Humankapital
1. Definition
Der Begriff H. (auch: Humanvermögen) beschreibt die Summe des Wissens, der Fähigkeiten und der Kompetenzen von Menschen, die diese im Lauf ihres Lebens entwickelt haben. Dieser H.-Bestand kann vom Einzelnen für sich oder für andere produktiv genutzt werden. Der H.-Bestand kann auch für Gruppen von Menschen ermittelt werden, z. B. für Länder oder Unternehmen. Einzelne Menschen können ebenso wie Arbeitgeber und die Gesellschaft in den H.-Bestand investieren, um so das produktive Potenzial zu erhöhen.
Die Verwendung des Begriffs ist oft mit der Interpretation verbunden, dass Menschen allein auf ihren ökonomischen Wert reduziert werden; mit dieser Begründung wurde das Sozialkapital im Jahr 2004 zum Unwort des Jahres in Deutschland gewählt. Die Gefahr einer solchen missverständlichen Engführung des Begriffs war schon Gary Stanley Becker (1993) bei der Wahl des Titels seines Buches „Human Capital“ bewusst. Er wählte daher einen sehr langen, erläuternden und klarstellenden Untertitel: „A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education“.
2. Ursprünge/Grundlagen
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des H.s begann in den 1960er Jahren. Ursächlich war eine reale Erklärungslücke: Waren bis dahin Veränderungen des Arbeitseinkommens theoretisch in erster Linie auf Veränderungen des Sachkapitalbestands zurückgeführt worden, so zeigte sich nun empirisch, dass das Wachstum des Sachkapitals in vielen Ländern nur einen geringen Teil der beobachtbaren Einkommensentwicklung erklären konnte. Mit den grundlegenden Arbeiten von Theodore William Schultz und G. S. Becker rückten die individuellen Fähigkeiten und Talente eines Menschen, die zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen genutzt werden können, in den Mittelpunkt der sich neu entwickelnden H.-Forschung. Deren wesentliche theoretische Erkenntnis besteht insb. darin, dass Bildung nicht allein als Konsumgut betrachtet werden sollte, das kurzfristigen Nutzen stiftet. Vielmehr ist Bildung eine Investition, die langfristige Erträge, insb. in Form von Arbeitseinkommen, generiert. Diese Erkenntnis entfaltet bis heute eine hohe gesellschafts- und wirtschaftspolitische Wirksamkeit.
3. Anwendungsgebiete
3.1 Mikroökonomische Anwendungen
Im Bereich der mikroökonomischen Anwendungen geht es um die Entstehung und Entwertung von H. sowie um die Anreize in H. zu investieren.
Aus Sicht des Einzelnen sind sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Kompetenzen (sprich sein H.-Bestand) die Basis für die Erzielung eines Arbeitseinkommens. Hier wird die Analogie des H.-Begriffs zu den traditionellen ökonomischen Kapitalbestandteilen deutlich: Während mit dem Begriff Kapital jeweils eine Bestandsgröße beschrieben wird, stellen die daraus abgeleiteten Stromgrößen die Einkommensbestandteile der jeweiligen Kapitaleigentümer dar.
Empirisch zeigt sich, dass ein höherer Bestand an H. ceteris paribus – also unter sonst gleichen Bedingungen – mit einem höheren Arbeitseinkommen verbunden ist. Daraus ergibt sich, dass Investitionen in den individuellen H.-Bestand das erwartete Arbeitseinkommen erhöhen, während Entwertungen (technisch: Abschreibungen) von H. zu einem niedrigeren erwarteten Einkommen führen. Bestandserhöhende Investitionen in H. können insb. durch (Schul-)Bildung, durch berufliche Aus- und Weiterbildung aber auch durch die Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen und -leistungen erfolgen. Gesundheit ist – so gesehen – eine wichtige Voraussetzung für den produktiven Einsatz von Bildung und Wissen. In Analogie zum H. hat sich in der Gesundheitsökonomik daher der Begriff des Gesundheitskapitals etabliert, der verdeutlicht, dass die eigene Gesundheit nicht nur konsumiert werden kann, sondern einen Vermögensbestand darstellt, in den investiert werden kann. Reduzierungen von H.-Beständen sind z. B. auf Nicht-Nutzung infolge von (Langzeit-) Arbeitslosigkeit zurückzuführen. So können etwa Menschen, die in der „Vor-Digitalisierungswelt“ ausgebildet und arbeitslos wurden, ihr damals erlerntes Wissen in den neuen, durch sog.e Digitalisierung veränderten Arbeitsprozessen nicht mehr sinnvoll nutzen.
Der H.-Bestand einzelner Menschen führt nicht nur zu einem höheren Arbeitseinkommen; er verursacht oft auch positive externe Effekte für Arbeitgeber und die Gesellschaft. Sowohl aus individueller als auch aus gesellschaftlicher Perspektive sind daher politische Maßnahmen, die Investitionen in H. fördern, ebenso sinnvoll wie solche zur Vermeidung von Bestandsentwertungen. Typische Spielregeln, die vom Staat gesetzt werden, um den H.-Bestand seiner Bevölkerung zu erhöhen oder zu erhalten, sind die Einführung einer Schulpflicht (auch um Chancengerechtigkeit [ Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit ] für den Start in das Berufsleben herzustellen), die finanzielle Förderung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen (um damit verbundene positive externe Effekte für die Gesellschaft zu generieren) sowie staatliche Wiedereingliederungsprogramme für Langzeitarbeitslose, um diese wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
3.2 Makroökonomische Anwendungen
Die makroökonomischen Anwendungen beziehen sich in erster Linie auf die Wirkungen und gesamtwirtschaftlichen Effekte des H.s. Das H. spielt dabei eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der moderneren Wachstumstheorie. Der Rückgriff auf den H.-Bestand einer Volkswirtschaft war einer der ersten Versuche, die „Erklärungslücke“ zu füllen, die bei der Analyse des gesamtwirtschaftlichen Wachstums (Wirtschaftswachstum) nach Berücksichtigung des Sachkapitalbestands verblieb. Das H. wurde als komplementär zum Sachkapital angesehen: Nur wenn die Menschen in der Lage sind, aufgrund ihrer Ausbildung (H.) die vorhandenen technischen Möglichkeiten (Sachkapital) richtig zu nutzen, kann das Sachkapital seine volle produktive Wirkung entfalten. Nicholas Gregory Mankiw, David Romer, David N. Weil erweiterten daher das sog.e Solow-Modell, das allein den Sachkapitalbestand zur Erklärung von Wachstum heranzieht, um den H.-Bestand als Wachstumsdeterminante. Während der H.-Bestand zunächst als exogene Größe in die Modelle einging, erklärten spätere Wachstumsmodelle das H. aus dem Modell heraus (endogen). Diese Modelle unterstellen, dass ein Wachstum der Bevölkerung auch mit technischem Fortschritt einhergeht. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle Digitalisierung. Um gute (Arbeitsmarkt-)Chancen für ihre Kinder zu sichern, ist es dann für Eltern sinnvoll, in das H. ihrer Kinder zu investieren, d. h. sie (länger) zur Schule zu schicken oder ihnen ein Studium zu ermöglichen. Diese bessere Ausbildung erhöht das H. Aus der Komplementarität von H. und Sachkapital heraus entsteht so zusätzliches Wachstum, das wiederum Investitionen in H. auslöst.
4. Aktuelle Entwicklungen
4.1 Empirische Erfassung
Neben der Weiterentwicklung des theoretischen Konzepts geht es in den letzten Jahren insb. darum, H.-Bestände (vorwiegend auf Länderebene) zu quantifizieren. Empirische Messungen des H.-Bestandes greifen dazu auf unterschiedliche Indikatoren zurück. In inputorientierten Ansätzen werden die Schuljahre herangezogen, die Menschen in unterschiedlichen Ländern im Durchschnitt absolvieren. Während dieser Indikator relativ leicht messbar ist und auf eine Mengenkomponente (Jahre) abzielt, erfasst ein anderer inputorientierter Indikator Wertgrößen. Da der Wert des H.s nicht unmittelbar gemessen werden kann, wird auf Näherungsgrößen (Proxy) zurückgegriffen. Dazu werden die Ausgaben für Bildung (und auch für Gesundheit) verwendet. Outputorientierte Konzepte messen den Erfolg des H.-Bestandes anhand der durchschnittlichen Arbeitseinkommen in einem Land. Daten zum so gemessenen H.-Bestand auf Länderebene finden sich z. B. im H.-Report des Weltwirtschaftsforums in Davos sowie im HDI, der von der UNO veröffentlicht wird.
4.2 Erweiterung um Sozialkapital
In den letzten Jahrzehnten hat sich eine weitere Ausdifferenzierung des H.-Begriffs ergeben. Zusätzlich wird heute auch das sog.e Sozialkapital als Determinante der wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet. In Analogie zur Komplementarität von H., im Sinn eines Wissens über den Umgang mit Technik und dem dazugehörigen Sachkapital, lässt sich Sozialkapital definieren als die Kenntnis von Menschen im Umgang mit Institutionen, d. h. den Spielregeln für soziale Interaktionen. Insb. die Erfahrungen mit der Transformation der postsozialistischen Länder in Mittel- und Osteuropa haben gezeigt, dass allein die Einführung eines marktwirtschaftlichen Institutionensets nicht ausreicht, um eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu induzieren. So wurden bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zwar die westdeutschen Gesetze auf die neuen Bundesländer übertragen und damit das Privateigentum zum Standard, das allein reichte aber nicht, um direkt „blühende Landschaften“ entstehen zu lassen. Die Menschen benötigen Kenntnisse über und Erfahrungen im Umgang mit den neuen formalen Institutionen, damit sich deren potentiell produktive Wirkung auch wirklich entfalten kann (Institutionenökonomik).
Literatur
C. Goldin: Human Capital, in: C. Diebolt/M. Haupert (Hg.): Handbook of Cliometrics, 2016, 55–86 • G. S. Becker: Human capital, 1993 • J. S. Coleman: Social Capital in the Creation of Human Capital, in: AJS 94/Supplement (1988), 95–120 • G. N. Mankiw/D. Romer/D. N. Weil: A contribution to the empirics of economic growth, in: QJE 107/2 (1988), 407–437 • M. Grossman: On the Concept of Health Capital and the Demand for Health, in: JPE 80/2 (1972), 223–255 • T. W. Schultz: The economic value of education, 1963.
Empfohlene Zitierweise
D. Sauerland: Humankapital, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Humankapital (abgerufen: 24.11.2024)