Europäischer Binnenmarkt

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  1. I. Rechtlich
  2. II. Wirtschaftlich

I. Rechtlich

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1. Begriff

Der E. B. als Binnenmarkt der EU soll einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen (Grenze) schaffen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (sogenannte vier Grundfreiheiten; hinzu kommt die Zahlungsverkehrsfreiheit) gemäß den Bestimmungen der Verträge (EUV; AEUV; Europarecht) gewährleistet ist. Ziel des E.n B.es war und bleibt, nach den tarifären Handelshemmnissen (Zölle und Abgaben gleicher Wirkung, vgl. Art. 30 AEUV) auch die durch unterschiedliche Rechtsordnungen in den derzeit 28 (zur Erklärung Großbritanniens gemäß Art. 50 EUV, aus der EU austreten zu wollen: EU) Mitgliedstaaten für den Waren-, Personen- und Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen diesen fortbestehenden Hemmnisse abzuschaffen und das Entstehen neuer Hemmnisse zu verhindern.

2. Entwicklung

Die Grundfreiheiten waren bereits im EWG-Vertrag von 1957 vorgesehen und sollten bis zum Ablauf der Übergangszeit (31.12.1969) schrittweise verwirklicht werden. Die Zollunion (Abschaffung der Binnenzölle und gemeinsamer Außenzoll) wurde bereits vorzeitig (1968) verwirklicht, was das große gemeinsame Interesse daran belegt. Der EuGH erklärte die Waren- und Personenverkehrsfreiheit für unmittelbar anwendbar und zu subjektiven Rechten für die jeweils Berechtigten (Warenverkehrsfreiheit für Produkte, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in Verkehr gebracht wurden; Personenverkehrsfreiheiten für Unionsbürger aufgrund wirtschaftlicher Tätigkeit sowie deren Familienangehörige). Wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (Europarecht) waren damit Diskriminierungen aufgrund der Herkunft einer Ware bzw. der Staatsangehörigkeit verboten, entsprechende nationale Vorschriften unanwendbar. Als deutlich wurde, dass der Gemeinsame Markt aber wegen der unterschiedlichen Rechtsordnungen auch durch unterschiedslose, d. h. für in- und ausländische Produkte, für Inländer und EU-Ausländer (formal) gleich geltende Vorschriften behindert werden kann (z. B. durch unterschiedliche Produktvorschriften, vgl. EuGH Rs. C-120/78 – Cassis de Dijon, bzw. durch unterschiedliche Qualifikationsanforderungen für Berufe, vgl. EuGH Rs. C-340/89 – Vlassopoulou), entschied der EuGH, dass die Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungsverbote, sondern auch Beschränkungsverbote sind (grundlegend EuGH Rs. 8/74 – Dassonville), weshalb entsprechende Maßnahmen der Rechtfertigung anhand gemeinschaftsrechtlicher Maßstäbe bedürfen. Um die dabei bestehenden Unsicherheiten zu reduzieren und die entsprechenden Entscheidungen durch den demokratisch legitimierten und politisch verantwortlichen Unionsgesetzgeber (Rat der Europäischen Union und &pfv;Europäisches Parlament) vorzunehmen, sollten die fortbestehenden Hemmnisse durch Angleichung oder Ersetzung der nationalen Rechtsordnungen durch Europäische RL oder VO (vgl. Art. 288 Abs. 2 bzw. 3 AEUV) beseitigt werden. 1985 legte die Europäische Kommission dazu ein Weißbuch zur Verwirklichung des jetzt so genannten E.n B.es vor, das die Beseitigung noch bestehender materieller Schranken (Aufhebung der Warenkontrollen und Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen), technischer Schranken (Angleichung bzw. Beseitigung handels- bzw. mobilitätshemmender nationaler Vorschriften), steuerlicher Schranken (Harmonisierung der indirekten Steuern; Angleichung der Mehrwertsteuersätze) sowie währungsbedingter Schranken (schwankende Wechselkurse) enthielt. Durch die EEA von 1986 wurden die dafür erforderlichen primärrechtlichen Grundlagen (Kompetenzgrundlagen für die Harmonisierung; Mehrheitsprinzip im Rat) geschaffen. Die Zielvorgabe der Verwirklichung des E.n B.es durch die 282 vorgesehenen Rechtsakte bis 31.12.1992 wurde weitgehend erreicht. Bereits damals zeigte sich aber, dass durch die Fortentwicklung der wirtschaftlichen Prozesse sowie der politischen Bewertungen und des darauf reagierenden Rechts die Verwirklichung und das Funktionieren des E.n B.es eine dauernde Aufgabe ist, was seit dem Vertrag von Lissabon in Art. 26 Abs. 1 AEUV zum Ausdruck kommt. Die seit der EEA bestehende Unterscheidung zwischen den parallel bestehenden Begriffen Gemeinsamer Markt und E. B. wurde durch den Vertrag von Lissabon aufgegeben. Die jetzt durchgehende Verwendung des Begriffs E. B. impliziert eine weite Begriffsbedeutung. Die jeweils erreichten Fortschritte und die nach wie vor bestehenden und auch neu entstehenden Defizite (die sich in einschlägigen Vertragsverletzungsverfahren, vgl. Art. 258 AEUV, gegen die Mitgliedstaaten zeigen) bei der Verwirklichung des E.n B.es werden in den jährlichen Gesamtberichten der EU-Kommission und im „Binnenmarktanzeiger“ dokumentiert.

Zur Erreichung des Ziels einer Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen war eine ZBJI erforderlich, die neben dem Gemeinsamen Markt erfolgte und in der EEA sowie dann im Drei-Säulen-Modell des Vertrags von Maastricht von 1992 institutionalisiert wurde. Durch den Vertrag von Amsterdam von 1997 wurden die Bereiche Asyl, Einwanderung etc. im Rahmen eines RFSR (&pfv;Europäische Innen- und Rechtspolitik) in die erste Säule (EG-Vertrag) verlagert und das Schengener Abkommen (Schengen) von 1985 zur Abschaffung der Personenkontrollen (erfasst nicht alle Mitgliedstaaten, vertraglich festgelegte Ausnahmen bestehen für Großbritannien und Irland; einbezogen sind die Schweiz und Liechtenstein) einbezogen. Der Vertrag von Lissabon hebt für die einheitliche EU die Säulenstruktur auf. Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen setzt eine funktionierende Kontrolle an den EU-Außengrenzen voraus, deren Defizite zur vorübergehenden Wiederaufnahme der Binnenkontrollen führen.

3. Systematik der Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes

Die jetzt in Art. 26 Abs. 2 AEUV aufgeführten, ursprünglich seit Gründung der EWG wegen deren Ziel einer Marktvereinheitlichung bestehenden Freiheiten werden, ohne dass die EU-Verträge diesen Begriff verwenden, wegen ihrer konstituierenden Bedeutung für die freien Verkehrsströme und den freien Wirtschaftsverkehr, wohl aber auch wegen der Begründung von Individualrechten als „Grundfreiheiten“ bezeichnet. Sie lassen sich systematisch einteilen in die Warenverkehrsfreiheit, die Personenverkehrsfreiheiten und die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Personenverkehrsfreiheiten unterscheiden zwischen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45–48 AEUV), die Tätigkeiten in abhängiger und weisungsgebundener Beschäftigung erfasst, und der Niederlassungsfreiheit, die die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten (insb. in dieser Form ausgeübte sogenannte freie Berufe sowie Handwerksberufe [ Handwerk ]) sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen umfasst (Art. 49–55 AEUV). Während die Niederlassungsfreiheit auf die dauernde Ansässigkeit in einem anderen Mitgliedstaat gerichtet ist, gewährleistet die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56–62 AEUV) die vorübergehende Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Ansässigkeit (vgl. Art. 57 Abs. 3 AEUV). Diese Unterscheidung hat Bedeutung für die Schranken der Grundfreiheiten, da vom Dienstleistenden, soll die Grundfreiheit effektiv ausgeübt werden können, nicht das verlangt werden darf, was vom Niedergelassenen hinsichtlich der Einfügung in die Rechtsordnung des Staates seiner dauernden Niederlassung gefordert werden kann. Die Dienstleistungsfreiheit ist zwar als Personenverkehrsfreiheit konzipiert, weist aber, da es zunehmend allein um die Mobilität des Produkts geht, Parallelen zur Warenverkehrsfreiheit auf, mit der es die Gruppe der Produktverkehrsfreiheiten bildet. Die Kapitalverkehrsfreiheit gewährleistet Investitionstätigkeiten jeder Art und einseitige Wertübertragungen von einem Mitgliedstaat in einen anderen und stellt im Gegensatz zu den Personenverkehrsfreiheiten nicht auf die Staatsangehörigkeit ab. Die Zahlungsverkehrsfreiheit ist eine eigenständige Grundfreiheit, zudem aber die notwendige Annexfreiheit zur effektiven Ausübung der anderen Grundfreiheiten, die ohne den freien Transfer von Gehältern, Erlösen und Gewinnen wirkungslos wären.

4. Gewährleistungen der Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes

4.1 Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote

Alle Grundfreiheiten sind Diskriminierungsverbote. Die Personenverkehrsfreiheiten verlangen die Gleichbehandlung der berechtigten Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten mit Inländern und greifen damit als bes. Bestimmungen das allgemeine Verbot jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 AEUV) auf. Erfasst werden sowohl offene als auch verdeckte Diskriminierungen, d. h. die Anknüpfung an Tatbestände, die regelmäßig nur von Inländern erfüllt werden (z. B. Sprache oder Wohnsitzerfordernis). Die Warenverkehrsfreiheit verbietet die allein an die Herkunft anknüpfende Schlechterstellung von Importprodukten gegenüber Inlandsprodukten. Da auch an sich unterschiedslose Maßnahmen wie für den Absatz im Inland generell geltende Produktvorschriften oder für die Berufstätigkeit generell geltende spezielle Qualifikationsanforderungen die Mobilität und damit das Ziel der Grundfreiheiten des E.n B.es behindern können, hat der EuGH festgestellt, dass diese nicht nur Diskriminierungsverbote, sondern Beschränkungsverbote sind. Zugleich hat er die Gründe, die Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten rechtfertigen können, im Urteil Cassis de Dijon (Rs. 120/78) und der Folge-Rspr. über die ausdrücklich in den Verträgen genannten (z. B. Art. 36 AEUV) hinaus auf alle Gemeinwohlziele (z. B. Verbraucherschutz) erweitert. Ausgenommen sind, da diese direkt gegen den E.n B. gerichtet sind, alle rein wirtschaftlich motivierten Maßnahmen. Als deutlich wurde, dass die für das Beschränkungsverbot grundlegende Dassonville-Formel (EuGH Rs. 8/74, Rdnr. 8), die alle handelsbeschränkenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen erfasste und deren Rechtfertigung forderte, zu weit war, wurde der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten auf deren eigentlichen Sinngehalt, nämlich den Marktzugang zu eröffnen, eingeschränkt (zunächst EuGH, verbunene Rs. C-267/91 und C-268/91 – Keck; fortentwickelt zum sogenannten Drei-Stufen Test: Diskriminierungsverbot – Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung/Herkunftslandprinzip – relevante Marktzugangsbeschränkung).

4.2 Subjektive Rechte der Berechtigten der Grundfreiheiten

Nach der Rspr. des EuGH sind alle Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar und begründen subjektive Rechte für die Berechtigten. Voraussetzung ist bei den herkömmlichen Grundfreiheiten der Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Dies schließt in einer den Grundrechten verpflichteten Union das Verbleiberecht nach Beendigung dieser Tätigkeit oder bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit sowie die Einbeziehung von Familienangehörigen ein.

4.3 Verpflichtete der Grundfreiheiten

Die Grundfreiheiten verpflichten in erster Linie die Mitgliedstaaten, die diese nicht ungerechtfertigt beschränken dürfen und auch zu deren Schutz verpflichtet sind. Sie sind auch von den Organen der Union bei der Rechtsetzung zu beachten. Schließlich hat der EuGH zur Gewährleistung der Effektivität und um die Beschränkung durch Private, insb. durch Verbände (z. B. des Sports), deren Maßnahmen in ihrer Wirkung solchen des Staates (Gesetze) gleichkommen können, die sogenannte Drittwirkung der Grundfreiheiten postuliert (vgl. EuGH, Rs. 415/93 – Bosman).

4.4 Schranken und Schranke-Schranken der Grundfreiheiten

Alle Grundfreiheiten wurden und werden nach wie vor durch mitgliedstaatliche Beschränkungsmaßnahmen beeinträchtigt. Diese müssen sich an den in Art. 36, Art. 45 Abs. 3, Art. 52, Art. 65 AEUV ausdrücklich verankerten oder den vom EuGH durch die Cassis-Rspr. entwickelten Rechtfertigungsgründen, die nur bei unterschiedslosen Maßnahmen eingewandt werden können, messen lassen. Dafür hat der EuGH einen vierstufigen Rechtfertigungsstandard entwickelt. Nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den AEUV garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, somit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (sogenannte Gebhard-Formel, EuGH Rs. C-55/99, Rdnr. 37). Schranken der Grundfreiheiten können sich auch aus den Grundrechten ergeben, wobei Kollisionen durch praktische Konkordanz zu lösen sind (vgl. EuGH Rs. C-112/00 – Schmidberger).

5. Die Unionsbürgerschaft als „Grundfreiheit ohne Markt“

Die durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft gibt u. a. das Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ohne wirtschaftliche Betätigung (Art. 21 AEUV), weshalb sie als „Grundfreiheit ohne Markt“ (Wollenschläger 2007) bezeichnet wurde. Ihre Tragweite als „grundlegender Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten“ (so EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk) wurde deutlich unterschätzt. In seiner neueren Rspr. hat der EuGH die im AEUV und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, die die Nutzung allein zur Erlangung von Sozialleistungen eines anderen Mitgliedstaats verhindern sollen, aktiviert (EuGH Rs. C-333/13 – Dano; Rs. C-67/14 – Alimanovic).

6. Methoden zur Herstellung des Europäischen Binnenmarktes

Die Hemmnisse für den E.n B. können durch die gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen Wertungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen oder durch deren Harmonisierung, d. h. deren Angleichung durch Europäische RL bzw. gänzliche Ersetzung durch EU-VO erfolgen. Die gegenseitige Anerkennung ist eine Folge der Dassonville- und Cassis-Rspr. des EuGH, da mitgliedstaatliche Regelungen, die die Mobilität von Produkten oder Personen aus anderen Mitgliedstaaten, die diesen nicht entsprechen, diesen nur dann entgegengehalten werden dürfen, wenn sie nach unionsrechtlichen Maßstäben gerechtfertigt sind. Um auch insoweit einheitliche Maßstäbe und das nötige gegenseitige Vertrauen zu gewinnen, wurden RL zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen (vgl. Art. 53 Abs. 1 AEUV; RL 2005/36) sowie über Dienstleistungen im Binnenmarkt (RL 2006/123 – Dienstleistungs-RL) erlassen. Dadurch sowie durch andere EU-RL werden auch die jeweiligen nationalen Rechte angeglichen. In letzter Zeit wurde eine Reihe von EU-RL durch EU-VO ersetzt, z. B. im Lebensmittelrecht (VO 1333/2008 über Zusatzstoffe; VO Nr. 1169/2011 – Lebensmittelinformations-VO).

7. Würdigung

Die Verwirklichung des freien Warenverkehrs und der Personenverkehrsfreiheiten im E.n B. ist eines der zentralen Ziele der EU (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV) und eine der sichtbarsten – und vielleicht gerade deshalb mittlerweile als selbstverständlich betrachteten – Errungenschaften der EU. Ihre Bedeutung wird offenbar, wenn mangels hinreichender Sicherung der Außengrenzen auch in den Schengen-Staaten vorübergehend Grenzkontrollen eingeführt werden. Gleiches gilt, wenn wegen des Austritts Großbritanniens aus der EU die Rechtsstellung der verbleibenden Unionsbürger in Großbritannien bzw. der britischen Staatsbürger in der EU nach dem Verlust dieses Status geregelt werden muss. Die Verhandlungen mit Großbritannien zeigen wie die bilateralen Abkommen der EU mit der Schweiz durch die sogenannte Guilottine-Klausel, dass die Grundfreiheiten miteinander verbunden sind, d. h. man die Vorteile des Binnenmarkts nicht ohne Einschränkung der politischen Gestaltungsfreiheit haben kann, der Freihandel mit der Personenverkehrsfreiheit verbunden ist. Die spezifisch ökonomische Sicht, dass die Marktfreiheiten der optimalen Allokation von wirtschaftlichen Ressourcen dienen und zu damit verbundenen Kollateralfolgen wie Betriebsverlagerungen in Mitgliedstaaten mit geringeren Löhnen, Sozialstandards, Umweltauflagen und v. a. Steuern („BEPS“, d. h. Gewinnkürzung durch Gewinnverlagerung) führen, haben zur Kritik am Binnenmarkt und am Wettbewerbsgedanken generell geführt. Dabei hatten die Personenverkehrsfreiheiten von Anfang an auch eine soziale Komponente, die zunehmend verstärkt wurde. Der E. B. ist ausdrücklich auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ (Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV) ausgerichtet, wodurch die soziale Marktwirtschaft zum spezifisch europäischen Wirtschaftsmodell erklärt wird. Um dies zu erreichen, muss ein „unverfälschter Wettbewerb“ (so noch Erwägungsgrund 4, Art. 3 f. EWGV), d. h. ein fairer Wettbewerb gesichert werden, der z. B. unfairen Steuerwettbewerb bekämpft und nicht noch durch die Grundfreiheiten des E.n B.es fördert. Dies verlangt Sicherungen durch verbindliche und effektive Regelungen (Gesetze), was z. B. bei der Liberalisierung des Kapitalverkehrs offenbar versäumt wurde. Ein Schwerpunkt der Rechtsangleichung im E.n B. ist die Stärkung der Rechte der Verbraucher einschließlich der Rechtsdurchsetzung (z. B. RL 2011/83/EU). Allerdings sind die Aktivitäten der EU in manchen Bereichen wegen eines paternalistischen Ansatzes umstritten. Wie generell, gilt es auch hier, das richtige Maß zu finden. Für die letztlich nötige Akzeptanz des Modells der EU muss der Gesamtvorteil des E.n B.es als deren Kernstück für alle deutlich werden, was durchaus Korrekturen erfordern kann. Obgleich sich manche Prognosen (z. B. Cechini-Bericht 1988) als zu optimistisch erwiesen haben und dies wohl auch für die Ziele der 2012 vom Europäischen Rat beschlossene Wachstumsstrategie für Europa (Europa 2020) gilt, war das E. B.-Projekt in der Gesamtbetrachtung eine Erfolgsgeschichte, was sich aber leider wohl erst durch Folgen der gegenwärtig zu verzeichnenden Abschottungsstrategien zeigen wird, sollten diese realisiert werden.

II. Wirtschaftlich

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1. Historische und politische Perspektive

Der E. B. hat eine historische, eine politische und nicht zuletzt eine ökonomische Dimension. Historisch hat sich der E. B. seit der EGKS (1951) über die Römischen Verträge 1957, den Vertrag von Maastricht 1992 und die Gründung einer Währungsunion bis hin zum Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2010 in vielen kleinen Schritten entwickelt. Heute ist der E. B. der weltweit größte seiner Art mit 28 Mitgliedstaaten und mehr als einer halben Mrd. Einwohner. Er ist zugleich Vorbild für Integrationsbemühungen in anderen Teilen der Welt, wie etwa in Asien und in Lateinamerika.

Die politische Dimension des E.n B.es ist eng mit der unmittelbaren Nachkriegsphase und der Gründung von EGKS und EWG verknüpft. Die Gründungsväter der europäischen Integration (Europäischer Integrationsprozess), allen voran der französische Diplomat und erste Direktor der EGKS, Jean Monnet, sahen in der wirtschaftlichen Kooperation die einzige Chance für einen dauerhaften europäischen Frieden. Die Institutionen der EGKS legten den Grundstein für den E.n B. und die Begründung supranationaler Institutionen – etwa der heutigen EZB. Im Art. 3 des AEUV wird die ausschließliche Kompetenz der EU für die Gestaltung des E.n B.es definiert. Folglich lässt sich festhalten, dass der E. B. ein gesamteuropäisches, politisches Projekt ist.

Die wirtschaftliche Dimension des E.n B.es zeichnet sich durch ein vergrößertes Handelsvolumen aus. Durch den E.n B. erhält Europa wirtschaftliche Größe und Gewicht, aber auch zunehmend weltweiten politischen Einfluss, was den Einzelstaaten so nicht möglich wäre. Der wirtschaftliche Erfolg des E.n B.es mit offenen Grenzen und den vier Grundfreiheiten ist auch der Grund dafür, dass die EU nach wie vor für neue Mitglieder attraktiv ist. Der E. B. führt im Verständnis der Handelstheorie von Jakob Viner zu sogenannten handelsschaffenden Effekten, die mögliche handelsumlenkende Effekte deutlich überwiegen. Damit ermöglicht der E. B. ein Handelsvolumen, das die Einzelstaaten bei isolierter Wirtschaftsweise so nicht realisieren könnten.

2. Die vier Grundfreiheiten

Kernpunkt der europäischen Integration und des E.n B.es sind die sogenannten vier Grundfreiheiten in Verbindung mit dem Schengener Abkommen (Schengen), das seit 1985 den schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen in Europa regelt. In der EU herrscht mit wenigen Ausnahmen ein grundsätzlich freier Verkehr für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Eigentlich müsste man als eigene Grundfreiheit darüber hinaus die Ideen- und Meinungsfreiheit aufführen, wie sie sich in der europäischen Pressefreiheit und der Kooperation und wechselseitigen Anerkennung im universitären Bereich (Bologna-Prozess) manifestiert.

2.1 Der freie Güterverkehr

Grundsätzlich gilt, dass ein Produkt, welches in einem Land der EU legal veräußert werden darf, zugleich in allen Ländern zulässig ist. Dieses sogenannte Ursprungslandprinzip ist das Kernprinzip des E.n B.es, da es nachhaltig und dauerhaft Anerkennungs- und Bürokratiekosten reduziert. Es ist zugleich Ausdruck eines gegenseitigen Vertrauens der europäischen Partner ineinander, die ein im Nachbarland gefertigtes Produkt genau so behandeln, als wäre es im Inland produziert worden.

Der EuGH hat durch viele Entscheidungen zur Entstehung des E.n B.es maßgeblich beigetragen. Das vermutlich wichtigste Urteil des EuGH betraf die Zulassung eines französischen Likörs für den deutschen Markt im sogenannten Cassis de Dijon-Urteil aus dem Jahre 1979. Die Bedeutung des freien Güterverkehrs zeigt sich auch in den Export- und Import-Statistiken der EU-Mitglieder. Die wichtigsten Handelspartner der Europäer sind deren unmittelbare Nachbarn mit einem hohen Anteil von intrasektoralem Handel: Ca. zwei Drittel des europäischen Handels ist Binnenhandel. Insgesamt kann die Warenverkehrsfreiheit bei minimalen Ausnahmen – etwa im Bereich medizinischer Produkte – als weitgehend realisiert angesehen werden.

2.2 Der freie Dienstleistungsverkehr

Das Pendant zum Güterverkehr ist der freie Dienstleistungsverkehr. Jedoch hat in allen europäischen Ländern der Dienstleistungssektor den industriellen Sektor in seiner quantitativen Bedeutung überholt. Es wird unterschieden zwischen personenbezogenen, sachbezogenen und originären Dienstleistungen. Im Prinzip kann jeder Unionsbürger frei wählen, in welchem Land er seinen Urlaub verbringen möchte, wo er sein Bankkonto eröffnen will oder welche technische Serviceberatung er in Anspruch nimmt. Dabei beruht die Dienstleistungsfreiheit ebenfalls auf dem Ursprungslandprinzip, wie sie sich für den Gütersektor als vorteilhaft und effizient erwiesen hat. Gleichwohl hat sich die Übertragung in der Europäischen Dienstleistungs-RL 2006, wie sie von EU-Kommissar Frits Bolkestein vorgeschlagen wurde, als vergleichsweise schwieriger erwiesen. Dies hat vielfältige Gründe: In manchen EU-Ländern und auch in Deutschland gibt es immer noch Tendenzen, die eigenen Handwerke vor der europäischen Konkurrenz abzuschotten. Außerdem werden bestimmte Dienstleistungen immer noch in regulierten Sektoren erbracht, wie z. B. Transportdienstleistungen im Schienennetz der Deutschen Bahn. Insgesamt besteht folglich im Dienstleistungssektor auf europäischer Ebene noch Handlungsbedarf, um das Ziel des freien Dienstleistungsverkehrs zu erreichen.

2.3 Der freie Kapitalverkehr

Der freie Kapitalverkehr ist eine von mehreren ökonomischen Voraussetzungen für einen E.n B. und für eine Währungsunion. Mit dem Vertrag von Maastricht, mit dem die Vorbereitungen für die Einführung des Euro begannen, wurden die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen und die Einführung einer Notenbankautonomie zwingend vorgeschrieben. Manche EU-Mitglieder – etwa Frankreich oder Italien – machten erstmals in ihrer Geschichte Erfahrungen mit freiem Kapitalverkehr.

Mit der gestiegenen Mobilität der EU-Bürger und Unternehmen sowie zunehmend grenzüberschreitenden Produktionszusammenhängen geht auch eine verstärkte Nutzung der Institutionen des Kapital- und Finanzmarktes einher. Der gestiegenen Effizienz der Kapitalmärkte (Geld- und Kapitalmarkt) stehen aber auch Kosten gegenüber, die sich etwa in den legalen und illegalen Möglichkeiten der Steuervermeidung ausdrücken. Außerdem zeigte sich spätestens durch die Finanzmarktkrise 2008 die dringende Notwendigkeit, zu einheitlichen Standards in der Regulierung systemrelevanter europäischer Banken zu gelangen. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen um eine Europäische Bankenunion als der Versuch zu interpretieren, die Kapitalverkehrsfreiheit mit verbesserten Sicherungsmaßnahmen zu unterstützen.

Insgesamt kann dieser Liberalisierungsbereich jedoch als weitgehend erfolgreich abgeschlossen angesehen werden. Gleichzeitig sind die europäischen Partner zur intensivierten Zusammenarbeit verpflichtet – etwa im Bereich der Besteuerung von mobilem Kapital oder bei den Vorkehrungen gegen Geldwäsche.

2.4 Der freie Personenverkehr

Der freie Personenverkehr garantiert allen EU-Bürgern, dass sie sich im europäischen Arbeitsmarkt prinzipiell frei bewegen dürfen. Ausnahmen gibt es nur wenige – etwa im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Für die neuen osteuropäischen EU-Mitglieder gab es anfänglich Übergangsfristen, um angesichts des markanten Lohngefälles zwischen den Gründungsmitgliedern der EU und den Neumitgliedern die Migrationsanreize zu reduzieren. Für Hochqualifizierte ist der freie Personenverkehr quasi schon vollständig realisiert, was u. a. auf die wechselseitige Anerkennung akademischer Abschlüsse zurückzuführen ist. Im Bereich der gering Qualifizierten bestehen allerdings noch nationale Schranken gegen die innereuropäische Zuwanderung. So hat der EuGH entschieden, dass die Nutzung von Sozialleistungen durch EU-Zuwanderer zeitlich begrenzt ist, um die Übernutzung von immer noch nationalstaatlich finanzierten Sicherungssystemen zu verhindern.

Ein bes. weitreichendes Urteil des EuGH zur Personenverkehrsfreiheit betraf den belgischen Fußballer Jean Marc Bosman 1985. Nach einer Klage von J. M. Bosman entschied das Gericht, dass es auch in den nationalen Fußball-Verbänden keine Höchstgrenzen gegen EU-Ausländer geben dürfe. Durch dieses Urteil ist ein europaweit vollkommen liberalisierter Markt für Profisportler entstanden: eine weitreichende Interpretation des freien Personenverkehrs.

3. Europäischer Binnenmarkt und Währungsunion

Ursprünglich hatten bei der Gründung der EWG 1957 noch alle Mitglieder ausdrücklich auf der Beibehaltung nationaler Währungen bestanden. Jedoch zeigten die ersten Jahre wirtschaftlicher Integration, dass sich die Währungsvielfalt zu einem entscheidenden Handelshemmnis entwickelte.

Deshalb wurde bereits 1970 vom luxemburgischen Premierminister Pierre Werner ein Plan für eine europäische Währungsunion (sogenannter Werner-Plan) vorgelegt, der allerdings damals noch nicht durchsetzungsfähig war. 1988 legte dann der Ökonom Paolo Cecchini einen Bericht über die Kosten der Nicht-Verwirklichung Europas und die Vorteile des E.n B.es vor: Auch hier wurden die hohen Kosten der Währungsvielfalt kritisiert. Im April 1989 präsentierte der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, einen Vorschlag für die Einführung einer Währungsunion in drei Schritten. Dieser wurde nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts Gesprächsgrundlage für die Einigung auf eine einheitliche europäische Währung, wie sie daraufhin im Vertrag von Maastricht 1992 erfolgte.

Obwohl es wissenschaftliche Zweifel gibt, ob Europa ein optimaler Währungsraum für alle Mitglieder der EU i. S. d. Theorie des Nobelpreisträgers Robert Alexander Mundell ist, gehören der E. B. und die EWWU untrennbar zusammen. Die Vorteile einer einheitlichen Währung – etwa die Senkung von Transaktions- und Umtauschkosten, die Reduzierung von Investitionsrisiken und die Stabilisierung von Erwartungen – sind offensichtlich und überwiegen die Risiken und Kosten, die mit dem Verzicht auf das Wechselkursinstrument (Wechselkurs) verbunden sind. Für manche Länder mit potentiell weicheren und abwertungsbedrohten Währungen erfordert die Einheitswährung allerdings hohe Anpassungskosten, wie in den zahlreichen Verhandlungen mit Griechenland deutlich wurde. Ein Ausstieg aus der Währungsunion und die Wiedereinführung nationaler Währungen, wie sie vereinzelt gefordert werden, würden jedoch das Fortbestehen des E.n B.es in Frage stellen und dessen Leistungsfähigkeit schwächen.