Richterrecht
1. Begriff
R. im weiteren Sinne ist die Summe der im Rahmen der gerichtlichen Entscheidungspraxis von den zuständigen Spruchkörpern selbst gesetzten Rechtsnormen.
Wie heute allgemein anerkannt ist, determiniert das von den Gerichten im Streitfall anzuwendende Gesetzesrecht die gerichtliche Entscheidung niemals vollständig. Die richterliche Rechtsfindung erschöpft sich nicht in einem schlichten Vollzug des Gesetzesbefehls als bloßem Subsumtionsakt, sondern ist vielmehr stets und notwendig ein zweistufiger, aus Rechtserkenntnis mittels Auslegung des „vorgegebenen“ (Gesetzes-)Rechts und sich anschließender, dem Richter als integraler Bestandteil der ihm anvertrauten rechtsprechenden Gewalt „aufgegebener“ Rechtserzeugung in Individualisierung und Konkretisierung der interpretativ entfalteten abstrakt-generellen Gesetzesbestimmungen zusammengesetzter Prozess. In diesem Sinne entwickelt sich das Recht tatsächlich mit jedem zu entscheidenden Rechtsfall weiter. In dem vom anzuwendenden und erkannten Recht belassenen „Freiraum“, der durch autonome Wertsetzungen des insoweit zu Rechtsetzung ermächtigten Rechtsanwenders zu füllen ist, kommt die „individuelle“ und „konkrete“ Wirklichkeit zu „ihrem Recht“. Die Rechtsprechung entwickelt Grundsätze, welche die Entscheidung im Einzelfall normativ leiten sollen (BVerfGE 66,116,138). Die konkrete richterliche Normbildung (Norm), die die Kluft zwischen der abstrakten Gesetzesnorm und dem individuellen Fall überbrückt, indem sie gewissermaßen eine „Zwischenebene“ einzieht und in Maßstäben „mittlerer Reichweite“ das Abstraktionsniveau des allgemeinen Gesetzes auf ein anwendungsfähiges Maß absenkt, macht den Fall überhaupt erst entscheidbar.
Je allgemeiner die gesetzgeberische Zwecksetzung, je offener die gesetzlich formulierten Tatbestände und je unbestimmter die vom Gesetzgeber (Gesetzgebung) verwendeten Rechtsbegriffe, desto höher ist der rechtsetzende Anteil im Prozess richterlicher Rechtsgewinnung. Der stets gegebene Entscheidungsspielraum des Richters vergrößert sich bis hin zu „dezisionistischer Freiheit“ (Imboden 1971: 28) bei Generalklauseln, deren Anwendung eine umfassende, gesetzlich nicht vorstrukturierte Interessenabwägung erfordert, die durch Fallgruppenbildung angeleitet wird. Aber auch bei Gesetzesbestimmungen, die eine deutlich stärkere Steuerungskraft entfalten, bedarf es zur Herstellung von „Entscheidungsreife“ einer richterlichen Vervollständigung des aus sich heraus in aller Regel noch nicht unmittelbar die Entscheidung ermöglichenden gesetzlichen Normprogramms durch Entwicklung von das Gesetz konkretisierenden Entscheidungsmaßstäben.
R. in diesem weiteren Sinne kollidiert nicht mit der Gesetzesbindung des Richters: Soweit dem anzuwendenden Gesetz verbindliche Vorgaben des Gesetzgebers zu entnehmen sind, hat sie der zur Entscheidung berufene Richter zur Geltung zu bringen. Nur das, was das Gesetz offenlässt, kann und muss durch R. ausgefüllt werden.
2. Rechtswirkungen
R. bildet eine eigene Rechtsquelle, gilt aber im Gegensatz zum Gesetz nicht abstrakt-generell, sondern nur konkret-individuell: „Die in Konkretisierung des Gesetzes auf den zu entscheidenden Einzelfall hin gebildete Norm hat Rechtsgeltung nur für diesen und ist insbes. für die Entscheidung künftiger Fälle nicht verbindlich“ (Lorenz 1995: 922). Auch höchstrichterliche Rechtsprechung ist kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung (BVerfGE 122,248,277). Eine Ausnahme bildet das vom BVerfG in seiner Spruchtätigkeit geschöpfte Verfassungs-R.; es nimmt an der auf die tragenden Entscheidungsgründe erstreckten Bindungswirkung (im Gesetzesrang) nach § 31 Abs. 1 BVerfGG teil, die aber keine Selbstbindung des BVerfG impliziert.
R. stillt „das Bedürfnis nach anerkannten ordnungsstiftenden Konkretisierungen des Gesetzesrechts und [gewinnt] aufgrund der tatsächlichen Beachtung regelbildende Kraft“ (Kirchhof 2007: 129) und entfaltet damit eine über den Einzelfall hinausgehende Orientierungswirkung.
Ein Wandel des R.s selbst stellt sich nur als Problem einer – ggf. rückwirkenden – Rechtsprechungsänderung und einer dadurch möglicherweise enttäuschten Kontinuitätserwartung dar. Selbst die Änderung einer gefestigten Rechtsprechung ist aber unter Vertrauensschutzgesichtspunkten unbedenklich, sofern sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält.
Verfestigt sich R. durch beständige Übung, so kann es bei Hinzutreten einer entsprechenden Rechtsüberzeugung in den beteiligten Kreisen zu Gewohnheitsrecht erstarken.
3. Typologie und verfassungsrechtliche Bewertung
Es gibt gesetzeskonkretisierendes, gesetzesvertretendes und gesetzeskorrigierendes R.
a) Gesetzeskonkretisierendes R. ergänzt im oben angegebenen Sinne (1.) das von den dafür primär zuständigen Gesetzgebungsorganen gesetzte Recht, stellt also richterliche Rechtsfortbildung praeter legem dar.
b) An die Stelle eines fehlenden Gesetzes tritt R., wenn der Gesetzgeber trotz Regelungsbedürftigkeit ganze Rechtsgebiete – wie etwa Arbeitskampfrecht – ungeregelt lässt (gesetzesvertretendes R.). Hier drängt der Gesetzgeber selbst durch seine Untätigkeit den Richter in die Rolle eines Ersatzgesetzgebers. Eigentlich müsste der Gesetzgeber dazu angehalten werden, seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Regelung aller wesentlichen Fragen im Zusammenhang mit einem bestimmten Regelungsthema nachzukommen.
c) Wenn Gerichte in ihrer Entscheidungspraxis nicht bloß die vorgefundenen gesetzlichen Entscheidungsmaßstäbe anreichern (gesetzesergänzendes R.), sondern sich in Widerspruch zu dem bereits gesetzlich Vorentschiedenem setzen, liegt gesetzeskorrigierendes R. vor, das durch offen oder verdeckt betriebene Rechtsfortbildung contra legem gewonnen wird. Damit missachten Gerichte – vorbehaltlich einer sie dazu berechtigenden Ermächtigung – die Gesetzesbindung, üben verbotene Eigenmacht aus und maßen sich Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers an.
Wo genau die Grenze zwischen einer zulässigen gesetzeskonkretisierenden Auslegung und einer grundsätzlich unzulässigen (vgl. BVerfGE 35,263,280) richterlichen Gesetzeskorrektur liegt, ist umstritten. Nach richtiger Auffassung kommt es auf den mit der Norm vom historischen Gesetzgeber erkennbar verfolgten Normzweck an. Rechtsfortbildung überschreitet diese Grenze, „wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft“ (BVerfGE 126,286,306).
Vor diesem Hintergrund sind Analogiebildung und teleologische Reduktion grundsätzlich zulässige Methoden richterlicher Rechtsfindung; denn die Analogie setzt eine planwidrige, d. h. eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigte Regelungslücke voraus, die nach den gesetzlichen Wertungen geschlossen wird. Sie achtet damit den Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG). Die teleologische Reduktion führt, lege artis durchgeführt, unter Hintanstellung eines zu weit formulierten Normtextes zur Geltungsbeschränkung einer Gesetzesbestimmung auf die nach dem Willen des Gesetzgebers erfassten Sachverhaltskonstellationen, verwirklicht also die gesetzgeberische Absicht.
Soweit den Höchstgerichten bzw. bes.en Spruchkörpern derselben die Aufgabe der „Fortbildung des Rechts“ ausdrücklich überantwortet ist (§§ 132 Abs. 4 GVG, 45 Abs. 4 ArbGG, 11 Abs. 4 VwGO, 11 Abs. 4 FGO, 41 Abs. 4 SGG; siehe auch für die Zulassung von Berufung und Revision in Zivilsachen §§ 511 Abs. 4 Nr. 1, 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), gilt diese Ermächtigung – in verfassungskonformer einschränkender Interpretation – nur für Rechtsfortbildungen praeter, nicht contra legem.
Eine verfassungsrechtliche Zuweisung einer auch nur reserveweisen Kompetenz der Rechtsprechung zur Abweichung vom positiven Gesetzesrecht besteht nicht. Sie folgt insb. nicht aus der in Art. 20 Abs. 3 GG verwendeten Formel „Gesetz und Recht“. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bietet keinen Anhaltspunkt für die Annahme einer Lockerung der richterlichen Gesetzesbindung.
Eine Rechtsfortbildungskompetenz der Gerichte contra legem lässt sich auch nicht – ohne Rücksicht auf den Willen des (Verfassungs-)Gesetzgebers – als selbstverständlich rechtsordnungsimmanent ausweisen, „gleichsam“ aus der Natur der Sache begründen. Insb. ergibt sie sich nicht aus der angeblichen Lückenhaftigkeit der Gesetze. Entweder liegt eine planwidrige, d. h. vom Gesetzgeber nicht gewollte Lücke vor, deren Schließung mit Hilfe der Wertungen des Gesetzes die Gesetzesbindung achtet. Oder es ist eine gesetzliche Regelung vorhanden, die der Richter lediglich für „unpassend“ hält und deshalb beiseite setzt. Hier ist die vermeintliche Lücke aber „nichts anderes als die Differenz zwischen dem positiven Recht und einer für besser, gerechter, richtiger gehaltenen Ordnung“ (Kelsen 1934: 101).
Daher ist auch das zur Rechtfertigung gesetzeskorrigierender richterlicher Rechtsschöpfung herangezogene Argument der verbotenen Rechtsverweigerung nicht stichhaltig. „Déni de justice“ meint die Nichterfüllung der Justizgewährungspflicht. Der Pflicht zur Entscheidung jedes zulässigerweise vor ihn gebrachten Falles kommt der Richter mit jeder Sachentscheidung, die er trifft, nach, ganz gleich wie diese inhaltlich ausfällt.
Aus Art. 100 Abs. 1 GG lässt sich rückschließen, dass die mit richterlicher Rechtsfortbildung einhergehende Verwerfung eines formellen Gesetzes überhaupt nur in Betracht kommt, wenn die eigentlich anzuwendende gesetzliche Norm verfassungswidrig ist, nicht aber, wenn der Richter sie bloß für rechtspolitisch verfehlt oder „sozial rückständig“ hält. Ob der Gesetzesbefehl aus diesen Gründen aufgehoben oder modifiziert werden sollte, hat allein der Gesetzgeber zu entscheiden. Gerichte dürfen nicht ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen.
Auch eine angenommene Verfassungswidrigkeit anzuwendenden Gesetzesrechts ermächtigt den Fachrichter nicht zu eigenmächtiger Gesetzeskorrektur. Hier entfaltet vielmehr das konkrete Normenkontrollverfahren (Art. 100 Abs. 1 GG) mit dem Normverwerfungsmonopol des BVerfG eine Sperrwirkung gegen fachrichterliche Rechtsfortbildung in Abweichung von parlamentsgesetzlichen Vorgaben. Richterliche Rechtsfortbildung contra legem scheidet damit bei unter der Geltung des GG erlassenen Gesetzen, selbst wenn sie dem Vorrang der Verfassung zur Durchsetzung verhelfen will, also in favorem constitutionis erfolgt, aus. Sie kommt überhaupt nur bei nicht in den Willen des nachkonstitutionellen Gesetzgebers aufgenommenen vorkonstitutionellen Gesetzen und untergesetzlichen Normen in Betracht.
4. Rechtsvergleichende Perspektive
Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich auf das deutsche Rechtssystem als einer Ausprägung des kontinentaleuropäischen. R. ist aber ein ubiquitäres Phänomen. Im angloamerikanischen case-law (Anglo-amerikanischer Rechtskreis) hat das R. wegen der Präjudizienbindung allerdings einen besonderen rechtlichen Stellenwert.
Literatur
C. Fischer: Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 • P. Kirchhof: Mittel staatlichen Handelns, in: HStR, Bd. 5, 2007, § 99 • B. Rüthers: Die unbegrenzte Auslegung, 62005 • D. Lorenz: Richterrecht, in: StL, Bd. 4, 71995, 922–925 • R. Wank: Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978 • J. Ipsen: Richterrecht und Verfassung, 1975 • M. Imboden: Staat und Recht, 1971 • M. Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung, 1967 • H. Kelsen: Reine Rechtslehre, 1934.
Empfohlene Zitierweise
C. Hillgruber: Richterrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Richterrecht (abgerufen: 21.11.2024)