Republik
1. Ein politischer Schlüsselbegriff
R. ist ein politischer Schlüsselbegriff, der in der Staatslehre und Staatspraxis seit der Antike vielfältige Bedeutungen angenommen hat. Geprägt durch die europäische Tradition, ist der Begriff heute weltweit in Gebrauch. Er bezeichnet eine bestimmte Staats- und Regierungsform oder ganz allg. den Staat ohne Rücksicht auf seine Verfassung. Er kann eine nur staatsorganisatorische oder auch eine staatsethische Konzeption verkörpern. Staaten der unterschiedlichsten politischen Lager und Verfassungssysteme führen „R.“ als Bestandteil ihres Namens: BRD, Französische R., R. Tschad, VR China, vormals die UdSSR, die DDR.
Der Begriff „R.“ gehört seit den richtungweisenden amerikanischen und französischen Verfassungen des 18. Jh. zum Vokabular der Verfassungsgesetze. Er dient ähnlich wie jener der Demokratie oder des Rechtsstaats zur Selbstcharakteristik des Verfassungsstaats: als „einheitliche und unteilbare Republik“ (Art. 1 Französische Verfassung von 1793), als „demokratische Republik“ (Art. 1 B-VG von 1920 [idF von 1929]), als „souveräne, sozialistische, säkulare, demokratische Republik“ (Präambel der Indischen Verfassung von 1950), schlicht als „Republik“ (Art. 1 WRV von 1919) oder – deutsches Synonym – als Freistaat (Art. 1 BayVerf von 1946, Art. 1 SächsVerf von 1992 und Art. 44 Abs. 1 S. 1 der Verfassung des Freistaates Thüringen von 1993). Bundesstaatliche Verfassungen wie die der USA von 1787 gewährleisten in den Gliedstaaten „a Republican Form of Government“ (Art. 4 Abs. 4 US Constitution) oder die des Deutschen Reiches von 1919 „eine freistaatliche Verfassung“ (Art. 17 Abs. 1 WRV; ähnliche Homogenitätsklauseln in Art. 6 Abs. 2 a) der Schweizer Bundesverfassung und in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Was „R.“ rechtspraktisch bedeutet, kann nur aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden.
2. Die negative Bedeutung: Nicht-Monarchie
Im heute üblichen Verständnis ist eine R. ein Staat, der nicht als (Erb-)Monarchie verfasst ist. R. gilt damit als Staatsform, die allein durch ein negatives Merkmal, das Fehlen eines erblichen Staatsoberhauptes, bestimmt wird. Die Wahlmonarchie (einziges Beispiel in der heutigen Staatenwelt: Malaysia) hat jedenfalls republikanische Komponenten: Wahl des Staatsoberhauptes auf Zeit. Als „R.“ firmieren Demokratien wie Diktaturen, Rechtsstaaten wie Willkürherrschaften, liberale wie sozialistische, säkulare wie theokratische Systeme (Theokratie). Politische Unterscheidungskraft erhält R. nur durch Beiwörter wie „Volks-R.“ (Volksdemokratie), „Räte-R.“ (Rätesystem) oder „Islamische R.“.
Seit der Französischen Revolution war R. in Kontinentaleuropa ein politischer Kampfbegriff wider das dynastische Prinzip. In Übersee wurde die R. Ausdruck der staatlichen Unabhängigkeit einstiger Kolonien gegenüber der Krone ihrer europäischen Mutterländer. Das gilt für die jungen anglo- und lateinamerikanischen Staaten des 18. und 19. Jh., zuletzt für die dekolonisierten Länder des Britischen Empire im 20. Jh. (Indien, Südafrika). Doch die Absage an die Monarchie hat heute ihre politische Bedeutung weitgehend verloren, nachdem die meisten Dynastien gestürzt oder in demokratische Verfassungen integriert sind und neue Verfassungsgegensätze der Staaten die politischen Fronten markieren.
Die Absage an die Monarchie hat sich in Verfassungsgesetzen niedergeschlagen. Der antidynastische Affekt ist spürbar im österreichischen B-VG, das unter Durchbrechung des Gleichheitssatzes Mitgliedern regierender Häuser oder solcher Familien, die ehemals regiert haben, die Wählbarkeit zum Bundespräsidenten abspricht (Art. 60 Abs. 3) und das den Gesetzen von 1919 über die Landesverweisung des Hauses Habsburg-Lothringen sowie über die Aufhebung des Adels den Rang von förmlichen Verfassungsgesetzen zuspricht (Art. 149 Abs. 1).
Die negative Sicht der R. als Nicht-Monarchie herrscht noch heute vor bei der Auslegung der deutschen, österreichischen und schweizerischen Verfassungen. Als Ausdruck der R. gilt hier der Status des Bundespräsidenten als des auf Zeit gewählten (politisch weitgehend entmachteten) Staatsoberhauptes. Im Übrigen aber hat das Verfassungsprinzip der R. in dem Maße an rechtlicher Aktualität verloren, in dem das historische Feindbild verblasst ist. Das negativ gedeutete Prinzip der R. hat sich durch Vollzug im Wesentlichen erledigt und damit den substantiellen Gleichrang mit den übrigen Staatsstrukturbestimmungen der Verfassung (parlamentarische Demokratie, sozialer Rechtsstaat) eingebüßt.
Der negative Staatsformbegriff der R. wandelt sich zum allg.en verfassungsindifferenten, inhaltsleeren Ersatzwort für „Staat“. Heute regen sich aber Bestrebungen, den R.-Begriff durch Rückbesinnung auf seine älteren, immer noch latent wirksamen Sinngehalte zu erneuern.
3. Begriffsgeschichte
3.1 Res publica: ethisches Staatskonzept
R. geht sprachlich zurück auf res publica. Das lateinische Wort bezeichnet in seinem urspr.en Sinn den Staat als den Inbegriff der gemeinsamen Belange der Bürger im Unterschied zu deren Sonderinteressen (res privatae).
Cicero definiert res publica als die Sache des Volkes (res populi); als Volk aber gilt ihm nicht jede beliebige Gruppe von Menschen, sondern nur jene Einheit, die auf der gemeinsamen Anerkennung des Rechts und auf gemeinsamen Interessen gründet. Res publica stellt ab auf das Ethos der Herrschaft, nicht auf deren Inhaber. Sie hält sich allen legitimen Staatsformen des klassischen Kanons offen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie). Auch das Rom der Cäsaren verstand sich als res publica. Keine res publica ist dagegen ein Machtsystem, das dem Eigennutz der Herrschenden dient, das nicht von der Idee der Gerechtigkeit geleitet und durch Gesetze gebunden ist. Zur res publica gehören die Idee des Amtes, die ausschließliche Ausrichtung der Amtsträger am Wohl der Allgemeinheit und der Ausschluss von Partikularinteressen aus der Amtsführung, aber auch die politische Tugend (virtus) der Bürger im Dienste des Vaterlandes (patria).
Augustinus deutet res publica in einen ethisch indifferenten, deskriptiven Staatsbegriff um, der allein auf die Interessengemeinschaft des Volkes, nicht zugl. auch auf den Rechtskonsens abstellt. In dieser Sicht steht der Staatsbegriff auch den heidnischen Völkern offen, welche die wahre Gerechtigkeit Christi nicht kennen. Selbst eine ungerechte Herrschaftsordnung kann nunmehr res publica sein. Dennoch bleibt das staatsethische Konzept das Mittelalter hindurch lebendig bis hin zu Jean Bodin. Es reichert sich in der Aristoteles-Rezeption mit Gehalten der griechischen politeia an. In der Juristensprache des Mittelalters nimmt es zusätzlich die staatsorganisatorische Bedeutung von Körperschaft an. Die Kirche macht sich das republikanische Prinzip des Amtes zu Eigen. R. verbindet sich mit der christlichen Staatsethik des Gemeinwohls.
3.2 Zweiteilung: Republik und Alleinherrschaft
Seit dem Spätmittelalter verengt sich res publica auf demokratisch oder aristokratisch regierte Staaten. Sie wird alleiniger Gegenbegriff zur Monarchie. Die antike Dreiteilung der Staatsformen geht über in die Zweiteilung von Alleinherrschaft und R., indes die alte Bedeutung von res publica sich im Laufe der Neuzeit auf das Wort „Staat“ (lateinisch status, italienisch stato) verlagert. Die Neubestimmung der R. ist schon in der Schule Thomas von Aquin nachweisbar (Ptolomäus von Lucca). Niccolò Machiavelli greift die Zweiteilung von principato (regno) und republica auf; er gilt in der historischen Legende fälschlich als deren Erfinder. Für das Gemeinwohl, so N. Machiavelli, werde nur in R.en gesorgt.
In der Zeit vom 16. zum 18. Jh. entwickelt sich R. vom deskriptiven Staatsformbegriff zum politischen Ideal. Mit diesem verbinden sich staatsethische und staatsorganisatorische Programme von Bürgerfreiheit, Bürgertugend und Gemeinwohl. Geschichtliches Leitbild wird die altrömische R. Zeitgenössische Anschauung vermitteln die deutschen Reichsstädte, die R. Venedig, die Schweiz und die Niederlande, aber auch Oliver Cromwells „Commonwealth of England“. Charles de Montesquieu stellt den Staatsformen der R. und der Monarchie eine dritte an die Seite: die Despotie als die Perversion der Monarchie. Das politisch bewegende Prinzip der Despotie sei die Furcht, das der Monarchie der Ehrgeiz, das der R. die Tugend; diese verstanden als (politische) Bürgertugend (vertu). Republikanische Tugend verlange spartanische Einfachheit, Sittenstrenge, Gemeinsinn, Opferbereitschaft, Liebe zum Vaterland und zu den Gesetzen. Die Französische Revolution, die im Namen der Tugend auftritt, desavouiert nachhaltig das Wort und die Sache.
4. Verfassungsstaat
In der R., wie sie das 18. Jh. versteht, ergibt sich die staatliche Entscheidung nicht aus dem natürlichen Willen eines Alleinherrschers, sondern aus den Bekundungen einer Mehrzahl von Herrschaftsberechtigten, die auf den künstlichen Wegen des Verfahrens zur Entscheidung finden und sich dabei vor den Geboten der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls, der Rationalität und Zweckmäßigkeit rechtfertigen müssen. R. wird im 18. Jh. bei Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant zur Chiffre des Verfassungsstaates, in dem die Gesetze herrschen, nicht menschliche Willkür. Als das eigentliche Gegenbild zur R. zeigt sich nun die Despotie, dagegen nicht mehr die Monarchie. Mit der R. verbinden sich die verfassungsstaatlichen Prinzipien der Gewaltenteilung, der Repräsentation, des Parlamentarismus, der bürgerlichen Freiheit. Bei den Beratungen der amerikanischen Bundesverfassung von 1787 erscheinen „R.“ und „Demokratie“ als politische Gegensätze, „R.“ verstanden als repräsentative, „Demokratie“ als unmittelbare Volksherrschaft. Die Kontroverse lebt in den Namen der „republikanischen“ und der „demokratischen“ Partei der USA weiter. Auch für I. Kant bildet die „wahre Republik“ (Kant 1914: 341) das Repräsentationssystem, im Widerspruch zu der (auf ihre unmittelbare Erscheinung reduzierten) „Demokratie“.
Im 19. Jh. gehen die verfassungsstaatlichen Gehalte der R. auf die konkreteren Begriffe Demokratie und Rechtsstaat über. Dem ausgezehrten Begriff verbleibt nur noch die Bedeutung von Nicht-Monarchie.
5. Lebendige republikanische Tradition
Auch heute erschöpft sich R. nicht in ihrer negativen Bedeutung. Sie hat positiven Sinn behalten: als Zeichen für die republikanische Tradition Europas, in welcher der Verfassungsstaat steht: res publica perennis. Sie weist über den „modernen Staat“ der Neuzeit hinaus auf das staatsethische Kontinuum des Christentums und der Antike. R. ist das Gemeinwesen (res publica), das durch das Gemeinwohl (res populi) konstituiert wird. Sie umschließt nicht nur die rechtlichen Institutionen des Verfassungsstaates, sondern auch deren ethisches Ziel und deren ethische Voraussetzungen. Was der Rechtsstaat mit seinen freiheitswahrenden rechtlichen Vorkehrungen trennt, fügt das verfassungstheoretische Prinzip der R. wieder zur Sinn- und Verantwortungseinheit zusammen: Staat und Gesellschaft, Herrschaft und Freiheit.
Die Demokratie, als Staats- und Regierungsform Herrschaft durch das Volk, weist sich in ihrer republikanischen Dimension als Herrschaft für das Volk aus. Volkssouveränität bedarf der republikanischen Ämterordnung als Medium treuhänderischer Ausübung der Staatsgewalt im Dienste der Allgemeinheit. Nur über republikanisches Amtsethos kann Mehrheitsherrschaft für die Minderheit legitim und demokratische Repräsentation wirksam werden. Die Verfassung appelliert daher an das Amtsgewissen der rechtlich unabhängigen Abgeordneten, ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit „Vertreter des ganzen Volkes“ zu sein (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), und fordert den Amtseid (Eid) des Präsidenten, des Kanzlers und der Minister auf das Wohl des Volkes (Art. 56, 64 Abs. 2 GG). Wer, gleich ob weisungsgebunden oder weisungsfrei, staatliche Macht ausübt, unterliegt dem Prinzip des Amtes, das über die Beachtung des Rechts hinaus die ethische Ausrichtung auf das Wohl der Allgemeinheit, Abstinenz von Eigennutz und Partikularinteresse fordert. Das Gemeinwohl ist aber in erster Linie das Werk freier Bürger selbst. Ihrer Freiheit korrespondiert die metarechtliche Erwartung eines republikanischen Bürgerethos: des gemeinwohlgerechten Freiheitsgebrauchs, der Bürgeraktivität wie der Bürgerverantwortung, des freien Rechtsgehorsams, der Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenlebens und der Bereitschaft, die Sache des Gemeinwesens zur eigenen Sache zu machen.
Literatur
K. Gräfin von Schlieffen (Hg.): Republik – Rechtsverhältnis – Rechtskultur, 2018 • P. Hölzing: Republikanismus, 2014 • J. Isensee: Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014 • R. Gröschner/O. W. Lembke (Hg.): Freistaatlichkeit, 2011 • E. Klein: Der republikanische Gedanke in Deutschland, in: DÖV 62/18 (2009), 741–747 • F. Wittreck: „Republik“ als verfassungsrechtliche Grundrechtsschranke?, in: G. H. Gornig u. a. (Hg.): Iustitia et Pax, 2008, 881–899 • M. Anderheiden: Gemeinwohl in Republik und Union, 2006 • R. Gröschner: Die Republik, in: HStR, Bd. 2, 32004, § 23 • W. Henke: Zum Verfassungsprinzip der Republik, in: P. Badura (Hg.): Hdb. des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, § 21 • W. Mager: Republik, in: GGB, Bd. 5, 1984, 549–651 • J. Isensee: Republik – Sinnpotential eines Begriffs, in: JZ 36/1 (1981), 1–8 • I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. 6, 1914, 203–494.
Empfohlene Zitierweise
J. Isensee: Republik, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Republik (abgerufen: 22.11.2024)