M. im demokratischen Staat eine nur bedingt umsetzbare Gestaltungsidee.