Finanzwissenschaft

1. Gegenstand

Die F. beschäftigt sich mit der Rolle des Staates in der Wirtschaft. Der Staat greift in fast alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens ein, z. B. durch Regulierung (Bankenregulierung, Umweltstandards), Besteuerung (z. B. ESt, MwSt) und Staatsausgaben (z. B. Finanzierung öffentlicher Güter, Sozialpolitik). Die F. analysiert die tatsächliche Ausgestaltung der Politik in diesen Bereichen, erforscht ihre Auswirkungen auf das Verhalten von Individuen und Unternehmen und leitet Politikempfehlungen ab. Traditionell ist der Kernbereich der finanzwissenschaftlichen Forschung die Analyse der Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalte; seit den letzten Jahrzehnten werden zunehmend weitere Bereiche (z. B. Verteilungspolitik, Umweltökonomik, neue politische Ökonomie) als Teile der F. gesehen. Diese Entwicklung spiegelt sich auch darin wieder, dass im angelsächsischen Sprachraum der Ausdruck Public Economics die ältere Bezeichnung Public Finance weitgehend verdrängt hat.

2. Geschichte

Die F. hat ihre Ursprünge im Kameralismus des 17. und 18. Jh. und geht somit noch auf die Zeit vor den klassischen Nationalökonomen (Klassische Nationalökonomie) wie Adam Smith und David Ricardo zurück. Ziel der Kameralisten war die Sicherstellung der Solidität der Staatsfinanzen, um den Wohlstand absolutistischer Landesfürsten (Absolutismus) zu sichern. Bei den klassischen Nationalökonomen des 18. und frühen 19. Jh. war die Rolle des Staates hingegen auf Landesverteidigung, Infrastruktur und Bildung begrenzt; die Einflussmöglichkeiten des Staates sollten eher beschränkt als erweitert werden. Die Hauptfragestellung war, wie der Staat die auch für diese minimale Rolle notwendigen Finanzmittel erhält, also bspw. wie das Steuersystem möglichst verzerrungsfrei gestaltet werden kann. Der Hauptbeitrag der Neoklassiker in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zur F. war methodisch: Sie führten die Marginalbetrachtung ein, welche die methodische Grundlage der modernen F. bildet.

Im 20. Jh. haben sich zwei parallele Strömungen entwickelt, die die Staatstätigkeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Die normative Theorie der Staatstätigkeit untersucht, wie ein wohlwollender sozialer Planer die Einnahmen und Ausgaben des Staates gestalten würde. Die Ziele des sozialen Planers werden dabei bspw. durch soziale Wohlfahrtfunktionen abgebildet. Darüber hinaus wird analysiert, wie der Staat Marktversagen (verursacht z. B. durch externe Effekte oder öffentliche Güter) beheben kann. Erik Lindahl, Arthur Pigou, Ronald Coase und Richard Musgrave haben aus dieser Perspektive wichtige Erkenntnisse beigetragen. Die positive Theorie hingegen hat das Ziel, beobachtete Handlungen zu erklären. Sie beschreibt, wie rationale Individuen auf Staatseingriffe reagieren. Des Weiteren analysiert sie, wie Entscheidungen über Staatstätigkeit getroffen werden. Dem Grundsatz des methodologischen Individualismus folgend baut die positive Theorie darauf auf, dass Politikentscheidungen immer von Individuen mit eigenen Zielen (z. B. Wiederwahl) getroffen werden. Vertreter sind bspw. Knut Wicksell, James Buchanan und Gordon Tullock. In den letzten Jahrzehnten hat zusätzlich die ökonometrische Analyse (Ökonometrie) stark an Bedeutung in der F. gewonnen. Dabei werden mit empirischen Daten u. a. die tatsächlichen Folgen staatlicher Eingriffe untersucht. Die ökonometrische Analyse unterstützt und untermauert so positive und normative Analysen.

3. Kernthemen

Die Aufgaben des Staates zur Gestaltung der Wirtschaftstätigkeit werden seit R. Musgrave üblicherweise in drei Teilbereiche untergliedert. Demnach hat der Staat eine Allokationsfunktion, eine Verteilungsfunktion und eine Stabilisierungsfunktion.

Die allokative Aufgabe des Staates ist es, eine effiziente Aufteilung und Verwendung von knappen Ressourcen zu ermöglichen bzw. die Akteure in einer arbeitsteiligen Wirtschaft zu koordinieren. Ein perfekter Markt führt zu einer effizienten Allokation. Versagt der Markt, bspw. aufgrund von externen Effekten, öffentlichen Gütern oder natürlichen Monopolen, kann ein Staatseingriff eine effiziente Allokation herstellen. Auch unvollständige Informationen oder verhaltensökonomische Beschränkungen der Marktteilnehmer können verhindern, dass der Markt ein effizientes Ergebnis herbeiführt, und so Staatseingriffe rechtfertigen.

Eine effiziente Allokation führt allerdings nicht notwendigerweise zu einer Situation, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft entspricht. Daher hat der Staat auch eine Verteilungsfunktion, d. h. er greift in die Wirtschaft ein, um die Einkommens- oder Vermögensverteilung zu verändern. Dies geschieht vorrangig durch die Ausgestaltung der Sozialversicherung und der ESt. Das Ziel ist hierbei, die soziale Sicherung und das Steuersystem so auszugestalten, dass die Arbeitsanreize und weiteres Verhalten nicht in unerwünschter Weise verzerrt werden.

Eine dritte Aufgabe des Staates ist nach R. Musgrave der Ausgleich von Konjunkturschwankungen. Diese Stabilisierungsfunktion des Staates wird heute teilweise in der Makroökonomik analysiert. Fragestellungen im Grenzbereich sind bspw. die Analyse der Auswirkungen von Staatsverschuldung auf den finanziellen Spielraum des Staates und das Wirtschaftswachstum.

Neben diesen Aufgaben des Staates zur Gestaltung der Wirtschaft analysiert die F. die Bedingungen, unter denen der Staat handelt. Ein Aspekt ist dabei, dass die Staatstätigkeit durch äußere Faktoren beschränkt wird. Jeder Staat steht mit anderen Staaten im Wettbewerb um mobile Faktoren. Mobiles Kapital und Unternehmensgewinne können daher nur eingeschränkt besteuert werden. Auch unterschiedliche Ebenen des Staates (wie Bund, Länder, Gemeinden) konkurrieren untereinander (Fiskalföderalismus). Hier untersucht die F. z. B., welche Staatsaufgaben auf welcher Ebene ausgeführt werden sollten.

Auch die Eigeninteressen von Politikern und Parteien beeinflussen die Handlungsmöglichkeiten des Staates. Dies wird in der Neuen Politischen Ökonomik (oder Public Choice-Theorie) untersucht. Der Fokus liegt dabei auf der Erklärung des tatsächlichen Verhaltens politischer Organe. Basierend auf der Grundannahme des methodologischen Individualismus wird untersucht, welche Politikentscheidungen Politiker treffen, wenn sie ihren eigenen Nutzen maximieren.

4. Methodik

Die moderne F. bedient sich aller Methoden der VWL. Ein Schwerpunkt ist die theoretische Analyse, bei der finanzwissenschaftliche Zusammenhänge durch mathematische Modelle abgebildet werden. So können bspw. Fragen nach der optimalen Ausgestaltung von staatlichen Eingriffen (u. a. Optimalsteuertheorie) beantwortet werden. Dabei wird oft das Modell des Homo Oeconomicus genutzt; es kann aber auch begrenzte Rationalität abgebildet werden. Modelle werden teilweise durch Simulationen ergänzt, bspw. um die Auswirkungen einer möglichen Reform quantifizieren zu können.

Der zweite Schwerpunkt der finanzwissenschaftlichen Forschung ist die empirische Arbeit, bei der die verschiedenen Methoden der Ökonometrie eingesetzt werden. In den letzten Jahren zeigt sich eine zunehmende Tendenz zur Empirie. Das Ziel ist dabei, soweit möglich kausale Zusammenhänge aufzuzeigen. Dazu werden auch verstärkt Feld- und Laborexperimente genutzt.