Radikalismus
1. Begriffsdeutungen
R. (lateinisch radix: die Wurzel) hat einen mehrfachen Bedeutungswandel erfahren. R. kann positiv und negativ verstanden werden. Damit sind zunächst verschiedene Richtungen aus dem 19. Jh. gemeint, die eine Ausweitung der bürgerlichen Freiheitsrechte anstrebten. Z. T. fiel R. mit dem radikalen Flügel des Liberalismus zusammen, v. a. mit dem der „Demokraten“. Friedrich Rohmer hob 1844 in seiner „Lehre von den politischen Parteien“ klar den Unterschied zwischen dem R. und dem Liberalismus hervor. Den Altersstufen der Menschen ordnete er politische Richtungen zu. So unterschied er zwischen Absolutismus (Greis), Konservatismus (Mann), Liberalismus (Jüngling) und R. (Knabe). R. war bei ihm ebenso eindeutig negativ besetzt wie Absolutismus: Diesem wurde Beharrung, dem R. Kompromisslosigkeit und Gleichmacherei vorgeworfen.
Galt R. seinerzeit noch als eine „Spielart des Liberalismus“ (Wende 1984: 119), so wurden später sozialistische Kräfte, die die herrschende Gesellschaftsordnung in Frage stellten, mit diesem Begriff charakterisiert. Sozialistische Theoretiker gaben dem bürgerlichen R. nur eine Zukunft, wenn er sich dem proletarischen annähere. Seine Aufgabe bestünde darin, mittels Reformen den Weg für den Sozialismus zu bereiten. So hat Eduard Bernstein die Bedeutung dieses R. beschrieben. Zur Kennzeichnung der unterschiedlichen Strömungen in der Arbeiterbewegung wurde zwischen einem „revisionistischen“ (E. Bernstein) bzw. „reformistischen“ (Karl Kautsky) und einem „radikalen“ Flügel (Rosa Luxemburg) unterschieden. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Terminus „radikal“ für die KPD durch. Immer noch war der Begriff ausschließlich auf die politische Linke bezogen. Dies änderte sich erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus, den seine Gegner ebenfalls als „radikal“ einstuften. R. war also eine politische Richtung, die das „System“ bekämpfte – sei es von links, sei es von rechts. In diesem Sinne fordert das Zentrum bei den Reichstagswahlen 1930: „Keine Stimme dem Radikalismus“.
Diese Konnotation blieb nach 1945 im Zuge der Erfahrung mit dem Totalitarismus bestehen. Als Links-R. firmierte eine kommunistische Strömung (Kommunismus) mit einem übersteigerten Gleichheitsbegriff, für den alles gesellschaftliche Unheil im Privatbesitz an Produktionsmitteln liegt, als Rechts-R. eine Position, die sich von Nationalismus oder von Rassismus leiten ließ und damit das Gleichheitsprinzip negiert. R., i. S. v. Anti-Demokratie, war rein pejorativ besetzt. Mit der 68-Bewegung trat ein nachhaltiger Wandel ein. Die 68-er (Studentenbewegungen) verstanden sich als „radikal“. Die Gesellschaft sollte von Grund auf umgestaltet, jedoch nicht zerstört werden. Dieser Aufwertung des Begriffs R. trugen die Sicherheitsbehörden insofern Rechnung, als von 1974 an antidemokratische Strömungen in den Verfassungsschutzberichten (Verfassungsschutz) nicht mehr als rechts- oder linksradikal galten, sondern als rechts- oder linksextremistisch. Der Begriff des Extremismus löste den des R. damit ab, bezogen auf die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates.
Gleichwohl ist die Deutung des R. als antidemokratisch im Alltag nicht verschwunden, wenn etwa von „rechtsradikal“ oder „linksradikal“ gesprochen wird. Auch der Begriff „Radikalenerlass“ für den Beschluss der Ministerpräsidenten vom 28.1.1972, Extremisten aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten, ist dafür ein Beleg. Manche verwenden R. für Phänomene, die sich weder als demokratisch noch als extremistisch einordnen lassen. Mehrheitlich wird heute unter R. allerdings eine Position verstanden, die zwar etablierten Kräften den Kampf ansagt, jedoch nicht dem demokratischen Verfassungsstaat. Insofern ist R. ein Terminus zur Selbstverständigung, der also auch als Eigenbezeichnung dient, im Gegensatz zu dem des Extremismus.
Der oft gebrauchte Begriff „Radikaldemokratie“ wird unterschiedlich aufgefasst. Wer sich für eine Radikaldemokratie ausspricht, will die Demokratie, verstanden v. a. als Volkssouveränität, radikal verwirklichen. Kritiker dagegen sehen darin keine positive Konnotation, sondern eine Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates. Für den Marxismus-Leninismus ist der linke R. eine „Kinderkrankheit des Kommunismus“ (Lenin 1920). Wladimir Iljitsch Lenin wollte sich mit dieser Kennzeichnung von Kräften abheben, die ihm aufgrund ihrer revolutionären Rhetorik schaden könnten. Individueller Terror firmiert aus dieser Sicht als eine Form des linken R. Die Bourgeoisie erhalte Vorwände, den „Klassenfeind“ zu bekämpfen.
2. Radikalisierung
Radikalisierung darf nicht mit R. verwechselt werden. Sie meint die Hinwendung zu Extremismus und/oder zu Terrorismus. Im Zuge der Ausbreitung des gewalttätigen Dschihadismus (Islamismus; Dschihad) ist insb. nach den folgenschweren Ereignissen vom 11.9.2001 eine interdisziplinäre Forschung entstanden, die den Ursachen nachspürt. Das Zusammenspiel sozialer, politischer und persönlicher Faktoren herauszuarbeiten, ist eine schwierige Aufgabe. Verallgemeinerungen wie monokausale Erklärungsversuche verbieten sich. Meistens verläuft der Prozess der R. allmählich.
Nach dem französisch-iranischen Soziologen Farhad Khosrokhavar existieren Personen, die mit einer radikalen Ideologie sympathisieren, und ebenso Personen, die als Kriminelle Gewalt praktizieren. „Aber es gibt nur sehr wenige, die beide Dimensionen verknüpfen, um daraus ein Mittel der Selbstverwirklichung zu machen“ (Khosrokhavar 2016: 32). Auch wenn die Gruppe gering ist, so können deren Taten durch Verbreitung von Angst und Schrecken die demokratische Gesellschaft destabilisieren und möglicherweise zu Überreaktionen veranlassen. Insofern ist es notwendig, die Ursachen zu ermitteln.
Für den deutsch-britischen Terrorismusforscher Peter R. Neumann münden fünf Gründe der Radikalisierung in den Terrorismus: Frustration macht junge Leute für Terrorismus anfällig; das Bedürfnis nach Identität und Gemeinschaft trägt ebenso dazu bei; Ideologien üben faszinierende Wirkung aus; die Beeinflussung durch andere Menschen ist ein wichtiger Faktor; schließlich ruft Gewalt, etwa staatliche Repression, Gegengewalt hervor. Solche Risikofaktoren können in den Terrorismus führen, müssen es aber nicht. Da die Lebensläufe von Terroristen höchst unterschiedlich sind, ist die Gewichtung der Faktoren von Fall zu Fall verschieden. P. R. Neumann setzt stark auf Prävention in mannigfacher Form, ebenso auf Sozialpolitik. Deradikalisierungsprogramme versagen bei fanatisch Überzeugten. Sie sind eher geeignet für Extremisten, bei denen sich feste Feindbilder noch nicht herausgebildet haben. Forscher wie P. R. Neumann unterscheiden zwischen „kognitive[r] Deradikalisierung“ (Neumann 2013: 8) und „Demobilisierung“ (Neumann 2013: 8). Zielt die erste Variante auch auf die Absage an antidemokratische Ideologien, so die zweite „nur“ auf die Absage an Gewalt.
In der Forschung zur R. überwiegt die Richtung, welche die Schritte vom (gewaltlosen) Extremismus zum Terrorismus herauszufinden sucht, die andere, welche die Schritte von einer demokratischen zu einer extremistischen Position klären will. Das gilt für die Forschung zu den Ursachen ebenso wie für die zu den Therapien. Wie Interviews mit Extremisten unterschiedlicher Couleur belegen, liegt der auslösende Faktor für die Straftat oft nicht in der Ideologie. Wenn die Wissenschaft stärker die Ursachen für die Hinwendung zum Extremismus analysiert, so hat sie indirekt zugl. die für den Terrorismus gefunden. Denn fast jeder Form des Terrorismus geht Extremismus voraus. Rechtsextremismusprävention erweist sich oft erfolgreicher als Linksextremismusprävention, weil die Zahl der nicht fest in eine Ideologie eingebundenen Rechtsextremisten größer ist als die der Linksextremisten.
Literatur
L. Miliopoulos: Ursachen für politischen Extremismus, in: E. Jesse/T. Mannewitz (Hg.): Extremismusforschung, 2018, 205–243 • P. R. Neumann: Der Terror ist unter uns, 2017 • F. Khosrokhavar: Radikalisierung, 2016 • P. R. Neumann: Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus, in: APuZ 63/29–31 (2013), 3–10 • S. Malthaner/P. Waldmann (Hg.): Radikale Milieus, 2012 • S. Lützinger: Die Sicht der Anderen, 2010 • P. Waldmann: Radikalisierung in der Diaspora, 2009 • U. E. Kemmesies (Hg.): Terrorismus und Extremismus – der Zukunft auf der Spur, 2006 • U. Backes: Liberalismus und Demokratie, 2000 • P. Wende: Radikalismus, in: GGB, Bd. 5, 1984, 113–133 • H. D. Klingemann/F. U. Pappi: Politischer Radikalismus, 1972 • W. I. Lenin: Der „linke Radikalismus“ – die Kinderkrankheit im Kommunismus, 1920 • E. Bernstein: Wesen und Aussichten des bürgerlichen Radikalismus, 1915 • F. Rohmer: Friedrich Rohmer’s Lehre von den politischen Parteien. Erster Theil. Die vier Parteien, Bd. 1,1844.
Empfohlene Zitierweise
E. Jesse: Radikalismus, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Radikalismus (abgerufen: 25.11.2024)