Politische Ethik
P. E. ist eine Form angewandter Ethik und zugleich Teil politischer Philosophie. Sie basiert auf ethischen Prämissen und auf einer Theorie von Politik. Ihr Materialobjekt ist die Politik, ihr Formalobjekt die Frage nach moralischen Normen für Politik.
1. Politische Ethik zwischen Theorie und Praxis
Der Diskurs über Politik und Moral ist von Diskrepanzerfahrungen bestimmt. Die Gründe dafür liegen in der Materie der Politik. Es sind die Interessen- und Ordnungskonflikte in und zwischen Gesellschaften, die Konkurrenz um politische Ämter und Kompetenzen und die Formen des Umgangs mit den ihnen verfügbaren Machtmitteln. Dies alles impliziert moralische Wertungen, letztlich aus dem unhintergehbaren Verlangen der Menschen nach Gerechtigkeit, nach Sicherheit (Frieden) und Freiheit. Für p. E. ergeben sich daraus drei Hauptfragen: nach einem Gesamtinteresse bzw. nach gemeinsamen Zielwerten einer Gesellschaft; nach der Legitimation einer politischen Ordnung; nach Normen politischen Handelns.
E. ist praktische Philosophie, Theorie einer Praxis, die deren Eigengesetzlichkeiten gerecht werden muss. Deshalb vermittelt p. E. dialektisch zwischen Theorie und Praxis. Ihre theoretische Prämisse lautet, dass Politik als intentionales Handeln ihre Ziele, Mittel und Modi sittlichen Leitprinzipien unterstellen muss. Normen für Ordnungen und Handlungsweisen können aber nicht aus Prinzipien deduziert, müssen vielmehr mit deren Hilfe im Durchdenken von Praxis gefunden werden. Die in Politik konkurrierenden Intentionen und Interessen sind geschichtlich wandelbar und situationsbedingt. In der Vermittlung zwischen Leitprinzipien und politischer Praxis mit ihren darin wirksamen geschichtlichen Erfahrungen gelangt p. E. zu vernünftig begründbaren normativen Aussagen, die keine objektive, aber eine moralisch-geschichtliche Gewissheit beanspruchen. P. E. vermeidet so politischen Amoralismus ebenso wie unpolitisches Moralisieren.
2. Geschichtliche Typen
Die Dialektik von Theorie und Praxis ist in allen geschichtlichen Ausprägungen p.r E. wirksam. Verbindliche Leitprinzipien werden unterschiedlich begründet. Vormoderne E. berief sich auf ein metaphysisch begründetes Naturrecht. Moderne Begründungen wollen metaphysische Anleihen vermeiden; sie basieren aber durchweg auf einer „schwachen Metaphysik“, indem sie anthropologisch voraussetzen, dass Menschen als moralische Subjekte die Normen ihres Miteinanders vernünftig aushandeln und entspr. verantwortlich handeln können.
In Platons „Politeia“ ist die Praxis ganz von der Theorie beherrscht. Gerechtigkeit ist der Sinn politischer Ordnung. Sie zu erreichen ist ein Erkenntnis- und ein Erziehungsproblem. Die gerechte Ordnung ist nur von denen zu verwirklichen, die das Gerechte erkannt haben; dazu müssen sie entspr. erzogen werden. So bedingen einander die strenge Erziehung der künftigen Herrscher, in deren Seele die Vernunft (Vernunft – Verstand) über die niederen Seelenteile herrscht, und die strenge ständische Gliederung der äußeren Ordnung. In seinen späteren „Nomoi“ erörtert Platon praxisnäher Fragen der Verfassung einer gerechten Ordnung.
Aristoteles begreift die Frage nach der guten Verfassung nicht als Theorie-, sondern als Praxisproblem. Theoretisch setzt er voraus, dass freie Menschen zu Vernunft/Sprache (logos) und deshalb zur Verständigung im Miteinander fähig sind. Sie verwirklichen ihr telos, das gute Leben, in den Institutionen von Haus und Polis. Praktisches Handeln ist Verständigung unter Freien und Gleichen. Es erfordert Tugenden, an erster Stelle Klugheit, die Fähigkeit, Mittel und Wege zum guten Ziel im Durchdenken der Praxis zu finden.
Die mittelalterliche p. E. nimmt diese Konzepte auf und fundiert sie auch theologisch. Augustinus und Thomas von Aquin setzen dabei unterschiedliche Akzente. Augustinus sieht, platonisch beeinflusst, einen scharfen Dualismus zwischen sündhafter Menschenwelt und göttlichem Heil. Menschliche Ordnung ist auf Gerechtigkeit und Frieden verpflichtet, bleibt aber unvollkommen und schuldhaft. So auch bei Thomas, der aber mit Aristoteles der praktischen Vernunft mehr zutraut und die Herrschenden darauf verpflichtet, das bonum commune zu suchen. Dieses ist als Zielhorizont vorgegeben, begründet aus dem von der Stoa übernommenen Gedanken des Naturrechts. Seine Ziele sind auch bei Thomas Gerechtigkeit und Friede. Mittel und Wege zu ihrer Sicherung müssen durch Klugheit gefunden werden. Um zu moralischer Gewissheit zu gelangen, brauchen die Herrschenden den Willen zum Guten und die Fähigkeit, ihn in den Widrigkeiten der Praxis durchzuhalten. Mittelalterliche Fürstenspiegel wollen dazu mit Leitregeln sowie mit Tugend- und Lasterkatalogen helfen.
Mit Beginn der Neuzeit wird, zuerst von Niccolò Machiavelli, politische Klugheit aus dem Kontext der christlichen Moral herausgelöst. Machterwerb und Machterhalt sind nicht mehr Mittel zu übergeordneten Zielen, sondern selbst die politischen Ziele. Politische Klugheit besteht darin, die zum Machterhalt geeigneten Mittel zu handhaben, zu denen auch die moralischen Normen herabgestuft werden. Daraus wird in der Neuzeit die Theorie der Staatsräson, die das Handeln der Herrschenden bestimmen soll, unabhängig von ihrer privaten Moral. Bei protestantischen Fürsten diente zur Legitimation dieser Unterscheidung auch Martin Luthers Lehre von den zwei Regimenten, in der er das Gottesreich der Liebe vom weltlichen Reich des Rechts und des Schwertes unterschied.
Die Aufklärung setzt im Verhältnis von Theorie und Praxis ein neues Konzept durch. Gegen das Gottesgnadentum der Fürsten sucht sie die Legitimation politischer Herrschaft im Willen der Beherrschten in Form von Vertragstheorien. Sie ersetzt tradierte metaphysische Begründungen durch anthropologisch-soziale Vorannahmen, die einer neuen Praxis entsprechen, sie aber auch bestimmen.
Bei Thomas Hobbes führt ein pessimistisches Menschenbild zu einem Unterwerfungsvertrag zur Sicherung des Friedens durch den absoluten Herrscher. Die Untertanen bleiben nur privat in Glaubensfragen frei. John Lockes optimistischeres Menschenbild begründet eine vernünftig ausgehandelte konstitutionelle Ordnung zum Schutz angeborenen Rechts einschließlich eines Widerstandsrechts: erste Grundlagen des liberalen Rechtsstaats. Jean-Jacques Rousseaus Vertragstheorie hat einen evolutionär-emanzipatorischen Charakter. Ein ursprünglich guter Naturzustand hat einer von egoistischen Interessen beherrschten Gesellschaft Platz machen müssen. Auf der höheren Stufe eines Gesellschaftsvertrages sollen die Menschen im Kollektiv zu Bürgern werden, die der volonté générale folgen. Das Konstrukt enthält einen Ansatz zu totalitärer Praxis.
Immanuel Kant vollzieht eine bis heute in der E.-Diskussion fortwirkende strenge Trennung zwischen Sein und Sollen, zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Moral begründet er weder aus Natur noch aus Erfahrung, sondern transzendental aus der inneren Erfahrung sittlicher Autonomie des moralischen Subjekts. Dessen Moralität besteht in dem unbedingten Willen, sich an das Gesetz zu binden, das es sich selbst gibt. In dieser Moralität gründet die Würde der Person. Ihre „Menschheit“ ist Zweck an sich. Der kategorische Imperativ formuliert als Prüfkriterium für moralische Praxis im Miteinander die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaximen des Subjekts; die denkbar strengste Fassung der Vertragsidee. Für die Praxis folgert I. Kant daraus sozial eine strenge Pflichten-E. (Pflicht) und politisch die „republikanische Regierungsart“ (Republikanismus), eine Rechtsordnung gesetzlich geschützter Freiheit aller.
I. Kants gleichsam weltlose Vernunft-E. kann zum politischen Rigorismus führen. Die Selbstbestimmung des autonomen Individuums fügt sich nicht leicht in die interpersonal-politisch gebotene Mitbestimmung. Die Berufung auf einen kategorischen Imperativ neigt dazu, Prinzipien (Maximen) zu Handlungsnormen ohne Ermessensspielräume zu machen. Politik als Feld der Konfliktaustragung und der Kompromisssuche hat darin kaum Platz. Die Moralität des Subjekts gerät als Berufung auf das Gewissen leicht in Gegensatz zur Legalität und auch zur politischen Klugheit, zum Abwägen von Für und Wider in der Interessenkonkurrenz.
Im angelsächsischen Sprachraum wurden im Unterschied dazu empirisch begründete E.en entwickelt, die großen politischen Einfluss erlangten; so der Utilitarismus (David Hume, Jeremy Bentham, John Stuart Mill), der im Glück bzw. im Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen das entscheidende, aber schwer bestimmbare Kriterium der Moral sieht; dann der amerikanische Pragmatismus (William James, Charles Sanders Peirce, John Dewey), der das dialektische Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zugunsten letzterer vereinseitigt und das ethisch Gute im Erfolg sieht, in dem, was sich bewährt hat.
Moderne Theorien kehren in die Bahnen der Vertragstheoretiker und I. Kants zurück, auch wenn sie sich neuerer Kategorien etwa aus der Sprachpragmatik bedienen. Sie haben an Intensität und Dringlichkeit gewonnen vor dem Hintergrund der katastrophalen Folgen, die an die Macht gelangte totalitäre Bewegungen (Totalitarismus) zeitigten. Diese ersetzten das kommunikative Handeln der Politik durch den gewaltsamen Vollzug angeblich geschichtsphilosophischer (Marxismus-Leninismus) oder naturalistischer (Nationalsozialismus) Gesetzmäßigkeiten. Darin verliert das moralische Subjekt seine Freiheit samt seiner Moralität oder wird in den Widerstand gedrängt. Umso dringlicher wurde die Frage, wie sich liberale Demokratie begründen und welchen ethischen Normen Politik folgen soll.
Am meisten diskutiert sind die Diskursethik von Jürgen Habermas und die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. J. Habermas begründet seine p. E. aus einem kommunikationstheoretisch gefassten kategorischen Imperativ, aus der Fähigkeit handelnder Individuen, ihre Orientierungen normativ aufeinander abzustimmen. Daraus entwickelt er Regeln des Diskurses unter Freien und Gleichen. J. Rawls leitet seine beiden grundlegenden Prinzipien einer gerechten Gesellschaft aus der Zustimmung aller ab, die sie vertraglich unter dem „Schleier des Nichtwissens“ (Rawls 1975: 29) über ihre eigene künftige soziale Stellung gegeben haben. Diese Theorien beanspruchen keine Letztbegründung, suchen gleichwohl nach Grundnormen von universaler Geltung.
Die amerikanischen Kommunitaristen (Kommunitarismus) sind bescheidener. Sie lokalisieren E. im jeweiligen kulturellen Kontext und wollen den Gemeinsinn in überschaubaren Gemeinschaften stärken. Moral wird zuerst in der eigenen gelebten Kultur erfahren und angeeignet. Rationale Begründungen sind sekundär. In der Entfaltung praktischer Handlungsnormen sind die Kommunitaristen den liberalen Vertragstheoretikern überlegen. Aber wenn sie nicht auf den älteren anglo-amerikanischen Utilitarismus oder Pragmatismus zurückfallen wollen, können auch sie die Frage nach universaler Geltung gewisser Grundannahmen nicht umgehen.
Die Spannung zwischen kontextueller Herkunft und universaler Geltung von Grundnormen mündet heute in die Frage nach der universalen Geltung der Menschenrechte. Diese entstammen dem europäischen Kulturkreis und werden in einem normativen Personalismus begründet, in welchem sich eine kritische Rekonstruktion der Naturrechtsidee mit der Grundidee liberaler Aufklärung trifft. Aber angesichts des Pluralismus westlicher Gesellschaften, erst recht der Völker- und Staatenwelt insgesamt, bleiben Differenzen in Letztbegründungen unüberwindbar. Zugleich hängt aber die Möglichkeit, das in Konflikten drohende Gewaltpotential zu zügeln, davon ab, ob Menschenrechte als verbindliches Recht geltend gemacht werden können. In diesem Dilemma muss man Begründung und Geltung unterscheiden. Aber die Quintessenz aus antik-christlichem und neuzeitlich-modernem Natur- und Vernunftrecht lautet, dass das bonum commune politisch nicht unter Missachtung von Personwürde und Menschenrechten bestimmt werden darf.
3. Systematischer Grundriss
Gemäß den eingangs formulierten drei Grundfragen an p. E. lässt diese sich entfalten als Ziel-, Institutionen- und Handlungs-E.
3.1 Zielethik
Die gewöhnliche Materie von Politik sind nicht moralische Ziele, sondern konkurrierende Interessen von Großgruppen/Staaten. Dieser vormoralische Tatbestand wird ethisch relevant unter zwei Voraussetzungen: Alle „Interessenten“ sollen in gleicher Weise frei ihre Interessen verfolgen dürfen und die aus der Konkurrenz entspringenden Konflikte sollen gewaltfrei geregelt werden. Aus diesen Voraussetzungen wird ein Allgemeininteresse an einem gemeinsamen Regelsystem begründbar, das ethisch Gemeinwohl heißt. Es bezeichnet ein transzendentales Interesse aller Betroffenen, einen Horizont, der geschichtlich unterschiedlich gehaltvoll wird. Gemeinwohl ist inhaltlich nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Seine Voraussetzungen implizieren aber Leitziele für diesen Findungsprozess, die in der Tradition der p.n E. Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden heißen. Sie sind relativ unbestimmt, ihre Konkretisierung wie auch ihr Verhältnis zueinander sind selbst Gegenstand politischen Streites; denn sie bedingen und begrenzen sich gegenseitig, enthalten Zielkonflikte, die zu politischen Dilemmata werden. Sie bezeichnen nicht politisch erreichbare Ziele, sondern ständige Aufgaben und haben orientierende Funktion im Streit um Ordnungs- und Handlungsprobleme. Sie sind verpflichtende Prüfkriterien für die Gemeinwohldienlichkeit politischer Institutionen, Mittel und Handlungsweisen.
3.2 Institutionenethik
Eine gemeinwohldienliche Verfassung muss in der Lage sein, Frieden zu sichern, die freie Entfaltung der Bürger in ihren sozialen Beziehungen, politische Partizipation und die Teilhabe aller an den Gemeinwohlgütern zu gewährleisten. Deshalb werden im freiheitlichen Verfassungsstaat die Bindung an Menschenrechte, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit (Rechtsstaat; Sozialstaat) zu Verfassungsprinzipien erklärt. Sie sind Ausdruck „politischer Gerechtigkeit“ (Höffe 1989). Diese Ordnung erfordert ständiges Ausbalancieren unterschiedlicher Ziele, v. a. in den Spannungsverhältnissen von Macht und Recht/Institutionen sowie von Partizipation und Repräsentation.
Macht stellt ein Hauptproblem p.r E. dar. Sie kommt zwar in allen sozialen Beziehungen vor, aber politische Macht ist ein Sonderfall. Politische Repräsentanten der Gesellschaft verfügen in Form amtlicher Gewalt (potestas) über spezifische Mittel einschließlich der Möglichkeit von Zwangsgewalt (vis coactiva). Deshalb sind die Regeln zur Legitimation und Limitation politischer Macht von hoher ethischer Relevanz; insb. Formen ihrer Übertragung und Befristung, ihrer Teilung und Kontrolle. P. E. muss in besonderer Weise Institutionen-E. sein. Für ein Miteinander in Frieden und Freiheit sind politische Institutionen unentbehrlich. Sie sind Formen der Vermittlung zwischen den vielfältigen Interessen und dem Gesamtinteresse. Sie halten zu Regeltreue an, entlasten politische Akteure und Bürger von ständiger moralischer Anstrengung, kompensieren Fehlverhalten durch Sanktionen. Sie erleichtern so das moralische Verhalten in der Politik und können es zugleich rationaler machen. Die moralische Qualität von Politik bemisst sich nicht nach der individuellen Moral der Akteure, sondern nach erfolgreichem Handeln i. S. d. Gemeinwohlziele und der Institutionen. Politische Repräsentanten sind deshalb ihrem Amtsethos verpflichtet.
Eine Gesellschaft bedarf als politische Handlungseinheit der Repräsentation, aber Demokratie lebt von vielfältiger Partizipation. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden muss durch Institutionen der Verfassung (Publizität, Vereinigungsfreiheit, Parteien, Wahlen, Ämterordnung) ausbalanciert werden. Demokratie braucht Verfassung. Selbstbestimmung heißt demokratisch Mitbestimmung. Der Pluralismus der Gruppen und Interessen und die Loyalität aller gegenüber der gemeinsamen Ordnung erfordern eine Verbindung von Freiheits- und Gemeinsinn, Bereitschaft zum Kompromiss. Der Geist freiheitlicher Institutionen muss sich im politischen Ethos der Bürger widerspiegeln.
3.3 Handlungsethik
Der Sinn politischer Institutionen muss von den in ihnen Handelnden gewollt und erfüllt werden. Dazu bedürfen diese einer habituellen Disposition, die die spezifische Rationalität des Politischen (Interessen- und Erfolgsorientierung, Machtkalkül) mit dessen ethischem Anspruch verbindet. Als politische Tugenden in diesem Sinn werden oft genannt: Konflikt- und Kompromissfähigkeit, Toleranz, Zivilcourage, Fairness. Solche Aufzählungen haben etwas Beliebiges. Demgegenüber ermöglicht das Modell der klassischen Kardinaltugenden eine gewisse systematische Orientierung. Es beschreibt den wünschbaren Habitus von Politikern und Bürgern ohne falsche Moralisierung.
Klugheit gilt als erste dieser Tugenden. Sie ist die Fähigkeit, das Gute durch die vernünftige Bewältigung praktischer Handlungsprobleme zu verwirklichen. Politisches Handeln ist kluges Bemühen um die Gemeinwohlziele in der Bewältigung konflikthafter Situationen. Klugheit verbindet die Ausrichtung auf gute Ziele mit sorgsamer Analyse von Situationen; Geschicklichkeit und strategisch-taktisches Denken mit der Abwägung von Möglichkeiten und Grenzen des Handelns (Handlungstheorie); Mut zum Entscheiden, aber auch Voraussicht (providentia) im Blick auf die Folgen, zumal auf die nicht intendierten Nebenfolgen. Angesichts der globalen Dimension heutiger Risiken hat dieser Aspekt der Klugheitslehre in Form von Verantwortungs-E. neues Gewicht gewonnen, zumal auch international im Blick auf ein Weltgemeinwohl.
Unter dem Aspekt der Klugheit ist auch die Frage nach der Rolle des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit) in der Politik zu beantworten. Politisches Urteilen und Handeln muss gewissenhaft im beschriebenen Sinn sein. Aber politische Urteile sind in aller Regel nicht Gewissensurteile im strikten Sinn, sondern Ermessensurteile. Sie ohne Not zu Gewissensurteilen zu steigern, macht unfähig zur Politik. Es gibt aber Situationen, in denen das Gewissen ein striktes Nein sagen muss, etwa gegen schweres Unrecht und nicht verantwortbare Risiken. Das wird dann zu einer Frage der Widerstands-E., wenn andere Formen von Opposition nicht möglich sind.
Gerechtigkeit als Tugend meint die Bereitschaft, jedem das Seine zukommen zu lassen. Sie gründet in der gegenseitigen Anerkennung der Menschen als Gleiche in ihrem Menschsein und ist so Bedingung humaner Kommunikation. Was „das Seine“ jeweils heißt, kann nur streitig gefunden werden. Deshalb ist Gerechtigkeit auch Leitziel für Politik und Gestaltungsprinzip politischer Ordnung. Auch in der Beschreibung der Gerechtigkeit als Tugend werden diese anderen Dimensionen sichtbar. Man unterscheidet die Tauschgerechtigkeit der Menschen in ihrer sozialen Kooperation; die legale Gerechtigkeit der Bürger als Gesetzesloyalität; die Verteilungs- oder Teilhabegerechtigkeit der Regierenden als Bereitschaft, alle an den Gütern des Gemeinwohls teilhaben zu lassen. „Gerechtigkeit gegen jedermann“ ist zentraler Gehalt ihres Amtsethos.
Aus der kommunikativen Grundlage der Gerechtigkeit lassen sich weitere politische Grundhaltungen begründen. Zu gegenseitiger Anerkennung als Freie und Gleiche gehört (nach Aristoteles) die Bereitschaft, sich regieren zu lassen ebenso wie die, zu regieren, also vielfältige Partizipation; der Respekt vor der Eigenart anderer, also Toleranz; die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe, also Solidarität; Offenheit und Wahrhaftigkeit der Regierenden gegenüber den Regierten; die rational-kritische Balance zwischen Vertrauen und Misstrauen in die politischen Repräsentanten.
Tapferkeit meint Stärke im Kampf um das Gute. Sie ist nötig, weil in unserer menschlich unvollkommenen Welt die höheren Güter, zumal jene des Gemeinwohls, immer bedroht, also nicht selbstverständlich sind. Tapferkeit zeigt sich einerseits als Zivilcourage, als Mut zum freien Wort gegen Gruppenkonformität und Behördenarroganz; als Konfliktfähigkeit und Durchsetzungsvermögen. Andererseits bewährt sie sich als Ausdauer, Zähigkeit und Geduld in der Widerständigkeit der Verhältnisse. Ein freies politisches Gemeinwesen ist auf politische Akteure von solchem Habitus angewiesen.
Maß heißt als Tugend Beherrschung der Leidenschaften durch Vernunft. Politische Bedeutung gewinnt sie als Mäßigung von Ansprüchen und Interessen in der Vermittlung mit denen anderer und mit dem Gemeinwohl; ferner als Appell politischer Repräsentanten an Einsicht und Urteilsfähigkeit der Bürger statt an Stimmungen und moralisch aufgeladene Emotionen; als Mäßigung im Machtkampf, die im Blick auf den Fortgang der Dinge dem schwächeren Gegner nicht jede Chance nimmt.
3.4 Fazit
Politische Ziel-, Institutionen- und Handlungs-E. müssen als interdependent begriffen werden. Nur so kann p. E. dem sittlichen Sinn der Politik unter Beachtung ihrer spezifischen Rationalität samt den ihr innewohnenden Risiken und Gefährdungen gerecht werden.
Literatur
W. Korff/M. Vogt (Hg.): Gliederungssysteme angewandter Ethik, 2016 • H. Joas: Die Sakralität der Person, 2013 • W. Reese-Schäfer/C. Mönter: Politische Ethik. Philosophie, Theorie, Regeln, 2013 • W. Reese-Schäfer: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, 2012 • W. Kersting: Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit, 2010 • M. Walzer: Sphären der Gerechtigkeit, 2006 • J. Habermas: Diskursethik, 2005 • K. Bayertz (Hg.): Politik und Ethik, 1996 • B. Sutor: Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis Christlicher Gesellschaftslehre, 1991 • O. Höffe: Politische Gerechtigkeit, 1989 • Ders.: Ethik und Politik, 1987 • J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1976.
Empfohlene Zitierweise
B. Sutor: Politische Ethik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Politische_Ethik (abgerufen: 21.11.2024)