Kult

  1. I. Theologisch
  2. II. Soziologisch

I. Theologisch

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1. Begriffsklärungen

K. (abgeleitet von colere) bezeichnet religionsgeschichtlich das dienende und verehrende Verhalten der Menschen gegenüber ihren Gottheiten. In der Bibel wird mit dem Begriff insb. der Jerusalemer Tempel-K. bezeichnet. Bereits vor der Zerstörung des Tempels und dem Ende des Opfer-K.s im Jahr 70 n. Chr. setzte jedoch schon eine Spiritualisierung des Opfer-K.es ein, die im NT durch die Konzentration auf Jesus Christus, den einzigen Hohenpriester des Neuen Bundes (Hebr) personalisiert und radikalisiert wurde. Alle Formen christlicher K.-Praxis in Gebet, Verkündigung und Leben sind metaphorisch (logike latreia: Röm 12,1; 1 Kor 5,19 f.).

Das lateinische Wort cultus wird in der kirchlichen Rechtssprache für die Liturgie verwendet. Hier wird K. umfassender als menschliche Befähigung verstanden, mittels symbolischer Handlungen den Sinn der Welt wahrzunehmen, darzustellen und zu begreifen, dadurch ihren Bestand zu wahren oder zu erneuern durch eine eingegangene und gefestigte Gemeinschaft mit Gott. Auch scheinbar rein säkulare Formen lassen sich als K. deuten, etwa Identifikations- und Verehrungsrituale in Bezug auf ein Idol im Bereich des Sports oder des Entertainments.

Das Wort leiturgia entstammt dem profanen Bereich. Es bezeichnet im antiken Griechenland einen öffentlichen Dienst oder eine Dienstleistung reicher Bürger für das Gemeinwesen. Die Septuaginta verwendet den Begriff für den K.-Dienst der Priesterschaft im Jerusalemer Tempel. Im Hebräerbrief wird diese Terminologie auf Christus angewendet (Hebr 8,6). Erst in nachbiblischer Zeit bezeichnet leiturgia den christlichen Gottesdienst, speziell die Eucharistiefeier (bes. in Byzanz). In dieser Bedeutung taucht der Begriff bei den Humanisten des 16. Jh. wieder auf und erweitert sich seit dem 19. Jh. für den Gottesdienst allg.

Der weiter gefasste Begriff Ritual erlaubt einen anthropologischen Betrachtungswinkel auf die christliche K.-Praxis. Allerdings existiert bislang keine konsensfähige Definition. Ritual wird einerseits mit Wiederholbarkeit und Tradition konnotiert, andererseits als etwas grundsätzlich Kreatives und Transformierendes verstanden.

Das deutsche Wort Gottesdienst ist abgeleitet vom lateinischen opus Dei. Es integriert als Genitivus subiectivus und obiectivus die Aspekte der Heilsvermittlung (katabatisch) und der Verehrung bzw. Anbetung (anabatisch) und entspricht dem dialogischen und partizipativen Verständnis von Liturgie, das das rein kultisch-anabatische korrigiert. Nach dem Verständnis der Bibel ergreift stets Gott die Initiative, auf die der Mensch antwortet. Dementsprechend definiert das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Liturgiekonstitution kultisches Handeln dialogisch: „Aus der Liturgie, besonders aus der Eucharistie, fließt uns wie aus einer Quelle die Gnade zu; in höchstem Maß werden in Christus die Heiligung der Menschen und die Verherrlichung Gottes verwirklicht, auf die alles Tun der Kirche als auf sein Ziel hinstrebt“ (SC 10); zugleich stellt die Konstitution die Rahmenbedingungen für die Reform des gesamten gottesdienstlichen Spektrums auf. Sie betrifft die Initiation (Taufe, Firmung, Eucharistie) und die anderen Sakramente und verwandten Feiern (Sakramentalien, Benediktionen), Tagzeitenliturgie und Kirchenjahr sowie Kirchenmusik, Kirchenkunst sowie Kirchenraum mit seiner Ausstattung.

2. Anthropologische Aspekte

Doch bleibt die Dimension des Kultischen auch für das Christentum essentiell. Nach Richard Schaeffler fügt der Kultus „dem Wirken Gottes kein menschliches Werk hinzu; er muss vielmehr als die Gestalt begriffen werden, in der Gottes Wirken – und dieses allein! – neue Gegenwart in der Welt gewinnt“ (Schaeffler 1974: 61). Nicht um Gottes willen, sondern um des Menschen willen braucht es den K.: „Die Bemühung von Individuen und Gemeinschaften, Kontinuität ihres Lebens zu stiften und so zu ihrer Identität zu finden, macht die Bedeutung des Kultus im Leben des Menschen und der Gesellschaft offenbar“ (Schaeffler 1991: 17). Der K. versetzt die Feiernden in die Gleichzeitigkeit mit dem Gefeierten, wobei die Einmaligkeit des im K. Vergegenwärtigten nicht aufgehoben wird. R. Schaeffler bringt das Verhältnis zwischen der Erinnerung und der gottesdienstlichen Feier auf die Formel: „Die Erinnerung gibt dem Fest seinen Gehalt; die Feier des Festes gibt der Erinnerung ihre gegenwärtig neuschaffende Kraft. Und deshalb sind religiöse Feste nicht nur Ausdrucksformen einer rückwärtsgewandten Erinnerung, sondern zugleich die Stunden radikaler Erneuerung der religiösen Überlieferungsgemeinschaft“ (Schaeffler 2004: 126 f.).

Die Aufgabe des K.s erschöpft sich aber nicht darin, Kontinuität zu stiften. Als rite de passage muss er auch Diskontinuitäten zulassen, um in eine neue Lebenssituation sowohl des Individuums als auch der Gemeinschaft zu begleiten. Christlicher Gottesdienst ist als K. die rituelle Inszenierung menschlicher Lebenswelt. Insofern hat der K. eine dem Menschen dienende Funktion und bedarf, wie schon im AT bezeugt, der Reformen und Innovationen.

3. Biblische und systematisch-theologische Aspekte

Erik Peterson leitet den Begriff der Liturgie wie denjenigen der Ekklesia aus dem Staatsrecht ab. Für ihn sind die Wirklichkeit des Dogmas und die visio beatifica des engelgleichen, erlösten Menschen keine individuellen mystischen Erfahrungen, sondern soziale Gegebenheiten: „Dogma und Schau werden real in der Ekklesia und ihrem Kult“ (Meyer-Blanck 2012: 451). Zugleich wird der K. aber eschatologisch begründet, ist kosmische Anbetung. Die Haltung E. Petersons in Bezug auf die Wirklichkeit des christlichen K.s ist ambivalent. Einerseits betont er, v. a. in seinem Römerbriefkommentar, die Rationalität der Liturgie; sie ist „vernunftgemäßer Gottesdienst“ (Röm 12,1). Andererseits stellt er die Kategorie der „himmlische[n] Liturgie“ (Peterson 2010: 48) so sehr in den Mittelpunkt, dass die irdische ihren Wirklichkeitsgehalt zu verlieren droht. Karl Barth stellt E. Petersons K.-Verständnis radikal infrage. Nach seiner Meinung nimmt E. Peterson die Inkarnation des Logos nicht ernst. Für K. Barth ist die in der Menschwerdung grundgelegte Kenosis des Gottessohnes die entscheidende Kategorie für die ganze Schöpfungslehre, also auch für die Angelologie. Christliche Existenz verwirklicht sich im höchsten Maße dann, wenn der Mensch ganz Mensch wird. Darum findet für K. Barth der K. als Gottesdienst des Lebens auf Erden statt. Das Bild der „Himmlischen Liturgie“ hat freilich auch für ihn insofern Bedeutung, als es im dialektischen Sinn die Unbedingtheit der Gottesbeziehung i. S. d. authentischen, „reinen“ Zeugnisses vor Augen stellt (Gerhards 2017: 407).

4. Praktisch-theologische Aspekte

In dem Konflikt zwischen dem konvertierten Katholiken E. Peterson und dem reformierten Protestanten K. Barth spiegelt sich nicht zuletzt das Spektrum konfessioneller liturgischer Identitäten. Christlicher K. wird sich immer zwischen den Polen einer platonisch geprägten Jenseitigkeit und einer modern radikalisierten Diesseitigkeit verorten lassen müssen, um seinem Auftrag gerecht werden zu können, zwischen kultischer Praxis und K.-Kritik. Der konfessionelle Zwiespalt reflektiert die „Liturgiekrise“, die sich bereits in der alten Kirche ereignete, als sich die Christenheit nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels neu zu organisieren hatte. Nun fiel der Bezugspunkt weg und damit die Möglichkeit der kultischen Selbstdefinition. Infolge der intrinsischen Ambivalenz der kultischen Dimension gottesdienstlichen Handelns stellt sich die Liturgiegeschichte der Kirche als eine Geschichte der Krisen und der verhinderten oder vollzogenen Reformen dar. Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils war restriktiv gegenüber traditionell kultischen Elementen der sogenannten Tridentinischen Liturgie, was auch der zeitgenössischen Stimmung der 60er und 70er Jahre entsprach. Gegenüber dem kultisch-anabatischen Verständnis der traditionellen Liturgie betonte sie ein dialogisches, in dem das (katabatische) Handeln Gottes – der „K.“, den Gott den Menschen leistet – den Vorrang hat. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse etwa aus den Ritualstudien, aber auch die praktische Erfahrung der Jahrzehnte nach der Liturgiereform haben die Unverzichtbarkeit der kultischen Dimension erwiesen. Seitdem erfuhr auch das Bild im Kirchenraum nach einer Phase der Bilderlosigkeit als K.-Bild eine Renaissance. In der konkreten Feiergestalt gilt es, jeweils situativ die Mitte zwischen K. und K.-Kritik zu finden.

II. Soziologisch

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Nach der Abwertung des K.es durch die aufklärerische Religionskritik im 19. Jh., verwenden die Klassiker der Religionssoziologie (Émile Durkheim, Max Weber, Ernst Troeltsch) den Begriff wieder in seinem ursprünglichen Sinne als sowohl in den Natur- wie den Hochreligionen anzutreffende Verehrung Gottes oder des Göttlichen. Abgeleitet vom lateinischen „pflegen“ fassen sie den K. als die Begegnung mit dem Heiligen auf, die einer besonderen, sich vom Alltag abhebenden Sphäre bedürfe, an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sei und i. d. R. Vermittler (meist Priester) benötige, wobei K.-Berechtigte oft ausschließlich Männer seien. É. Durkheim und M. Weber gehen von der Prämisse aus, dass religiöse Praktiken und Gedankensysteme zusammengehören, ein lebendiger K. für das Weiterbestehen der Religion wesentlich sowie in der Lage sei, den Glauben zu festigen und zu erneuern. Nach M. Weber werden die religiösen Vorstellungen erst „durch ein kontinuierlich einem und demselben Gott gewidmetes Tun, den ‚Kultus‘, und durch seine Verbindung mit einem kontinuierlichen Verband von Menschen, eine Dauergemeinschaft“, gesichert (Weber 1985: 250). Aus einer Verbandsbildung entstehe i. d. R. auch eine für den K. zuständige Priesterschaft, wobei es aber auch K.e ohne gesondertes Priestertum (etwa in China oder dem alten Buddhismus) gebe. Sofern sich eine Priesterschaft herausbilde, wird nach E. Troeltsch oftmals eine scharfe Trennlinie zum Laientum gezogen, die in Kleidung, K.-Sprache und Lebenshaltung sichtbar werde. M. Weber ordnet unterschiedliche K.-Formen auch unterschiedlichen Schichten zu und hebt die Geschlechterdifferenz im K. hervor. So gewähre die Religiosität der „negativ Privilegierten“ Frauen eher gleiche Rechte als etwa der extrem maskuline Mithras-K. oder politisch-militärische K.e wie der Islam. Dabei zeuge die Existenz von Priesterinnen allerdings noch nicht von einer kultischen Gleichstellung der Frauen als solcher. Umgekehrt könne auch „die prinzipielle Gleichstellung in der Beziehung zum Göttlichen, wie sie im Christentum und Judentum, in geringerer Konsequenz im Islam und offiziellen Buddhismus besteht“ (Weber 1985: 297 f.) mit der Monopolstellung von Männern als Priestern einhergehen.

Neben den beiden Typen der religiösen Vergemeinschaftung „Kirche“ und „Sekte“ entwickelt E. Troeltsch einen dritten Typus: Mystiker und Spiritualisten, die sich in kleinen Gemeinschaften zusammenschließen. Einerseits betont E. Troeltsch, dass die im K. verfestigten Sinngehalte in mystischen Gruppen wieder wahrhaftig gelebt würden, andererseits sieht er eine Gefahr darin, dass der (christliche) K. seine innere Notwenigkeit verliere und bedeutungslos werde. Insofern setze die lebendige Religiosität der Mystiker die Fortdauer der institutionalisierten Religion voraus. E. Troeltsch und É. Durkheim befassen sich auch mit der Frage, wie sich der individuelle K. zu dem universalistischen wie gemeinschaftsstiftenden Charakter der meisten Religionen verhalte. É. Durkheims Antwort ist, dass die individuellen K.e nur individualisierte Formen kollektiver Kräfte seien. Der radikale Individualismus verkenne nämlich die Grundvoraussetzungen des religiösen Lebens, da der Glaube nie nur individuell sei, sondern das Individuum über sich selbst erhebe und mit der Gesellschaft verbinde.

Während die Ethnologie zunächst den K. als ursprüngliche der Religion vorausgehende Sozialform verstand, hat der Einfluss des Funktionalismus É. Durkheims dazu geführt, den K. als symbolische Wiederholung der mythischen Urhandlung aufzufassen und seinen sozialen Charakter stärker in den Blick zu nehmen. Mary Douglas hat die Beziehung des K.es zur Sozialstruktur aufgezeigt und dargelegt, dass Reinheits- und Unreinheitsrituale versuchten, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. die Verbindung zum Heiligen wieder herzustellen. Sie interpretiert die biblischen Speisegesetze als Zeichen, „die in jedem Moment zum Nachdenken über die Einheit, Reinheit und Vollkommenheit Gottes anregten“ (Douglas 1985: 78) und Teil des großen liturgischen Aktes waren.

Die angelsächsische Religionssoziologie griff die Begriffstypologie E. Troeltschs auf, v. a. dessen dritten Typus, den sie als K. (cult) bezeichnete, der neben Kirche und Sekte eine eigene Sozialform der Religion darstelle, wobei der Begriff v. a. zur Erklärung neuer religiöser Gruppen und Bewegungen (Neue Religiöse Bewegungen) diente, aufgrund der negativen Implikationen jedoch nicht mehr benutzt wird. In der neueren religionssoziologischen Theoriediskussion tritt der Begriff des Ritus bzw. Rituals an die Stelle des K.-Begriffs, während dieser aus theologischer Perspektive als liturgische Kategorie wieder fruchtbar gemacht wird, wobei die katholische Kirche explizit zwischen Kultus (Verehrung Gottes) und Liturgie (Messe, Sakramente) unterscheidet.