Utilitarismus

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1. Begriff und Bedeutung

Der U. ist eine normative Ethik i. S. einer empirisch-rationalen Sozialpragmatik bzw. eines wissenschaftlichen Sozialeudämonismus. In den kontinentaleuropäischen Diskussionen oft als Nützlichkeitsmoral (Opportunismus), gelegentlich sogar als Wertnihilismus diskreditiert, ist der U. im anglo-amerikanischen Sprachraum seit dem Rechtstheoretiker und Sozialreformer Jeremy Bentham und dem Philosophen John Stuart Mill die bis weit ins 20. Jh. einflussreichste Position. Bei J. Bentham und der an ihm sich anschließenden Gruppe der „Philosophischen Radikalen“ entfaltet der U. ein beeindruckendes Potential an Ideologie- und Gesellschaftskritik und wurde für eine Reihe von sozialen und politischen Reformen mitverantwortlich. Heute stellt sich der U. weniger als eine homogene ethische Theorie denn als eine weit verzweigte Theoriefamilie dar. Gemeinsam ist den verschiedenen utilitaristischen Ansätzen, dass sie auf eine Verpflichtung für das Wohlergehen aller von einer normativen Regel Betroffenen Bezug nehmen.

Dieses Prinzip des größten Kollektivwohls setzt sich aus vier Teilprinzipien zusammen:

Der U. ist erstens eine teleologische Ethik, die die moralische Richtigkeit einer von persönlichen und politischen Handlungen (sogenannter Handlungs-U.) oder Handlungsregeln (sogenannter Regel-U.) nicht an ihnen selbst, sondern an ihren Folgen misst (Konsequenzen- oder Folgenprinzip). Gemessen werden die Folgen zweitens an ihrem Nutzen für das in sich Gute (Nutzen- oder Utilitätsprinzip). Drittens erfolgt die Bestimmung des in sich Guten zwar in gesonderten Überlegungen. Mit J. Bentham und J. S. Mill wird aber meistens ein Hedonismus vertreten, der den höchsten Wert in der Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen, dem Glück (positiver U.), oder in der Vermeidung von Schmerz und Leid (negativer U.) sieht. Dabei hat insb. J. Bentham angenommen, das Maximum an Lust bzw. Minimum an Unlust lasse sich mit Hilfe eines hedonistischen Kalküls berechnen. Mit ihm soll man laut J. Bentham die personale und v. a. die politische Ethik bzw. die Rechtsethik und Staatsethik als eine Wissenschaft begründen können, in der auf der Grundlage von empirischen Kenntnissen über die Folgen einer Handlung und deren Bedeutung für das Wohlergehen der Betroffenen die moralisch richtige Praxis berechnet werde. Dieser Gedanke hat wesentlich zur Attraktivität des U. beigetragen, ging später in die Wohlfahrtsökonomie (Wohlfahrt) und Sozialwahltheorie ein. Die Schwierigkeiten des im Kalkül vorausgesetzten intrapersonalen und interpersonalen Lust- bzw. Nutzenvergleichs sind aber kaum überwindbar. – Gegen den bald erhobenen Vorwurf, der U. sei eine Ethik des Genussmenschen, vertrat J. S. Mill einen qualitativen Hedonismus, nach dem die „geistigen“ (etwa aus wissenschaftlichen, künstlerischen und humanitären Tätigkeiten resultierenden) Freuden den „körperlichen Freuden“ grundsätzlich überlegen seien.

Obwohl der U. vom natürlichen Interesse jedes Menschen am Glück ausgeht, besteht er nicht in einem ethischen Egoismus. Denn nach seinem vierten Definitionselement bemisst sich die moralische Richtigkeit nicht am eigenen Wohl, sondern an dem aller Betroffenen (Sozialprinzip). Zu den Betroffenen zählen z. B. in der internationalen Perspektive die armen Länder, weshalb der U. eine Weltwirtschaftsordnung für moralisch verwerflich hält, die das Wohlergehen der wirtschaftlich weniger entwickelten Länder nicht hinreichend befördert. Zu den Betroffenen gehören aber auch die künftigen Generationen, weshalb sich der U. sowohl gegen eine zu hohe Staatsverschuldung wendet als auch gegen jene „nichtfinanziellen Schulden“, die bei einer rücksichtslosen Ausnutzung der natürlichen Ressourcen die gegenwärtige Generation ihren Kindern und Kindeskindern aufbürdet. Nicht zuletzt berücksichtigt der U. bei den Betroffenen alle Lebewesen, die Freude und Schmerz empfinden können, verteidigt daher einen nicht nur anthropozentrischen Tierschutz (Tierethik).

2. Zur Beurteilung

Der U. ist ein „Kind“ der europäischen Aufklärung. Er wurde in einer Zeit politisch und philosophisch wirksam, in der einerseits die Auskünfte der Religion, der Metaphysik und der Tradition über moralische Verbindlichkeiten ihre allgemeine Anerkennung verloren und man andererseits so optimistisch war, zu glauben, das Glück der Menschheit berechnen und herstellen zu können. In dieser Situation schlug der U. ein Moralprinzip vor, das ohne Rückgriff auf die fragwürdig gewordenen Autoritäten auskommt und das zugleich mit dem „natürlichen Interesse“ des Menschen am Glück übereinstimmt. Darüber hinaus ist der U. einem humanitären Element verpflichtet, dem sittlichen Gehalt des Christentums, dem Gebot der Nächstenliebe.

Außer den technisch-praktischen Schwierigkeiten des hedonistischen Kalküls wirft der U. aber die Frage auf, wie sich die hedonistische Psychologie des U., die Orientierung am eigenen Glück, mit der Verpflichtung auf das allgemeine Wohlergehen vereinbaren lasse. Vom moralischen Subjekt her gesehen, steht das Sozialprinzip mit dem hedonistischen Prinzip im Konflikt: Wird dem Sozialprinzip der Vorrang eingeräumt, so setzt der U. jene Überwindung des Selbstinteresses voraus, die nach Immanuel Kant nur als Autonomie des Willens gedacht werden kann.

Während J. Benthams und J. S. Mills Rechtfertigung des U. unbefriedigend bleiben, versuchte Henry Sidgwick zu zeigen, dass der U. unseren aufgeklärten Alltagsurteilen über Moral zugrunde liegt. Allerdings gab gerade dieses methodische Kriterium, der moralischen Common Sense, zu mancherlei Kritik Anlass. Die traditionelle Ethik wirft dem U. vor, dass er moralische Probleme nur im Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen, aber nicht im Verhältnis zu sich selbst erkenne. Gegen diesen Vorwurf könnte sich der U. auf ein Moralbewusstsein der Moderne berufen, dem Pflichten gegen sich fremd sind. Gewichtiger ist der Einwand, dass im U. die moralischen Pflichten, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, die sogenannten Rechtspflichten, nicht von den darüber hinaus gehenden Tugendpflichten, z. B. dem Gebot, Notleidenden zu helfen, der Solidarität, unterschieden werden. Weiterhin hat die vom U. inspirierte politische Bewegung der „Philosophischen Radikalen“ im Großbritannien des 19. Jh. zwar eine Fülle gesellschaftlicher Reformen in Gang gesetzt. Aber diese Reformen lassen sich, theoretisch betrachtet, teilweise nur dadurch erklären, dass man zur Ergänzung und Korrektur des U. ein normatives Prinzip der Gerechtigkeit annimmt, das der U. nicht begründet. Danach sind die positiven bzw. (unvermeidbaren) negativen Handlungsfolgen in fairer Weise auf alle Betroffenen zu verteilen; ferner kommen – gemäß der Idee der Menschenrechte – jedem Einzelnen gewisse Grundansprüche zu, die auch nicht im Namen eines überwiegenden Kollektivwohls verletzt werden dürfen. Weil der U. am Problem der Gerechtigkeit scheitert, wird er mittlerweile von Moralphilosophen kaum noch vertreten.