Romanischer Rechtskreis

1. Begriff und Einordnung der Rechtskreise

Der Begriff des R.es entstammt der Rechtsvergleichung, die sich mit dem Vergleich der weltweit geltenden Rechtsordnungen befasst. Letztere stehen i. d. R. nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern sind meist entweder aus gemeinsamen Wurzeln oder einander hervorgegangen oder haben sich gegenseitig beeinflusst. Um diese gemeinsamen Entwicklungslinien nachzuzeichnen, werden die verschiedenen Rechtsordnungen der Welt gemeinhin typisierend in bestimmte Gruppen miteinander verwandter Rechtsordnungen – d. h. R.e oder -familien – eingeteilt. Welche und wie viele R.e existieren und anhand welcher Kriterien diese zu bestimmen sind, ist Gegenstand der sogenannten R.-Lehre. Innerhalb Europas unterscheidet die wohl herrschende Lehre zwischen dem römisch-germanischen (bzw. kontinentaleuropäischen) R., dem R. des common law (Anglo-amerikanischer R.) sowie dem R. der ehemals sozialistisch regierten Staaten; der römisch-germanische R. wiederum lässt sich unterteilen in den romanischen, den deutschen sowie den nordischen (skandinavischen) R. Nimmt man die ganze Welt in den Blick, kommen aus europäischer Sicht noch der fernöstliche, der islamische, der hinduistische sowie der afrikanische R. hinzu.

2. Der romanische Rechtskreis

Zum r.n R. zählen diejenigen Rechtsordnungen, in denen der französische Code Civil aus dem Jahr 1804 entweder Geltung beansprucht und/ oder rezipiert wurde (daher auch: R. des Code Civil). Ihm gehören neben Frankreich zunächst die Rechtsordnungen Belgiens, Italiens und Luxemburgs sowie Spaniens, Portugals und Rumäniens an. Darüber hinaus zählen im weitesten Sinne auch die lateinamerikanischen und einige nahöstliche Rechtsordnungen sowie das Recht der meisten ehemaligen französischen Kolonien – v. a. in Nord- und Westafrika sowie Louisiana (USA) und Quebec (Kanada) – zum r.n R.

2.1 Historischer Hintergrund

In Frankreich existierte vor der 1789 ausgebrochenen Französischen Revolution kein einheitliches Recht: (Nur) in Südfrankreich hatte seit Eroberung Galliens durch die Römer (auch nach Untergang des weströmischen Reichs 476 n. Chr.) ununterbrochen römisches Recht bzw. ein römisches Recht französischer Prägung (droit écrit) gegolten. In Nordfrankreich hingegen war der Einfluss des römischen Rechts mit dem Eindringen der Franken zugunsten eines Gewohnheitsrechts fränkisch-germanischer Prägung (droit coutumier) zurückgedrängt worden. Zu diesen beiden Strömungen tritt als dritte Wurzel des französischen Rechts das (säkulare) Recht der Revolutionszeit (droit intermédiaire). Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Forderungen nach Schaffung eines einheitlichen bürgerlichen Rechts. Zwischen 1793 und 1796 hatte daher der spätere Regierungschef Jean-Jacques Régis de Cambacérès drei Entwürfe eines entsprechenden Gesetzbuchs geschaffen. Die diesbezüglichen Beratungen fanden mit der Machtübernahme Napoleon Bonapartes im Jahr 1799 ein Ende. Dieser setzte 1800 eine neue, vierköpfige Redaktionskommission ein, die unter seiner Beteiligung bis 1804 den noch heute geltenden Code Civil des Français (Code Napoléon) erarbeitete.

2.2 Ausbreitung und Einfluss des Code Civil

Der Einfluss des Code Civil auf andere Länder lässt sich v. a. auf zwei Ursachen zurückführen: erstens Gebietsbeherrschung bzw. Annektierung sowie zweitens freiwillige Rezeption. Belgien etwa gehörte seit 1797 zu Frankreich, sodass der Code Civil dort ohne Weiteres 1804 in Kraft trat; auch nach Erlangung der Eigenständigkeit im Jahr 1830 blieb das belgische noch vom französischen Recht geprägt. Das Gleiche gilt für Luxemburg, welches seit 1795 zu Frankreich gehörte und wo der Code Civil auch nach dessen Unabhängigkeit im Jahr 1890 fort galt, sowie für die italienische Rechtsordnung. Italien existierte zwar 1804 noch nicht als Nation; aufgrund französischer Besatzung trat der Code Civil jedoch zunächst auch auf dem italienischen Festland in Kraft. Die nach der Befreiung im Jahr 1814 geschaffenen italienischen Gesetzbücher – einschließlich des Codice civile von 1865 sowie desjenigen von 1942 – waren daher stark vom Code Civil beeinflusst.

Auch die Rechtsordnung der ab 1810 zu Frankreich gehörenden Niederlande zählte früher zum r.n R.; denn das 1838 in Kraft getretene Burgerlijk Wetboek war zu großen Teilen eine Übersetzung des Code Civil. Mit Inkrafttreten des auch vom deutschen und anglo-amerikanischen Recht geprägten Nieuw Burgerlijk Wetboek zwischen 1970 und 1992 wurde diese Zuordnung indes zweifelhaft.

Spanien hingegen stand bei Schaffung des Code Civil ebenfalls unter französischer Herrschaft; der Code Civil trat dort jedoch nie in Kraft. Bei Schaffung des Código Civil von 1889 fand allerdings eine freiwillige Rezeption des französischen Zivilrechts statt. Und auch das 1833 in Kraft getretene portugiesische Handelsrecht beruhte auf einer freiwilligen Rezeption des französischen Code de commerce. Der 1867 geschaffene Código Civil hingegen stützte sich neben dem französischen auch auf eine Rezeption des spanischen und italienischen Rechts; dessen Neufassung von 1966 weist demgegenüber v. a. schweizerische und deutsche Einflüsse auf.

Im heutigen Deutschland hatte im 19. Jh. nur zwischenzeitlich, v. a. in den 1798 von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten und z. B. in Baden und Westfalen, ebenfalls französisches Recht gegolten. Das französische Recht war daher frühzeitig auch in Deutschland wissenschaftlich rezipiert worden, u. a. durch Karl Salomo Zachariae im „Handbuch des französischen Civilrechts“ von 1808.

Außerhalb Europas ist neben Lateinamerika v. a. das Recht der ehemaligen französischen Kolonien vom französischen Recht geprägt, namentlich dasjenige Louisianas sowie Quebecs, wo sich die französische Rechtstradition jeweils bis heute (stark vermischt mit Gedanken des common law) erhalten hat. Auch das Recht der ehemaligen Kolonien in Afrika (insb. der Maghreb-Staaten) sowie der zwischenzeitlich unter französischer Mandatsverwaltung stehenden Staaten im Nahen Osten (insb. Syrien und Libanon) und Ägyptens ist weiterhin – in vermögensrechtlicher, wegen islamischer Einflüsse meist nicht jedoch personenrechtlicher Hinsicht – stark am französischen Recht orientiert.

2.3 Eigenheiten des romanischen Rechtskreises

Zentrale Rechtsquelle des r.n R.es ist das (geschriebene) Gesetzesrecht. Daneben kennen das französische Recht und die auf ihm aufbauenden Rechtsordnungen zwar auch Gewohnheits- und Richterrecht, messen diesen jedoch eine untergeordnete(re) Bedeutung bei. Der r. R. folgt mithin einer positivistischen Grundeinstellung (Rechtspositivismus) und ist in stärkerem Maße der Rechtssicherheit als der Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet. Dadurch unterscheidet er sich v. a. vom anglo-amerikanischen R. Entspr. kennen die romanischen Rechtsordnungen grundsätzlich auch keine Präzedenzfallbindung des Richters. Allerdings ist die Rolle der Rechtsprechung – als Rechtsquelle, Rechtsfortbildung oder bloße Rechtserkenntnis – im Einzelnen sehr umstritten. Darüber hinaus sind die Rechtsordnungen des r.n R.es vielfach dem Kodifikationsgedanken verpflichtet, d. h. der Vorstellung, alle Rechtssätze eines Rechtsgebiets in einem einheitlichen Gesetzeswerk systematisch zusammenfassen zu können. Der Abstraktionsgrad der meisten Gesetze ist jedoch im Vergleich zum deutschen Recht wesentlich geringer. So kennen jene i. d. R. keinen allgemeinen Teil und z. B. auch kein Trennungs- und Abstraktionsprinzip (d. h. das Eigentum geht dort i. d. R. ohne Erfordernis einer gesonderten Übereignung bereits mit Abschluss des entsprechenden Schuldvertrags über). Ebenso fehlt es häufig an einer Vereinheitlichung der (Rechts-)Begriffe auch innerhalb ein und derselben Kodifikation.

2.4 Die französische Rechtsordnung

Der Code Civil als Kernstück des französischen Zivilrechts ist aus dem Geist der Französischen Revolution entstanden und den Grundgedanken der Beseitigung der Feudalordnung, der persönlichen Freiheit und des Privateigentums (Eigentum) sowie dem Menschenbild der Aufklärung und der Gleichheit aller Menschen verpflichtet. So führte der Code Civil z. B. eine völlige Trennung von Staat und Kirche (inkl. obligatorische Zivilehe; Laizismus) und den Grundsatz gleicher Erbteilung ein. Überdies formulierte er erstmals ausdrücklich eine unbeschränkte Vertragsfreiheit und hob zuvor bestehende feudale Grundstücksbelastungen auf. Daneben hielt er zunächst jedoch auch an vorrevolutionären Tendenzen wie der fehlenden Gleichberechtigung der Frau fest. Der Code Civil war dabei Teil eines von Napoleon angestrengten Gesetzgebungsbündels von insgesamt fünf Kodifikationen. Beinahe zeitgleich traten im Jahr 1807 noch der Code de commerce, das erste moderne Handelsgesetzbuch Europas, der Code de procédure civile (1806), der Code pénal (1810) sowie der 1959 durch den Code de procédure pénale abgelöste Code d’instruction criminelle (1808) in Kraft (sogenannte cinq codes).