Jugendkriminalität

J. bezeichnet Handlungen, die nach allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen mit Strafe bedroht sind und von Jugendlichen begangen werden. Der Begriff umfasst somit ein breites Spektrum von Straftaten, das von Eigentums- und Gewaltdelikten bis zu Verstößen gegen das BtMG reicht. In Deutschland sind Jugendliche ab 14 Jahren strafmündig. Von diesem Alter bis zu 18 Jahren werden Jugendliche, je nach persönlichem Entwicklungsstand und Delikttyp auch Heranwachsende unter 21 Jahren nach dem JGG behandelt. Dieses folgt primär dem Ziel der Prävention weiterer Verfehlungen und orientiert sich daher seinem Anspruch nach am Erziehungsgedanken, ohne jedoch den Strafcharakter gänzlich zu verlieren (§§ 1 ff. JGG).

Neben diesen formalrechtlichen Bestimmungen sind im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch mit J. auch jugendtypische Delikte und jugendspezifische Ursachen für Straftaten gemeint. Jugendtypische Delikte sind solche, die aus den Lebenswelten von Minderjährigen, Schulpflichtigen und sozioökonomisch Abhängigen hervorgehen oder von Jugendgruppen wie Gangs, Banden oder Cliquen begangen werden. Die jugendspezifischen Ursachen hängen eng mit der Lebensphase zusammen, in der sich Jugendliche befinden. Sie durchleben eine Zeit des Übergangs und sind vor die Aufgabe gestellt, eine eigenständige Rolle in der Gesellschaft zu finden. Dabei rebellieren sie oftmals gegen gesellschaftliche Ordnungen und nehmen Anstoß an Konventionen. Weil J. mit den Anforderungen und Zumutungen der Jugendphase verwoben ist, gilt sie weithin als ein passageres oder episodenhaftes, d. h. als ein vorübergehendes, mit dem Erwachsenwerden wieder verschwindendes Phänomen. Gewalttätiges und antisoziales Verhalten setzen allerdings bei Intensivtätern häufig bereits vor der Jugendphase ein und verfestigen sich zu weit in das Erwachsenenleben hinein fortbestehenden Dispositionen.

Grundlegende Erklärungsansätze zu J. wurden vornehmlich in der US-amerikanischen Soziologie entwickelt. Als bes. prägend für die weitere Theoriebildung erwies sich die Anomietheorie (Anomie) von Robert King Merton. Am US-amerikanischen Beispiel analysiert R. K. Merton die Widersprüche einer Gesellschaft, deren kulturelle Struktur durch die Idee der Chancengleichheit und den Glauben an die Aufstiegsmöglichkeiten für alle Gesellschaftsmitglieder geprägt ist. Die im Bewusstsein aller Schichten verankerten ökonomischen Erfolgsziele stehen jedoch, so R. K. Merton, in einer Spannung zu einer Sozialstruktur, die es den minder privilegierten Schichten kaum gestattet, diese Ziele tatsächlich zu realisieren; nicht jeder könne, dem amerikanischen Traum folgend, vom Tellerwäscher zum Millionär werden. Daraus entstehe ein „anomischer Druck“ (Merton 1938: 672) zur Abweichung. Eine Möglichkeit, diesen Druck zu bewältigen, sei die Anwendung illegitimer Mittel zur Erreichung der kulturell vermittelten Erfolgsziele. Diese Reaktion auf den anomischen Druck bezeichnet R. K. Merton als „Innovation“ (Merton 1938: 678) und bezieht sich auf eine Form der kriminellen Abweichung, die gerade durch die Orientierung an konventionellen Normen zustande kommt. Obwohl diese Theorie zunächst nicht spezifisch auf J. geeicht war, wurde sie vielfach erfolgreich angewandt, um Drogenhandel, Einbruchs-, Raub- und Betrugsdelikte von Jugendlichen zu erklären.

R. K. Mertons Anomietheorie bildet auch das Fundament der einflussreichen Subkulturtheorie von Albert Kircidel Cohen. Er stellte fest, dass Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten auch kollektive Lösungen für das Problem finden können, keine Aussichten auf einen respektablen Status nach den Kriterien der herrschenden Kultur zu haben. Sie schließen sich in Gruppen oder Gangs zusammen, die neue Statuskriterien entwickeln, denen die Jugendlichen zu genügen in der Lage sind. Die Handlungsorientierung dieser delinquenten Gruppen beschreibt A. K. Cohen als „negativistisch“ (Cohen 1955: 28): Sie verkehren die Normen der dominanten Mittelschichten in ihr Gegenteil; was gesetzestreuen Bürgern als erstrebenswert gilt, lehnen sie als verabscheuungswürdig ab.

Neuere Ansätze weisen Ähnlichkeiten zu denen von R. K. Merton und A. K. Cohen auf. Sie führen verschiedene Erscheinungsformen von J. auf soziale Ungleichheiten, sozialstrukturelle Verwerfungen, gesellschaftliche Desintegrationserscheinungen, Diskriminierungserfahrungen (Diskriminierung) und die Verletzung staatsbürgerlicher Gleichheitsansprüche zurück.

Neben Ansätzen, die J. aus der Spannung zwischen sozialstrukturellen Lagen und normativen Erwartungshorizonten erklären, bilden interaktionistische Ansätze ein zweites Grundparadigma. Theoriegeschichtlich prägend wurde hier der sogenannte Labeling Approach bzw. die Etikettierungstheorie in der Formulierung von Howard Saul Becker. Er hat zunächst auf das fundamentale Faktum hingewiesen, dass keine Handlung in sich normabweichend ist, sondern erst durch soziale Zuschreibung und Klassifizierung zu einer Abweichung wird. Die Bezeichnung „kriminell“ ist demnach keine interne Qualität eines bestimmten Handelns, sondern das Ergebnis der Anwendung gesellschaftlich konstruierter Normen. Darauf aufbauend hat H. S. Becker auf die prozesshafte Entstehung einer devianten Identität (Devianz) hingewiesen, die er als das Produkt eines Zusammenspiels zwischen Handlungen und darauf bezogener gesellschaftlicher Reaktionen beschrieben hat. Kriminalisierende Zuschreibungen erweisen sich in dieser Perspektive als eine sich selbst erfüllende und verstärkende Prophezeiung.

Untersuchungen zu J., die an den Labeling Approach anschließen, haben auf die Selektivität sozialer Normen und ihrer Anwendung aufmerksam gemacht: Das Verhalten von Jugendlichen unterliegt einem höheren Risiko, kriminalisiert und sanktioniert zu werden, als das anderer Altersgruppen. Jugendliche aus ethnischen Minderheiten, sozial deprivierten Klassen und Armutsvierteln werden bes. stark kontrolliert, überproportional häufig angezeigt, von Gerichten verurteilt und inhaftiert. Erkenntnisse des Labeling Approach und die Einsicht in die verhaltenssteuernden Effekte von Stigmatisierungen spielten in vielen Ländern eine große Rolle bei der Reform des Jugendstrafrechts.

In den letzten Jahrzehnten haben sich einige Ansätze herausgebildet, die sich stärker mit situativen Aspekten der J. auseinandersetzen und zu der Erkenntnis geführt haben, dass die mit ekstatischen und rauschhaften Zuständen verbundenen Erlebnisse krimineller Akte (Kriminalität) zu einer Motivationsquelle eigener Art werden können. Diese „intrinsischen Motive“ (Sutterlüty 2002: 77), die jugendliche Gewalttäter, Ladendiebe, Straßenräuber oder Bandenkämpfer zu immer neuen Taten anstacheln können, hängen einerseits mit den außeralltäglichen Erfahrungsgehalten kriminellen Handelns zusammen, andererseits sind sie aber auch das Ergebnis einer von Missachtung geprägten Sozialisation.