Mehrheitsprinzip
I. Gestaltungsfaktor des politischen Systems
Abschnitt drucken1. Leitgedanken
Das M. wirkt nur auf den ersten Blick wie eine triviale Abstimmungsregel über Sach- oder Personalfragen, welche in Dissens- oder Konfliktfällen aus individuellen Präferenzen effizient eine kollektive Entscheidung macht, die von der unterlegenen Minderheit erwartbar mitgetragen wird und somit integrierend wirkt.
Nur wenn sich das Gemeinwohl vorab bestimmen oder von Klügeren (pars sanior) erkennen ließe, entfielen dann Pluralismus und Konflikte. „Wissende“ herrschen nämlich wie Platons weise „Philosophenkönige“. Gilt ein solcher Politikansatz für sachlich unbegründet oder in seinen Konsequenzen für freiheitsgefährdend, bleibt als akzeptable Entscheidungsregel allein das M. Demnach hat politischer Streit, idealerweise nach fair geführten Beratungen (Deliberation) und unter den Bedingungen von Kommunikations- und Meinungsfreiheit, zu enden mit einer freien Abstimmung, die allgemein verbindlich feststellt, was die Mehrheit der Abstimmenden wünscht. Natürlich muss vorab festgelegt sein, für wen die Mehrheitsentscheidung welcher Abstimmungsteilnehmer gilt, nach welchen Verfahrensregeln sie zu treffen ist, und ob die Abstimmenden ein gleiches oder ein abgestuftes Stimmrecht haben. Mit dem Demokratieprinzip teilidentisch ist das M. nur dann, wenn eine gemäß M. entscheidende Körperschaft, etwa ein Parlament, über freie Wahlen an ein Staatsvolk rückgebunden ist oder dieses Staatsvolk bei Wahlen oder Abstimmungen selbst nach dem M. entscheidet.
Je nach Entscheidungsinhalt kann man immer größere Mehrheiten fordern: von der relativen Mehrheit unter den Abstimmenden (einfache Mehrheit) über die Mehrheit der Gesamtstimmenanzahl eines Abstimmungsgremiums (absolute Mehrheit) bis hin zu noch höheren Mindestmehrheiten, etwa einer Zweidrittel-, Vierfünftel- oder Dreiviertel-Mehrheit (qualifizierte Mehrheit). Solche Mehrheiten können sich beziehen auf jene, die an der Abstimmung teilnehmen, oder auf jene, die abstimmungsberechtigt wären (Quorum). Je größer die Mehrheitsanforderungen werden, umso mehr nimmt die Vetomacht von – zumal gut organisierten – Minderheiten zu. Das kann gewünscht sein, um vor einer Entscheidung, zumal über bes. wichtige Themen, möglichst viele Sichtweisen und Interessen integrations- und legitimitätssichernd in die zur Entscheidung führende Willensbildung einzubeziehen. Am umfassendsten gelingt das bei geforderter Einstimmigkeit (Konsensprinzip, Konsensdemokratie). Hingegen sind die Transaktionskosten des Entscheidens bei einfacher Mehrheit am geringsten. Um die Wahrscheinlichkeit dabei rein situativ zustande kommender Zufallsmehrheiten auszuschließen, oder um derlei Entscheidungsprozesse zu entschleunigen, kann man – gleichwie qualifizierte – Mehrheiten auch in zwei oder mehr aufeinander folgenden, zeitlich getrennten Wahlgängen fordern. Dadurch steigert sich allerdings das Risiko von Nicht-Entscheidungen, von Politikblockaden und somit des Verzichts auf politisches Gestalten, woraus meist Legitimitätsprobleme resultieren. Zu beachten ist ferner, dass die durchschnittlichen Auswirkungen des M.s stark von der konkreten Ausgestaltung seiner Anwendungsregeln und seines institutionellen Kontexts abhängen.
2. Vorteile
Keineswegs geht mit dem M. der Glaube einher, Mehrheit verbürge Wahrheit, oder es verkörpere der Mehrheitswille eine Art „Gesamtwillen“. Gerechtfertigt wird das M. vielmehr aus anderen Gründen. Erstens sind Einzelherrschaft, Minderheitsherrschaft oder Konsensprinzip als Alternativen um M. viel weniger plausibel. Zweitens stellt das M. einem politischen System viel größere Lernfähigkeit und Legitimationskraft in Aussicht als jede Alternative. Der einschlägige Wirkungszusammenhang ist der „Mehrheitsmechanismus“: Im fair ausgetragenen Streit von scharf argumentierenden Konfliktparteien wird i. d. R. sichtbar, welche Vor- und Nachteile die Verwirklichung eines bestimmten Interesses für wen haben könnte, oder welche Vorzüge bzw. Schwächen eine konkurrierende Position aufweist; und falls am Ende eines solchen Streits gar eine absolute, Zweidrittel- oder noch größere Mehrheit erreicht werden muss, werden rationale Akteure sich von vornherein bemühen, Schwachpunkte der eigenen Position zu vermeiden sowie die Interessen erforderlicher Unterstützer zu berücksichtigen. Also setzt Zwang zum Lernen ein – oder es scheitern lernunwillige Akteure, solange Deliberation und Abstimmung fair sind. Und weil mehrheitsbildender Interessenausgleich oft nicht im Rahmen einer einzigen Entscheidung möglich ist, werden rationale Akteure „Geschäfte auf Gegenseitigkeit“ tätigen, z. B. bei Paketlösungen quer über inhaltlich verschiedene Entscheidungsmaterien, oder bei eigenem Entgegenkommen heute die Erwartung einer Gegenleistung in der Zukunft. Wer sich dabei illoyal verhält, schadet eigenen Interessen, was ein rationaler Akteur antizipiert oder aus Erfahrung lernt.
Liegen der Anwendung des M.s obendrein sorgfältig reduzierte und sinnvoll hierarchisierte Abstimmungsalternativen zugrunde, so wachsen die Chancen für eine halbwegs wirksame und viele Interessenlagen berücksichtigende Politik. Falls überdies das M. mit demokratischen Repräsentationsinstitutionen (Repräsentation) sowie mit dem Interesse von Repräsentanten an ihrer Wiederwahl gekoppelt wird, steigen auch die Chancen auf eine halbwegs gerechte Politik. Falls sich obendrein in den Massenmedien oder „sozialen Medien“ (Social Media) Unterstützung für mittel- und langfristige Problemlösungen gewinnen lässt, erhöhen sich außerdem die Chancen nachhaltiger Problemlösungen.
Zwar gibt es keinerlei Garantie dafür, dass das M. stets solche Folgen zeitigt. Doch aus Fehlern wird unter seinem Druck im weiteren politischen Streit oft gelernt, etwa durch den (drohenden) Verlust von Führungsämtern oder parlamentarischen Mehrheiten. Außerdem werden selbst als falsch angesehene oder sich als falsch herausstellende Entscheidungen immerhin als rechtens akzeptiert, wenn sie nach einem fairen Streit gefallen sind. Während also Politikfehler, die auf Minderheitsentscheidungen zurückgehen, leicht ein politisches System entlegitimieren können, welches sie zulässt, gerät unter dem M. selbst bei nachteiligen Folgen selten die Legitimität der politischen Ordnung insgesamt in Gefahr.
3. Akzeptanzvoraussetzungen
Erfahrungsgemäß wird das M. nur dann dauerhaft akzeptiert, wenn Minderheiten nicht um ihre zentralen Interessen oder gar um die Möglichkeit fürchten müssen, eines Tages wieder Teil einer Mehrheit zu werden. Große Bedeutung besitzt deshalb die Verhinderung einer „Tyrannei der Mehrheit“ durch die Sicherung des Rechts auf Opposition sowie durch Minderheitenschutz. Dem dient die Einführung inhaltlicher und prozeduraler Minderheitenrechte ebenso wie die Abstufung der Mehrheitsanforderungen, desgleichen die Einbettung des M.s in ein feinteiliges Gefüge von Gewaltenteilung sowie in entscheidungsvorbereitende Verhandlungssysteme, die Minderheiten überproportionalen Einfluss ermöglichen. Auch die Periodizität von Wahlen zu gemäß dem M. entscheidenden Gremien fördert dessen Akzeptanz.
Ins Risiko entlegitimierender Akzeptanzgrenzen gerät das M. bei Entscheidungsfragen von großer Tragweite oder faktischer Irreversibilität. Insgesamt birgt das M. eine umso geringere Gefahr von Spaltungen in der Gesellschaft, je homogener der Kreis derer ist, die ihre Konflikte entlang dem M. zu lösen versuchen, ein je größeres Zusammengehörigkeitsgefühl besteht, und als je tragfähiger sich der Basiskonsens über gemeinsame Werte, Verfahren und Institutionen erweist. Bei großer ethnisch-kultureller oder sozio-ökonomischer Heterogenität erscheint es deshalb vorteilhaft, deren freiheitliche Ordnung eher nach dem Proporzprinzip als nach dem M. zu gestalten (Majorzprinzip), also eher als Konkordanz- denn als Konkurrenzdemokratie.
Literatur
E. Flaig: Die Mehrheitsentscheidung, 2013 • P. Pasquino: Le principe de la majorité, 2010 • T. Helfen: Die Kritik am Mehrheitsprinzip als Herausforderung der repräsentativen Demokratie, 1992 • B. Guggenberger/C. Offe (Hg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, 1984 • W. Heun: Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983.
Empfohlene Zitierweise
W. Patzelt: Mehrheitsprinzip, I. Gestaltungsfaktor des politischen Systems, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Mehrheitsprinzip (abgerufen: 21.11.2024)
II. Wirtschaftswissenschaftliche Bedeutung
Abschnitt drucken1. Optimierung der Transaktionskosten
Das M. als Entscheidungsregel kann einfache, absolute (50 % + eine Stimme) und „qualifizierte“ (z. B. zwei Drittel) Mehrheiten voraussetzen. Je stärker man von der einfachen Mehrheit abrückt, desto größer wird die Status-quo-Wirkung des M.s, da die Organisation einer für Änderungen des Ist-Zustandes nötigen absoluten oder qualifizierten Mehrheit mit höheren politischen Transaktionskosten verbunden ist. Ob ein Mehrheitserfordernis optimal ist, hängt von zwei Kostenverläufen ab: den politischen Transaktionskosten einerseits, und der Gefahr einer Überwälzung von Kosten auf Minderheiten andererseits. Das optimale Mehrheitserfordernis befindet sich im Minimum der Gesamtkosten und ist je nach entschiedener Marterie unterschiedlich hoch.
2. Mehrheitsprinzip und Präferenzaggregation
Sollen individuelle Präferenzen zu einer kohärenten gesellschaftlichen Präferenzordnung aggregiert werden, sind Mehrheitsentscheidungen nur bedingt zielführend. Unter strengen Annahmen (insb. paarweise Abstimmung von Alternativen, Eingipfligkeit der individuellen Präferenzen und Eindimensionalität des politischen Problems) setzt sich die Medianwählerpräferenz bei einfacher und absoluter Mehrheit durch. In einem solchen Fall ist es aber kaum korrekt, vom „Willen der Wähler“ oder „des Volkes“ zu sprechen, da sich schlicht die Präferenz jenes Wählers durchsetzt, der zufällig entlang der entscheidenden Dimension des politischen Problems die Wählerschaft in zwei gleich große Hälften teilt.
Verallgemeinert man die Anforderungen an die Präferenzaggregation, so zeigte Kenneth Joseph Arrow, dass es keinerlei Entscheidungsverfahren gibt, das sicher eine logisch widerspruchsfreie gesellschaftliche Präferenzordnung generiert und gleichzeitig eine Reihe wünschenswerter Eigenschaften hat (insb. Nicht-Einschränkung der zulässigen individuellen Präferenzen, Immunität gegen Manipulation durch Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, sowie Nicht-Diktatur, d. h. die gesellschaftliche Präferenzordnung darf nicht vollständig und ausschließlich von den Präferenzen eines Individuums bestimmt werden). Dies betrifft auch und sogar das einfache M., bei dem bspw. die gesellschaftliche Rangfolge zwischen zwei Alternativen nicht unabhängig ist von einer möglicherweise hinzugefügten, aber eigentlich irrelevanten dritten Alternative.
Auf der anderen Seite zeigt das Theorem von Kenneth Ownsworth May, dass für eine Entscheidung zwischen nur zwei Alternativen die einfache Mehrheitsregel die einzige Regel ist, die vier wünschenswerte Anforderungen (Nicht-Einschränkung von Präferenzen, Gleichbehandlung aller Wähler, Neutralität gegenüber dem Ergebnis und Responsivität gegenüber individuellen Präferenzänderungen) erfüllt. Jedoch ist die Beschränkung auf zwei Alternativen in mehrfachen paarweisen Abstimmungen kein Weg, die vom Arrow-Theorem aufgezeigten Probleme zu umgehen, da dies wiederum zur Manipulierbarkeit führen würde. Es ist also insgesamt irreführend, von einem Resultat einer Mehrheitsabstimmung auf die Existenz eines widerspruchsfreien, in der Zeit stabilen und gegenüber Änderungen von Details des Abstimmungsverfahrens robusten Wählerwillens zu schließen. Es erscheint gerade in einer repräsentativen Demokratie eine Interpretation der Mehrheitsregel als pragmatischer Mechanismus zur Abwahl schlechter Repräsentanten (Repräsentation) angemessener.
3. Mehrheitsprinzip und Entscheidungsqualität
Zu einem weiteren Aspekt leitet die Frage, ob Mehrheitsentscheidungen zu qualitativ besseren Entscheidungen führen als individuelle Entscheidungen, falls es darum geht, die objektive Qualität zweier zur Auswahl stehender Alternativen zu unterscheiden. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn Einigkeit über das Ziel besteht, also individuelle Präferenzunterschiede vernachlässigbar sind, aber das effizienteste politische Instrument gefunden werden muss. Das Condorcet-Jury-Theorem zeigt, dass bei einfacher Mehrheitsabstimmung die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Entscheidung tatsächlich zunimmt, wenn die Zahl der Mitentscheidenden größer wird. Dies gilt, wenn alle Teilnehmer der Abstimmung mit einer individuellen Wahrscheinlichkeit größer als 0.5 die richtige Entscheidung treffen, also ein wenig besser sind als eine reine Zufallsentscheidung. Inzwischen gibt es zahlreiche Varianten dieses Theorems unter verschiedenen Annahmen.
Literatur
B. McCannon: Condorcet Jury Theorems, in: J. C. Heckelman/N. R. Miller (Hg.): Social Choice and Voting, 2015, 140–160 • D. C. Mueller: Public Choice, Bd. 3, 2003 • J. M. Buchanan/G. Tullock: The Calculus of Consent, 1961 • K. O. May: A Set of Independent Necessary and Sufficient Conditions for Simple Majority Decisions, in: EC 20/4 (1952), 680–684 • K. J. Arrow: Social Choice and Individual Values, 1951 • K. R. Popper: The Open Society and Its Enemies, Bd. 2, 1947.
Empfohlene Zitierweise
J. Schnellenbach: Mehrheitsprinzip, II. Wirtschaftswissenschaftliche Bedeutung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Mehrheitsprinzip (abgerufen: 21.11.2024)