Versicherungsrecht
1. Überblick
Die private Versicherungswirtschaft gehört, nicht zuletzt seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 (Finanzmarktkrise), zu den stark regulierten Branchen. Das ist angesichts der Bedeutung, die Versicherung für Gesellschaft und Wirtschaft hat, und der Gefahren, denen Versicherer ausgesetzt sind (z. B. die in der Niedrigzinsphase erschwerte Kapitalbildung und -erhaltung), gerechtfertigt. Die Sozialversicherung folgt als gesetzliche Absicherung existentieller Risiken eigenen Regeln (Sozialversicherungsrecht).
Der Begriff des V.s umfasst die Gesamtheit versicherungsspezifischer Vorschriften des öffentlichen Rechts und des Privatrechts. Hierzu gehören das Versicherungsaufsichtsrecht, -vertragsrecht und -vertriebsrecht. Weitere Sonderregeln finden sich etwa im Steuerrecht (VersStG). Einige dieser Bereiche sind weitgehend durch das Recht der EU (Europarecht) geprägt.
2. Versicherungsaufsichtsrecht
Die staatliche Versicherungsaufsicht soll Versicherungsnehmer und sonstige Anspruchsberechtigte schützen, aber auch für Finanzstabilität und faire Märkte sorgen. Das Aufsichtsrecht hat seine deutschen Ursprünge im Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmen vom 12.5.1901 (RGBl. I: 139), ist inzwischen aber in EU und EWR in Konkretisierung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit der Art. 56 und 49 AEUV weitgehend harmonisiert, um durch einheitliche Sicherheitsstandards grenzüberschreitenden Versicherungsbetrieb zu erleichtern. Ausgangspunkt ist die Solvabilität II-RL 2009/138/EG. Ihr Kern ist das Single License-Prinzip, wonach die Zulassung eines Versicherers in einem EU-/EWR-Staat es ihm erlaubt, im gesamten EU-/EWR-Gebiet tätig zu werden.
Der Tätigkeitsbereich von Versicherungsunternehmen ist nach § 15 VAG auf den Betrieb von Versicherungsgeschäften begrenzt. Risiken aus anderen Geschäften sollen die Ansprüche der Versicherungsnehmer und sonstigen Berechtigten nicht beeinträchtigen. Für Lebensversicherer (Lebensversicherung) und Krankenversicherer (Krankenversicherung) gilt weitergehend, dass sie neben einem dieser beiden existentiellen Risiken keine anderen versichern dürfen (Spartentrennungsgebot).
Versicherungen können nur in Rechtsformen betrieben werden, die den Erhalt des Eigenkapitals gewährleisten. Dazu zählen Aktiengesellschaften, SE, öffentlich-rechtliche Körperschaften oder Anstalten sowie der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG). Letzterer ist eine Sonderform des wirtschaftlichen Vereins für Versicherungen (§§ 171–210 VAG). Ihr liegt der Gedanke der Selbsthilfe durch vereinsrechtliche Verbundenheit zugrunde, ist bei großen VVaG aber nicht mehr prägend. Mitgliedschaft im und Versicherungsvertrag mit dem VVaG sind grundsätzlich miteinander verbunden, Verträge mit Nichtmitgliedern nur in begrenztem Umfang zulässig. VVaG haben eine der AG vergleichbare dreigliedrige Organstruktur aus oberster Vertretung (Mitglieder- oder Mitgliedervertreterversammlung), Vorstand und Aufsichtsrat (§ 184 VAG). Die Pläne, auf EU-Ebene ein Statut einer Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft zu verabschieden, wurden 2005 aufgegeben.
Das Aufsichtsrecht besteht im Übrigen aus drei Säulen.
a) Die Vorgaben für die Finanzverfassung, insb. die Eigenmittelausstattung (Solvabilität) und die Kapitalanlage von Versicherern, stellen sicher, dass Versicherer gegen sie bestehende Ansprüche aus Versicherungsverträgen erfüllen können.
b) In den Anforderungen an die Geschäftsorganisation gehen das VAG und die Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 über das Gesellschaftsrecht hinaus. So sind etwa vier Schlüsselfunktionen zwingend vorzusehen (Risikomanagement, Compliance, interne Revision und Versicherungsmathematik) und die Zuverlässigkeit und fachliche Eignung der Organe sicherzustellen.
c) Berichts- und Offenlegungspflichten sowie spezielle Normen des HGB zur Rechnungslegung schaffen Transparenz für Öffentlichkeit und Aufsicht. Aktuelle Fragen ergeben sich aus der Digitalisierung, etwa für digitale Geschäftsmodelle von InsurTechs oder technologische Anforderungen an die Aufsicht (Supervisory Technology).
Rechtstechnisch ist die EU-Regulierung durch das Lamfalussy-Verfahren geprägt, wonach die Solvabilität II-RL (Stufe 1) ergänzt wird durch Regelungen der Europäischen Kommission (Stufe 2, v. a. Delegierte Verordnung [EU] 2015/35), Leitlinien der EU-Aufsichtsbehörde EIOPA (Stufe 3) und die Kontrolle der Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten durch EIOPA (Stufe 4). Hinzu tritt das nationale Recht: das VAG, ergänzende Verordnungen und die Leitlinien der deutschen Versicherungsaufsichtsbehörde BaFin (z. B. Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen). Deren Tätigkeit wird durch die meist bei den Finanzministerien liegende Aufsicht der Länder ergänzt. Die sehr detailreichen Leitlinien der Aufsichtsbehörden (Stufe 3) zu einer Fülle aufsichtsrechtlicher Fragen ergänzen das prinzipienbasierte Recht und spielen als soft law für die Praxis eine maßgebliche Rolle.
3. Versicherungsvertragsrecht
Der Versicherungsvertrag ist ein gegenseitiger schuldrechtlicher Vertrag (Schuldrecht). Der Versicherer verpflichtet sich, ein bestimmtes Risiko durch eine Leistung abzusichern, die er bei Eintritt des vereinbarten Versicherungsfalles zu erbringen hat (§ 1 VVG). Der Versicherungsnehmer muss die vereinbarte Prämie zahlen. Da gegenüber dem BGB zahlreiche Sonderregeln gelten, hat man den Versicherungsvertrag im VVG von 1908, in Kraft ab 1.1.1910, verankert; das BGB gilt ergänzend. Das PflVG und die Kraftfahrzeug-Pflichtversicherungs-VO betreffen die wichtige Kfz-Haftpflichtversicherung. 2008 wurde das VVG modernisiert und in Einzelpunkten europäischen Vorgaben angeglichen. Versicherungsverträge sind durch AVB geprägt, die AGB i. S. d. §§ 305 ff. BGB sind.
Von den allgemeinen Regeln des BGB Abweichendes gilt u. a. für die Information und Beratung des Versicherungsnehmers, für den Vertragsabschluss einschließlich des Widerrufs und für Pflichtverletzungen des Versicherungsnehmers. Ihm werden wegen seiner Nähe zum versicherten Risiko zahlreiche Obliegenheiten auferlegt, die sicherstellen, dass Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung besteht und nicht durch nachteilige Veränderungen des Risikos beeinträchtigt wird. Auch treffen ihn Obliegenheiten bei der Erfüllung und Durchführung des Vertrages, etwa die Pflicht, den Versicherungsfall unverzüglich anzuzeigen. An die Verletzung von Obliegenheiten knüpft das VVG Folgen, die vom allgemeinen Leistungsstörungsrecht abweichen. Namentlich droht unter bestimmten Voraussetzungen der Verlust des Versicherungsschutzes.
Zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen bestimmten Versicherungsnehmern, v. a. Verbrauchern, und Versicherern oder Versicherungsvermittlern oder -beratern sind mit dem Versicherungsombudsmann e. V. (s. Verfahrensordnung des Versicherungsombudsmanns, Verfahrensordnung für Beschwerden im Zusammenhang mit der Vermittlung von Versicherungsverträgen) und dem Ombudsmann Private Kranken- und Pflegeversicherung (s. Statut) Schlichtungsstellen geschaffen worden.
4.Versicherungsvertriebsrecht
Versicherungen sind komplizierte Rechtsprodukte. Dem Einzelnen ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, ob und welchen Versicherungsschutz er braucht. Deshalb werden beim Vertrieb und bei der Betreuung von Versicherungsverträgen vielfach Versicherungsvermittler oder -berater tätig. Der Vertrieb ist aufgrund der EU-Versicherungsvertriebs-RL (EU) 2016/97, die die Versicherungsvermittlungs-RL (2002/92/EG) ablöste, und weiterer EU-Verordnungen (Delegierte Verordnungen [EU] 2017/2358, 2017/2359, 1286/2014) in weiten Teilen reguliert, im deutschen Recht im VVG, im VAG, in der GewO und der Verordnung über die Versicherungsvermittlung und -beratung.
Versicherungsvermittler und -berater brauchen grundsätzlich eine gewerberechtliche Erlaubnis und werden in das Vermittlerregister der Industrie- und Handelskammern eingetragen. Das Gesetz unterscheidet gemäß § 59 Abs. 1–3 VVG Versicherungsvertreter, die vom Versicherer betraut sind und von ihm eine Provision erhalten, und Versicherungsmakler, die vom Versicherungsnehmer beauftragt werden, ihre Vergütung (Courtage) aber vom Versicherer erhalten. Versicherungsberater (§ 59 Abs. 4 VVG) beraten Kunden gegen Honorar und sind vom Versicherer unabhängig. Politisch wird diskutiert, den Vertrieb ganz auf Honorarberatung umzustellen, um die Nachteile provisions- oder courtageabhängigen Vertriebs zu vermeiden.
Literatur
C. Armbrüster: Privatversicherungsrecht, 22019 • K.-U. Erdmann/D. Kaulbach (Hg.): Grundzüge des Versicherungsaufsichtsrechts, 22019 • M. Wandt: Versicherungsrecht, 62016 • A. Bruns: Privatversicherungsrecht, 2015 • A. Matusche-Beckmann/P. Reiff: Versicherungsvertrieb, in: R. M. Beckmann/A. Matusche-Beckmann (Hg.): Versicherungsrechtshandbuch, 32015, § 5 • J. Petersen: Versicherungsunternehmensrecht, 2003 • G. A. Benkel: Der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, 2002.
Zeitschriften:
Recht und Schaden, ab 1974 • Zeitschrift für Versicherungsrecht, ab 1950 • Versicherungswirtschaft, ab 1946 • Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, ab 1901.
Empfohlene Zitierweise
P. Pohlmann: Versicherungsrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Versicherungsrecht (abgerufen: 03.12.2024)