Prozessrecht
Die gestuft-arbeitsteilige Konkretisierung des Rechts erfolgt in einem dreidimensionalen Entscheidungsraum, dessen Koordinaten das materielle Recht, das Verfahrensrecht und das Organisationsrecht sind: Was wird wie durch wen entschieden? Das P. ist Bestandteil des formalen Rechts, das das Zustandekommen von gerichtlichen Entscheidungen regelt, die auf der Grundlage des materiellen Rechts ergehen. „Verfahrensrecht“ bezeichnet das Recht des Verwaltungsverfahrens, das Entscheidungen der Administrative vorausgeht, wohingegen sich das P. begrifflich exklusiv auf Gerichtsverfahren bezieht. Jede Entscheidung, die in Ausübung öffentlicher Gewalt ergeht, bedarf einer Formalisierung, schon um verbindliche hoheitliche Entscheidungen von anderen Kommunikationsformaten abzugrenzen. Prozesshandlungen sind auf einen hohen Grad rechtlicher Formalisierung angewiesen. Ein Gerichtsurteil ist das förmlich verkündete Ergebnis eines förmlich durchgeführten Prozesses, der seinerseits v. a. rechtsgebundene Formalisierungsleistungen der Entscheidungsfindung erbringt.
Das P., das festlegt, wie Gerichte zu einer Entscheidung zu gelangen haben, ist unmittelbar verzahnt mit dem Gerichtsverfassungsrecht, das den Aufbau und die Besetzung der jeweiligen Gerichte regelt. Das P. dient dazu, die Grundlagen einer gerichtlichen Entscheidung herzustellen, also dem Gericht dasjenige Material zur Verfügung zu stellen, das es benötigt, unter die entscheidungsrelevanten Normen zu subsumieren. Dies sind zum einen rechtlich relevante Normen, die zur Anwendung ausgelegt werden müssen, zum anderen Tatsachen.
1. Rechtserkenntnis durch Prozessrecht
Unabhängig davon, ob man rechtstheoretisch fingiert, dass es für jede Rechtsnorm eine objektiv richtige und eindeutige Auslegung gibt, oder ob man dies – namentlich aus epistemologischen bzw. sprachtheoretischen Gründen – bestreitet, bleibt die Rechtsauslegung im praktischen Prozess der hoheitlichen Rechtsanwendung unvermeidbar mit Kontingenzrisiken behaftet. Normtexte werden funktionsspezifisch abstrakt-generell gefasst, um künftige – nicht vorhersehbare – Fälle entscheidbar zu machen, sind aber dadurch funktionsnotwendig mit Unsicherheiten in der fallbezogenen Anwendung behaftet. Die Findung des einschlägigen Rechts, dessen Interpretation und dessen fallbezogene Anwendung sind daher keine mechanischen Vorgänge der Gesetzestransformation, sondern selbstständig legitimationsbedürftige Herrschaftsausübung. Während die deutsche Rechtskultur ungeachtet dessen aus rechtsstaatlichen wie demokratischen Gründen auf die sprachliche Steuerung der Rechtsanwendung durch Rechtstexte vertraut, haben andere Rechtskulturen den Fokus stärker auf Institutionen und Verfahren gelegt. Das P. eröffnet einen formalen Rahmen, der es – jenseits der akademischen Diskurse und der sonstigen politisch-rechtlichen Öffentlichkeit – ermöglicht, rechtliche Argumente der Interpretation und fallbezogenen Anwendung aus dem Prozess heraus zu generieren. Insb. der kontradiktorische Parteivortrag ist geeignet, auf die Rechtsfindung des Gerichts einzuwirken. Zugleich begrenzt das P. die innerprozessual relevanten Argumentationsoperationen auf die Parteien des Rechtsstreits, freilich nach römisch-rechtlicher Tradition ohne die Rechtserkenntnisquellen des Gerichts einzugrenzen (iura novit curia).
2. Tatsachenerkenntnis im Prozessrecht
Im Prozess entsteht zugleich der für die Rechtsanwendung relevante Sachverhalt. Gerade die Sachverhaltskonstruktion ist eine wesentliche Eigenleistung jedes Verfahrens. So wird aus prozesstheoretischer Sicht z. B. nicht bestraft, weil jemand schuldhaft eine Straftat begangen hat, sondern weil ein Gericht festgestellt hat, dass dies der Fall war. Die prozessrechtskonforme Feststellung der zugrunde liegenden Tatsachen im Rahmen einer gerichtlichen Entscheidung ist kein lediglich deklaratorisches Abbild einer verfahrensexternen Wirklichkeit, sondern konstitutives Element der fallbezogenen Rechtserzeugung. Wahrheit im Prozess ist daher immer formell sowie zugleich eine Kompetenzfrage: quis iudicabit? Wahrheit ist das Produkt einer spezifischen kognitiven Selektivität des P.s, das insb. über Beweisregeln den Konstruktionsvorgang nach normativen Parametern reguliert. Über Darlegungs-/Beweislasten, Beweisregeln und Beweisverbote wird der Zugriff auf die außerrechtliche Wirklichkeit kanalisiert, wobei perspektivische Abweichungen zu anderen – empirischen – Erkenntnisquellen bewusst in Kauf genommen werden. Das P. kann bspw. bestimmte Beweismittel auch dann ausschließen, wenn diese geeignet wären, eine außerprozessuale Wirklichkeit empirisch präziser zu erfassen. Bes. deutlich wird dies im Strafprozessrecht, wo ggf. ein Angeklagter freizusprechen ist, obgleich ein empirischer Schuldnachweis zur Verfügung steht, sofern eine prozessuale Verwertung tragender Beweismittel rechtlich unzulässig wäre. Gerade in dieser Regelhaftigkeit liegt die Rationalisierung von Herrschaft durch P. Die freiheitsschützende Formalisierung des P.s verbietet es zugl., die Inhalte von Gerichtsurteilen mit historischen Wahrheiten gleichzusetzen.
Auch der prozessuale Wahrheitsanspruch ist freilich anspruchsvoll, weil er sich – schon um seiner sozialen Akzeptanz willen – nicht konstruktivistisch beliebig von den Prämissen eines (rechtlich moderierten) Realismus entkoppeln kann: Ungeachtet seines immanent konstruktivistischen Kerns muss das P. einen hinreichenden Bezug zu einer außerprozessualen Umwelt herstellen, weil es anderenfalls sowohl seine Funktion als auch seine für den Rechtsfrieden unerlässlichen sozialen Akzeptanzchancen einbüßen würde. Die prozessrechtlich kanalisierte Sachverhaltskonstruktion muss rational sein, namentlich einen real erfahrbaren Weltbezug herstellen, und das Zufallselement angemessen reduzieren. So wäre bspw. eine Verurteilung im Strafprozess mit dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip (Schuld) unvereinbar, wenn die tatsächliche Schuldfeststellung nicht mehr ist als eine beliebige Zuschreibung im Prozess, auf die der Einzelne durch verantwortetes Verhalten niemals Einfluss nehmen konnte. Das BVerfG verbindet dies mit einer in der Menschenwürde des Beschuldigten radizierten Verpflichtung, die materielle Wahrheit zu erforschen (BVerfGE 133,168,199; 140,317,344). Zwar muss auch das P. mit der Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis kalkulieren, was v. a. das Rechtsmittelrecht und die Existenz von Wiederaufnahmeverfahren umsetzen. Ein radikaler Konstruktivismus, der Wahrheit der Beliebigkeit sozialer Verständigung ausliefert und damit zur schlichten Machtfrage degradiert, wäre zur Erklärung der funktionsspezifischen Leistungen funktionierender sozialer Institutionen des P.s ebenso unbrauchbar wie ein radikaler Skeptizismus, der die Möglichkeit objektivierbarer Zugänge zu einer Wirklichkeit jenseits subjektiver Wahrnehmung fundamental abstreitet. Aufgabe des P.s ist mithin ein Spagat zwischen einem notwendigen Realismus einerseits und normativer Distanz zu außerprozessualen Realitäten andererseits.
3. Legitimationsmatrix des Prozessrechts
Das P. erbringt differenzierte Legitimationsleistungen. In den Prozessordnungen werden historische Pfadabhängigkeiten und Staatsbilder deutlich sichtbar, ist doch das Gerichtsverfahren in besonderem Maße Emanation eines dahinter liegenden Modells hoheitlicher Gewaltausübung.
Zur spezifisch demokratischen Legitimation von Entscheidungen kann das P. nur sehr begrenzt beitragen. Die personelle Legitimation von Gerichten erfolgt über die demokratische Ernennung der Richter, ist aber im Übrigen aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) begrenzt. Die inhaltliche demokratische Legitimation der rechtsprechenden Gewalt wird primär über das anzuwendende materielle Recht vermittelt. Das P. stellt insoweit nur den formalen Rahmen bereit, der die gerichtsförmliche Durchsetzung demokratisch-gesetzlicher Bindungen sicherstellt. Das P. formuliert Aktionsregeln, wie legal auf die Rechtsanwendung bzw. ihre gerichtliche Kontrolle Einfluss genommen werden kann. Auch dies ist freilich von erheblicher praktischer Bedeutung, zumal Richtigkeitsansprüche nicht nur materiell, sondern auch institutionell gesichert werden. Die grundsätzliche Öffentlichkeit des Verfahrens und seine (agonale bzw. antagonistische) Diskursivität legitimieren als solche zwar nicht unmittelbar Entscheidungen, können aber die sachgerechte Rechtsanwendung flankierend unterstützen und insoweit auch einen eigenständigen Legitimationsbeitrag leisten. Eine hierbei nicht unwesentliche Leistung für die Berechenbarkeit und damit demokratische Programmierbarkeit der Rechtspflege ist die Übertragung an unabhängige Richter, die über eine professionelle juristische Ausbildung verfügen. Die juristische Professionalisierung ist hierbei auch Ausdruck eines P.s-Verständnisses in einem – verfassungspolitisch kontingenten – Legitimationsmodell, das die demokratische Legitimationserzeugung parlamentarisch zentralisiert hat, was die Gesetzesinterpretation in den Mittelpunkt richterlicher Tätigkeit rückt; andere – staatsfernere – Gesellschaftsmodelle können Legitimationsleistungen anders organisieren, namentlich Ideen eines dezentral gesetzten Volksrechts auch in der Prozessstruktur abbilden.
Das P. unterstützt zugleich die rechtsstaatliche Legitimation richterlicher Entscheidungen. Entscheidungen können nicht nur demokratisch, sondern auch individuell legitimiert werden, wenn sie der Durchsetzung individueller Freiheitsinteressen dienen. Gerichtliche Entscheidungen legitimieren sich insoweit ergänzend auch aus ihrer Basisstruktur als Konflikt zwischen Parteien, die um „ihr“ Recht streiten, also die Zuweisung rechtlich gesicherter Freiheitssphären dem Schiedsspruch durch einen unabhängigen und neutralen Dritten unterwerfen. Das P. stellt die spiegelbildliche Matrix zur Verfügung, auf der die Parteien agieren können, um ihren jeweiligen Rechtsstandpunkt vorzubringen. Namentlich die für die freiheitlichen Legitimationsleistungen konstitutive Subjektstellung im Prozess wird durch das P. geschaffen, etwa durch die Sicherung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), einen gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) oder Beweisantragsrechte.
Das P. verleiht der richterlichen Gewalt schließlich eine Öffentlichkeitsfunktion. „[I]t is not merely of some importance but is of fundamental importance that justice should not only be done, but should manifestly and undoubtedly be seen to be done“ (R v Sussex Justices, Ex parte McCarthy [1924] 1 KB 256, 259). Recht als soziales Phänomen muss „seinen Geltungsanspruch deutlich machen“ und ist daher auf „eine differenzierte, formenreiche und leistungsfähige Symbolsprache“ angewiesen (Boehme-Neßler 2011: 178). Symbolik ist wiederum auf Sichtbarkeit angewiesen, die gerade durch Öffentlichkeit hergestellt wird. Hierzu dienen ganz wesentlich die Regelungen des P.s, die durch Inszenierung und Ritualisierung einen formalen Rahmen bereitstellen, in dem die Lebendigkeit von Rechtspflege und ihrer besonderen richterlichen Neutralisierung öffentlich wahrnehmbar wird. Eine bes. Leistung des P.s für die institutionelle Legitimation gerichtlicher Verfahren als Stabilisator der Rechtsordnung besteht also darin, Prozesse als öffentlich wahrnehmbare Rechtspflege zu institutionalisieren. Auch dies kann institutionelle Legitimation vermitteln.
4. Prozessmaximen
Strukturprägend für das P. sind die Prozessmaximen. Als Fortsetzung der Selbstbestimmung im Prozess gilt grundsätzlich in allen Parteiprozessen die Dispositionsmaxime, d. h. die Parteien können über ihre Rechte im Prozess verfügen, etwa Klagen zurücknehmen oder sich vergleichen. Abweichenden Regeln folgt der Strafprozess, der kein Parteistreit ist, sondern in dem von Amts wegen sowie möglichst neutral öffentliche Strafverfolgungsinteressen durchgesetzt werden. Während in Zivilprozessen grundsätzlich die Parteien die relevanten Tatsachen beizubringen und ggf. Beweis anzubieten haben (Beibringungsgrundsatz), werden im Straf- und Verwaltungs-P. Tatsachen von Amts wegen ermittelt (Amtsermittlungsgrundsatz), weil hier auch öffentliche Rechtswahrungsinteressen prozessleitend sind.
5. Prozessordnungen
Das deutsche P. kennt nicht nur für die fünf Gerichtsbarkeiten, sondern auch innerhalb einzelner Gerichtszweige eine verfahrensspezifische Vielfalt an – jeweils parlamentsgesetzlichen – Prozessordnungen. Basisordnungen sind die – in ihren Grundstrukturen weiterhin auf der Reichsjustizgesetzgebung (1879) gründenden – Prozessgesetze der ZPO und der StPO, die v. a. den besonderen rechtsstaatlichen Anforderungen an ein faires Strafverfahren Rechnung tragen und die nicht nur den gerichtlichen Prozess, sondern zugleich das vorgeschaltete behördliche Ermittlungsverfahren regeln. Das GVG ergänzt die Ordnungen als Organisationsgesetz für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Das AGG enthält Sonderregelungen zur ZPO für arbeitsrechtliche Streitigkeiten vor der Arbeitsgerichtsbarkeit. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten sind drei verschiedenen Verwaltungsgerichtsbarkeiten übertragen, die eigenständige, aber im Kern weitgehend parallele Prozessordnungen haben: Für die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt die VwGO (Verwaltungsprozessrecht), für die Finanzgerichtsbarkeit die FGO und für die Sozialgerichtsbarkeit das SGG. Daneben gibt es Sonder-P. in zahlreichen Fachgesetzen, z. B. in den §§ 74–83c AsylG, dem UmwRG oder dem FamFG.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
K. Gärditz: Prozessrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Prozessrecht (abgerufen: 21.11.2024)