Wohnen

  1. I. Philosophisch
  2. II. Soziologisch

I. Philosophisch

Abschnitt drucken

1. Bedeutung für den Menschen

Die indogermanische Wurzel uen des Begriffs W. bedeutet „streben, wünschen, lieben“. Von hier leitet sich Gewöhnen ebenso wie Wonne ab. Im Althochdeutschen heißt wonên „nach etwas trachten“, aber auch „ausharren“ bzw. „zufrieden sein mit etwas“ (was dann zum „sich gewöhnen“ wird). I. S. eines positiven Ankommens klingt das noch in „beiwohnen“ an. Später wird „W.“ für das örtliche Ausharren verwendet; man wohnt in Bamberg oder im Hotel. W. ist eine soziale Kulturleistung, die uns Weltbewältigung erlaubt; insofern ist sie auch heute noch ein Ankommen. Ein Echo des ursprünglichen „zufrieden sein mit etwas“ ist bei „wohnlich“ zu hören.

W. ist mehr als eine technisch-funktionale Praxis, denn es macht aus, wer wir sind. Biber befriedigen mit ihren Burgen lediglich physiologische Bedürfnisse, etwa nach Schutz und Wärme. Wir selbst-reflexiven Menschen müssen uns auch zu unseren Bedürfnissen verhalten – und so zu uns selbst. Die Philosophische Anthropologie betonte das; der Mensch sei „weltoffen“ und somit „umweltfrei“ (Scheler 1928: 3), spitzt es Max Scheler zu. Helmuth Plessner erinnert daran, dass wir als Bedürfniswesen nie ganz umweltfrei sind, weswegen er von der menschlichen Weltfremdheit spricht. Der Mensch oszilliere zwischen „Umweltgebundenheit und Weltoffenheit“, die miteinander „im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung“ stünden (Plessner 1983: 81). Um dieser Spannung zu begegnen, gestalten wir unsere Umwelt, um in ihr zu wohnen.

Weltoffenheit ist uns möglich, weil wir keine starre Identität haben, sondern sie jeweils erst gewinnen müssen. Das geschieht v. a. durch die Auseinandersetzung mit der von uns gestalteten Kunstwelt, also den Artefakten, Institutionen etc., die dann zu unserer zweiten Natur werden. H. Plessner nennt es nachgerade ein anthropologisches Grundgesetz, in einer „natürlichen Künstlichkeit“ (Plessner 1983: 80) zu leben, die unsere Erfahrungen wie unser Selbstverständnis bestimme. Empirisch stützt diese Beobachtung die Umweltpsychologie, die zeigt wie der erinnerungsgefüllte Wohnort identitätsstiftend wirkt.

Jede Bau- und Wohnweise ist ein eigener, kulturell geprägter und prägender Weltzugang. Denn Bauwerke setzen Grenzen, differenzieren und ordnen Dinge. Hier ist z. B. etwas heilig, dort profan. Hierarchien und Orientierungspunkte werden manifest (Blickachsen, symbolische Gehalte, etwa der Bahnhof im Zentrum), das Verhältnis zur Natur, aber auch Grenzen und Offenheit zwischen Menschengruppen werden baulich bestimmt. W. bedeutet, einen besonderen Raum abzusetzen. „Der Welt und ihren Räumen eignet indes das Unheimliche und Abgründige, das der Mensch angstvoll flieht, dem er aber einen eigenen Bereich abgewinnt, um ein bleibendes Wohnen zu ermöglichen und die Welt auf diese Weise in Besitz zu nehmen“ (Hahn 2014: 4). Der Wohnraum ist daher Inbegriff des Geordneten, Idealen, Ausgangspunkt seiner Sinndeutung der Welt – man denke an Martin Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ (1529).

2. Der Herd

Der Mythos erzählt, dass die menschliche Zivilisation begann, als Prometheus das Feuer stahl. Es brennt seitdem im Zentrum der Häuser. In der griechischen Antike verehrte man die Göttin Hestia, der jeder häusliche Herd geweiht war. Sie sollte Frieden stiften, und ihr, nicht Zeus, wurde im eigenen Haus und von der Polis das jeweils erste Opfer gebracht. Platon deutet sie sogar als Verkörperung der Wirklichkeitsordnung schlechthin, er bezeichnet Hestia als Essenz des Seins. In den Ruinen von Ephesos steht noch immer ihr Rundtempel nahe der Agora. Dort brannte das heilige Feuer der Stadt, das nie verlöschen durfte, weil es das Leben und Wesen der Polis symbolisierte. Nach Außen sicherte eine Mauer gegen die „Barbaren“, im Zentrum sicherte der „Staatsherd“ die Einigkeit der Polis. Dieser zeigt Verbundenheit mit dem Ort wie eine innere Offenheit für alle Stadtbürger. Das verkörpert auch die horizontale Bauweise der Polis: „In diesen […] einfachen und doppelten Säulengängen, die unmittelbar ins Freie führen, sehen wir die Menschen offen, frei umherwandeln zerstreut, zufällig sich gruppieren; denn die Säulen überhaupt sind nichts Einschließendes, sondern eine Begrenzung, die schlechthin durchgängig bleibt, so daß man halb innen, halb außen ist und wenigstens überall unmittelbar ins Freie treten kann“ (Hegel 1970: 320).

Der Herd ist bis heute beliebtes Zentrum des W.s: Frank Lloyd Wright entwarf im 20. Jh. seine „Präriehäuser“ um den Herd herum und ein Kamin erhöht auch im 21. Jh. den Verkaufswert einer Immobile (58 % der Bundesbürger wollen 2019 einen Kamin in ihrem Haus). Das offene Feuer allerdings wurde meist abgelöst von Zentralheizungen und Elektroherden. Die Ausstellung „The Elements of Architecture“ auf der 14. Architekturbiennale Venedig 2014 wählte den Herd als ein zentrales Element und zeigte, wie dessen „ursprüngliche Funktionen – Heizen, Kochen, Beleuchten, Versammlungsplatz und Mittelpunkt für Kommunikation und Kultur Sein –“ nunmehr aufgeteilt wird in zahlreiche andere Apparate wie etwa den Flachbildschirm; „zahlreiche Einzelgeräte“ finden sich, „die wie mit Greifarmen durch Systeme noch in die letzte Ecke des Gebäudes dringen“ (Marot 2014: 3).

Gottfried Semper nennt unter Rückgriff auf Vitruv den Herd „Embryo der Architektur“, um den herum Dach, Wände und Fundament entstünden, schließlich auch das Soziale und Politische: „Das erste Zeichen menschlicher Niederlassung und Ruhe nach Jagd, Kampf und Wanderung in der Wüste ist […] die Einrichtung einer Feuerstätte und die Erweckung der belebenden und erwärmenden speisebereitenden Flamme. Um den Herd versammelten sich die ersten Gruppen, an ihm knüpften sich die ersten Bündnisse, an ihm wurden die ersten rohen Religionsbegriffe zu Culturgebräuchen formuliert. Durch alle Entwickelungsphasen der Gesellschaft bildet er den heiligen Brennpunkt, um den sich das Ganze ordnet und gestaltet“ (Semper 1851: 54 f.).

3. Wohnen als Errungenschaft

Bauen ist nach Aristoteles Poiesis, eine hervorbringende Leistung. W. aber gehört zur Praxis, deren Ziel kein Produkt, sondern der gute Vollzug dieser Praxis selbst ist (NE 1140 b 3–4 und 6–7). Denn hier geht es letztlich um ein gutes W.

Wie schwierig das sein kann, zeigt der Kampf der Trojaner um ihre Stadt in der „Ilias“. Auch Odysseus kehrt erst nach jahrelangem Mühen heim nach Ithaka, wo seine Frau das Wohnhaus gegen wilde Freier verteidigen musste. W. ist eine Errungenschaft, manchmal eine Heldentat. Es ist nur im geordneten, dem Chaos abgerungenen Raum möglich – Ordnung zu schaffen ist auch ursprüngliche Schöpfungstat Gottes (Gen 1,2.4). Der erste Wohnort der Menschen ist das geordnete Paradies, wörtlich die „eingezäunte Fläche“, das der Mensch „bebauen und bewahren“ muss (Gen 2,15). Wer dessen Ordnungsregeln missachtet, wird ebenso unbehaust wie die Erbauer des Turms zu Babylon.

Auch die antike Stoa pries als höchste Tugend die selbstbewusste Selbstsorge, die sie oikeiosis nannte, abgleitet vom Haus, oikos. Sie hat zwei Seiten: Einerseits eine angemessene Selbstverortung, indem man in sich den Logos, die Vernunft (Vernunft – Verstand), erkennt, andererseits eine praktisch-handelnde Einfindung in die Vernunftordnung der Welt. Das ist ein gleichsam metaphysisches W.

Was sind Kriterien gelungenen W.s? Im Grunde diejenigen eines guten Lebens. Sicherheit und Schutz müssen gewährt und andere Bedürfnisse befriedigt sein. Dazu kommt als Voraussetzung eine allgemeine Zufriedenheit, die auch Schönheitserfahrungen benötigt. All das ist auch eine architektonische Errungenschaft. Sie besteht dort, wo die Herausforderungen der rauen und kargen Umwelt gemeistert wurden und Menschen nicht mehr aufbrechen müssen und wollen. Die bronzezeitliche Pfahlbautenkultur am Bodensee bestand trotz Krisen über 3 000 Jahre, die Hirtennomaden der Eurasischen Steppe wohnen seit der späten Bronzezeit in ihren Jurten. Das zeigt nicht nur eine soziale und politische Stabilität, sondern gute, d. h. gelungene und nachhaltige Wohnformen (Nachhaltigkeit).

4. Gemeinschaft

Bauen und W. sind Ausdruck einer Lebensform, aber sie nehmen auch Einfluss auf diese. Die Architektursoziologie betont, dass die Architektur einerseits die „jeweilige Gesellschaft zuallererst sichtbar“ macht (Delitz 2009: 111), andererseits diese Gesellschaft auch beeinflusst und prägt. Architektur schreibt „Ordnungen des Nebeneinanders, deren Klassifikationen und Differenzierungen in die Körperbewegungen und Wahrnehmungen ein“ (Delitz 2009: 111). Diese gesellschaftsformende Kraft der Architektur wurde auch politisch in Anspruch genommen:

Kollektivistische Ideale (Kollektivismus) bestimmten etwa Tony Garniers Entwurf einer Cité industrielle von 1899 bis 1904 (veröffentlicht 1917), einem nie gebauten, aber wirkmächtigen Modell. Er gliederte seine Idealstadt funktional, um eine effiziente Versorgung, Infrastruktur und ein sozialistisches Gesellschaftsleben zu befördern. Geplant wurden getrennte Arbeitsbereiche (Industrie, nahe dem Fluss als Energiequelle), Wohnquartiere (mit Sonnenlage), öffentliche Bereiche (Museen, Sportstätten, Verwaltungsgebäude) und ein abgelegener „Bereich der Toten“. Zentral war ein emblematisches Versammlungshaus, während Kirche, Kasernen und Gefängnisse ihm überflüssig erschienen, weil der sozialistische Mensch keine Verbrechen mehr kenne. In den 1930er Jahren wurden ähnliche Siedlungen in der Sowjetunion verwirklicht, etwa in Nowgorod (Nischni) für die 25 000 Arbeiter einer neuen Autofabrik mit Kommune-Häusern. Diese hatten keine abgetrennten Wohnungen und nur gemeinschaftliche Waschräume und Küchen, sowie eigene Schlafhäuser für Jugendliche und Kinder. Einfamilienhäuser galten als reaktionär und kleinbürgerlich, weil sie den neuen sozialistischen Kollektivmenschen verhindern würden. Ebenso erachtete diese kollektivistische Herangehensweise regionale Traditionen und Identitäten als gefährlich: Nicolae Ceaușescu ließ in Rumänien ab den 1980er Jahren alte Dörfer oder geschichtsträchtige Altstädte systematisch abreißen und durch monotone „agro-industrielle Zentren“ oder „sozialistische Stadtviertel“ ersetzen.

Stärker individualistische Bauformen, etwa räumlich getrennte Einfamilienhäuser oder Wohnungen, betonen den Einzelnen oder die Familie. Mit der Entwicklung von bürgerlichen Kern- und Kleinfamilien und der zunehmenden Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort entstand im 19. Jh. dieser Bautyp in Europa. Sie gewährten eine Privatsphäre und erlaubten eher ein selbstbestimmtes W. Programmatisch ist hier Ebenezer Howard. In seinem Buch „To-Morrow. A Peaceful Path to Real Reform“ (1898) forderte er Gartenstädte für gesellschaftliche Reformen. In überschaubaren Siedlungen plante er Einfamilien-Reihenhäuser mit Gärten, die in mehreren Straßenringen um einen zentralen Platz geführt wurden, der mit Schulen, Gaststätten oder Veranstaltungsräumen versehen war. Der Individualismus ist hier sozial eingebunden; die Familie soll in die Natur und eine gemeinschaftliche Struktur eingebettet werden. Viele dieser Gartenstädte entstanden auch in Deutschland, etwa auf der Margarethenhöhe in Essen (ab 1910 bis ca. 1938) oder in Hellerau bei Dresden (ab 1909).

Wie stark der Einfluss der Bauweise auf das soziale Verhalten und Bewusstsein tatsächlich ist, muss offen bleiben. Eine starke Formkraft und Bewusstseinslenkung nimmt der „architectural determinism“ (Broady 1966: 150) an, zu finden im Funktionalismus und bei den Architekten des Internationalen Stils im Europa der 1920er und frühen 1930er Jahre. Bill Hillier u. a. sehen dagegen gar keinen bes. mächtigen Einfluss der Architektur auf das Gemeinschaftsleben. Oscar Newman, der einen Zusammenhang von Hochhausarchitektur und Kriminalitätsraten nachwies, vertrat eine moderate Position, die wohl am plausibelsten ist: Architektur und Wohnweise bestimmen nicht, aber beeinflussen Lebensformen indem sie etwa Verhaltensweisen erleichtern oder hemmen.

5. Einfluss und Macht

Macht heißt, den eigenen Willen durchzusetzen, v. a. gegenüber anderen Menschen. Die Beziehung von Architektur zur Macht ist vielfältig. Ohne eine ökonomische Gestaltungsmacht kann man gar nicht bauen, Bauwerke nehmen aber auch Einfluss auf andere oder symbolisieren Macht. Unterschiedliche Machtformen treten hier auf:

Zwangsmacht gehörte stets zu den dunklen Seiten der menschlichen Baugeschichte. Ob die Pyramiden, wie Herodot berichtet, mit Sklaven errichtet wurden, ist heute zwar umstritten, aber Fronarbeit war üblich. Kaiser Karl V. hat 1547 das Coburger Schloss „Ehrenburg“ genannt, weil der Herzog von Sachsen es nur mit Lohnarbeitern errichtete. Aber auch gesetzliche, soziale oder kontextuelle Zwänge schränken stark ein, so dass oft Gebäude entstehen, die so eigentlich niemand will.

Funktionale Macht: Bauwerke besitzen auch eine „technische Macht“; denn sie beeinflussen, was wir tun und lassen können (Popitz 1992: 167). Eine Brücke erlaubt andere Zugänge als eine Mauer, die verschließen kann (wie die Berliner). In dieser Weise sind Bauwerke zentrale Instrumente menschlicher Machtausübung.

Symbolische Macht zeigt sich in vielen Bauwerken. Ludwig I. kopierte in München zur Legitimation seiner Herrschaft Bauten wie die Florentiner Loggia dei Lanzi als „Manifestationen der Legitimierung der Macht aus der Geschichte durch die Demonstration der Macht über die Geschichte“ (Nerdinger 2012: 23). Das Symbolische kann in psychische Unmittelbarkeit übergehen wie beim gigantischen Brüsseler Justizpalast (1866–83), der jeden seine Ohnmacht spüren lässt. Das war auch Ziel von Kaiser Neros domus aurea mit ihren 800 000 Quadratmetern und von Albert Speers geplantem Führerpalast mit zwei Mio. Quadratmetern (allein die Raumflucht, die zu Adolf Hitlers 900 Quadratmeter großem Arbeitszimmer geführt hätte, wäre 504 Meter lang gewesen).

Wie weit die Kategorie Macht die Architektur erklärt, ist umstritten. Michel Foucault versuchte eine umfassende Machtanalyse. Die westlich-liberale Gesellschaft gründe gänzlich auf Disziplinierung und Kontrolle; deswegen sei das von Jeremy Bentham entworfene Reformgefängnis Sinnbild der modernen Gesellschaft. Dieser von M. Foucault „Panoptikum“ genannte Rundbau sollte dem Wärter auf dem Wachturm in der Mitte erlauben, alle kreisförmig um ihn angeordneten Zellen einzusehen. Das Zentrum war bewusst dunkel, so dass die Insassen nie wissen konnten, ob sie beobachtet würden. Das erzeuge Angst und sei die Struktur aller staatlicher Macht; so lenke die Bourgeoisie uns alle in Schulen, Hospitälern, auf Plätzen etc. Unsere Welt sei ein umfassendes Netzwerk feinster Machtlinien, bei denen Architektur entscheidend mitwirke, argumentiert M. Foucault. Wie die Zelleninsassen müsse der Einzelne seinen Platz innerhalb dieser Machthierarchie einnehmen. Ein derart umfassender Erklärungsanspruch der Macht in der Tradition von Thomas Hobbes und Friedrich Nietzsche ist aber letztlich selbstwidersprüchlich, weil dann auch M. Foucaults Theorie lediglich Ausdruck seines Machtstrebens wäre und keinen interessanten Wahrheitsanspruch erheben könnte.

Eine eingeschränkte Machtanalyse bzw. weiche Einflusstheorie vertritt die gegenwärtige Architektursoziologie. Joachim Fischer etwa nennt Architektur ein „Kommunikationsmedium“ im Luhmannschen Sinne, d. h. eine Weise, Menschen ins Verhältnis zueinander zu setzen, sie sozial zu platzieren bzw. bestimmte Interaktionen zu bahnen. Ein Haus sei so „eine Sinnofferte“ (Fischer 2009: 10), eine Stellungnahme zur Wirklichkeit, die Unterscheidungen anbiete wie z. B. privat v öffentlich. Wir können oder müssen darauf reagieren, etwa durch Zustimmung oder Verweigerung. Für diese weiche Einflusstheorie spricht nicht zuletzt, dass sie die geistig-selbstbestimmte Möglichkeit des Menschseins ernster nimmt als die umfassende Machtanalyse. Walter Benjamin sagt zurecht, die Architektur einer Epoche sei Zeugnis der jeweiligen „Gesellschaft, ihres Begehrens“ (Benjamin 1991: 1002). Aber wir erleben sie auch als Gegenüber mit Qualitäten, etwa atmosphärischen oder ästhetischen, die uns ansprechen und zu denen wir uns eigenständig in ein Verhältnis setzen können, manchmal müssen.

6. Schönheit

Vitruvs Bemerkung, dass firmitas (Festigkeit), utilitas (Nützlichkeit) und venustas (Schönheit) Hauptforderungen an die Architektur seien, blieb bis zum 20. Jh. maßgeblich. Noch heute wird wenigstens von Laien die Schönheit von Bauwerken als erstes wahrgenommen und auch geschätzt. Und architektonische Schönheit hat Bezüge zur Politik, von denen wenigstens zwei in einem Staatslexikon erwähnt werden sollen:

Erstens gibt es eine architektonische Ästhetik der politischen Selbstinszenierung, etwa um Gäste oder die Bevölkerung zu beeindrucken. Das zeigt N. Ceaușescus „Haus des Volkes“, dem heutigen Parlamentspalast in Rumänien, mit dessen Pracht Gäste auch ästhetisch beeindruckt werden sollten. Ähnlich die domus aurea, von der Sueton in seiner Nero-Biographie schrieb: „Im übrigen war alles mit Gold, Edelsteinen und Perlmutter bedeckt. Die Speisezimmer hatten Decken aus beweglichen, durchlöcherten Elfenbeinplatten, so daß man von oben herab über die Gäste Blumen streuen oder Parfüme sprengen konnte“ (Sueton 1960: 235 [Nero 31]).

Zweitens hat sie eine eigentümliche Anziehungskraft. Sie kann uns, wie auch das Erhabene, das Ungeheuerliche oder Fragile, innerlich ergreifen und bewegen – nach Leo Tolstoi das Merkmal bedeutender Kunstwerke. Diese Kraft kann auch politisch wirksam werden: Schöne Bauten können Stolz erzeugen, wie es von Louis Kahns archaisch-anmutendem Parlamentsgebäude in Bangladesch berichtet wird. Auch stand in der antiken Polis, wie Heike Delitz vermutet, die „Schönheit der öffentlichen Gebäude im Verhältnis zu den Privatgebäuden, bei denen allzu großer Prunk dann auch verboten war“; so wurde eine bes. „Affektivität“ bei den Bürgern ausgelöst, sich mit ihrer Polis zu identifizieren (Delitz 2009: 98).

Im letzten Jahrhundert wurde Schönheit als relevante Erwartung an Bauwerke z. T. scharf zurückgewiesen, oder aber mit Funktionalität gleichgesetzt. Hannes Meyer, 1928–30 Direktor des Bauhauses, meinte Architektur sei „ein technischer, kein ästhetischer Prozeß“ (1980: 34). Wie kam es zu diesem radikalen Bruch mit der Tradition?

Erstens begannen funktionalistisch-technische Ideale zu dominieren, bei denen ästhetische Gestaltungsideen wie Ornament und Dekor als störend erachtet wurden. Zweitens war die schmucklos-funktionale Architektur (allerdings nur kurzfristig) preiswerter und schneller zu errichten, z. T. durch industrielle Vorfertigung von Teilen. Begünstigt wurde die Entwicklung durch den hohen Bedarf an Wohnraum nach dem Zweiten Weltkrieg, wodurch Wohnungsbau und Stadtplanung staatliche Aufgabe wurden. Schließlich standen, drittens, die klassischen Ideale in der weltanschaulichen Kritik. Jede Vorstellung des Schönen galt als zeit-, kulturbedingt und subjektiv. Objektiv richtig schien nur das Quantifizierbare, Ökonomische und Effiziente. So argumentiert Adolf Loos in „Ornament und Verbrechen“ (1910), dass schmucklose Funktionalität Kräfte spare, weswegen Gebrauchsgegenstände von Kunst zu unterscheiden seien. Auch der Sozialismus lehnte weltanschaulich die klassischen Schönheitsvorstellungen als bourgeoise ab. Theodor W. Adorno erklärte das Schöne für einen gefährlichen Trick des herrschenden Kapitalismus, um das schreiende Unrecht des Systems zu verschleiern. Peter Eisenman fordert in diesem Sinne von der Architektur, „die Leute daran zu erinnern, dass nicht alles in Ordnung ist“ (Katharxis No. 3; Übersetzung des Autors).

Für die Architektur der „modernen“ Bauweise bot sich daher, unter starkem Einfluss des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, das vermeintlich rational-funktionale Vorgehen des Internationalen Stils an. Doch kann bestritten werden, ob dieser Stil mit der Funktionalitätsforderung bereits Antworten auf die Gestaltungsfrage gibt. Erstens folgt keine spezifische Formensprache (etwa kubisches Bauen oder liegende Fenster) aus den neuen technischen Möglichkeiten; Le Corbusier selbst zeigt die Formmöglichkeiten in La Ronchamp und stehende Fenster sind sogar günstiger als Querfenster. Es ist zudem historisch naiv anzunehmen, die Internationale Moderne sei kein kulturbedingter Stil sondern überzeitlich „richtig“. Drittens ist es durchaus rational und funktional in einem weiteren Sinne, unser Schönheitsbedürfnis ernst zu nehmen. Abraham Maslow hat gegen Lebensende seine Bedürfnispyramide um ein ästhetisches Begehren ergänzt. Und heute ist der „enge Zusammenhang zwischen ästhetischem Erleben und psycho-physischem Wohlbefinden“ (Heinrich 2019: 15) angesichts der Ergebnisse von moderner Psychologie und Kognitionswissenschaft nicht mehr zu bestreiten. „Schönheit“ sollte daher unbedingt als anthropologisch-moralische Forderung ernst genommen und politisch angestrebt werden. Denn durch Schönheit erlaubt Architektur nicht nur ein gutes W. sondern wird erst wirklich nachhaltig.

II. Soziologisch

Abschnitt drucken

Die Wohnung ist ein besonderes Gut. Deutsche verbringen im Durchschnitt mehr als die Hälfte ihrer wachen Zeit in der Wohnung. Die Wohnung ist der Mittelpunkt des privaten Lebens, ein symbolisch hoch aufgeladener Ort, an den vielfältige Erinnerungen gebunden sind, ein Ort der Geborgenheit, der Intimität, der Körperlichkeit und Emotionalität, sie ist das Gegenüber des öffentlichen Raums und der Welt des Berufslebens, ein Ort der freien Zeit und doch auch Ort und Gegenstand vielfältiger Arbeiten, der klassischen Hausarbeit wie berufsbezogener Arbeiten, bei Eigentümern auch Ziel umfänglicher Arbeiten beim Bau, Umbau und Erhalt der eigenen Wohnung. Es gibt wohl keinen bedeutsameren Ort im Leben eines Menschen als seine Wohnung. So ist es kein Wunder, dass die Wohnungsfrage eine zentrale Frage der Gesellschaftspolitik ist.

Die Wohnungsfrage beinhaltete von Anfang an zwei Probleme. Zum einen das politische Problem der Wohnungsversorgung: Wie kann eine ausreichende Zahl von Wohnungen bereitgestellt und gerecht verteilt werden? Zum andern das normative Problem der Definition von Wohnung: Was macht eine menschenwürdige Wohnung aus? Auf beide Fragen schien in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Antwort gefunden: der soziale Wohnungsbau als Lösung der Versorgungsfrage, die Wohnung für die Kleinfamilie als Lösung der Frage nach dem menschenwürdigen W. Heute sind beide Fragen wieder offen.

1. Wohnungsversorgung

Die Frage der Wohnungsversorgung wird in einer marktförmig und demokratisch organisierten Gesellschaft immer offen bleiben. Das hat mehrere Gründe. Einmal, dass der Wohnungsmarkt eine für angemessen gehaltene Wohnung nur zu Preisen zur Verfügung stellt, die die Zahlungsfähigkeit beträchtlicher Teile der Bevölkerung übersteigt. Zum zweiten, dass Menschen mobil, Wohnungen aber im Wortsinn Immobilien sind, sie können nur in Ausnahmefällen transportiert werden. Wanderungsbewegungen können deshalb Leerstände in Görlitz und Wohnungsnot in München schaffen. Zudem reagieren Wohnungsmärkte auf Nachfrageverschiebung sehr träge. Wer aber heute eine Wohnung sucht, dem helfen Wohnungen, die erst in sechs Jahren auf den Markt kommen, wenig.

Zum dritten polarisiert sich die Wohnungsversorgung. Das ist Folge einer wachsenden Einkommens- und Vermögensungleichheit und der politisch gewollten Verringerung der sozial gebundenen Wohnungen auf heute nur noch eine Mio. Viertens, und das ist entscheidend, handelt es sich bei Wohnungsnot heute um „Not“ auf hohem Niveau. In einer reichen Gesellschaft macht es wenig Sinn, Not absolut zu definieren als Hunger oder Obdachlosigkeit. Armut und Wohnungsnot sind als nicht mehr tolerable Abweichungen nach unten vom Durchschnitt definiert. Heute gilt als Unterversorgung, wenn nicht für jedes Haushaltsmitglied ein Zimmer verfügbar ist. Das wäre um 1900 für die Masse der Städter unvorstellbarer Luxus gewesen. Die Wohnungsversorgung ist Teil einer moralischen Ökonomie, in der nicht allein nach Angebot und zahlungsfähiger Nachfrage sondern auch nach Maßgabe kultureller Normen und politisch gesetzter Standards darüber entschieden wird, was als menschenwürdige Wohnung akzeptabel und welches Maß an Ungleichheit in der Verteilung des Wohnraums zu tolerieren sei. Und diese Standards steigen mit dem Wohlstand. Deshalb wird es immer Versorgungsprobleme auf dem Wohnungsmarkt geben, die zum Anlass von politischen Interventionen werden: Wohnungspolitik ist unabschaffbar.

2. Menschenwürdiges Wohnen

Auch die zweite Frage, was denn eine menschenwürdige Wohnung ausmacht, muss immer wieder neu beantwortet werden. In den 1950er und 1960er Jahren glaubte man, die Antwort gefunden zu haben, als all das selbstverständlich schien, was mit dem W. assoziiert war: das Leitbild der Kleinfamilie von berufstätigem Mann, Hausfrau und Kindern, die strikte Trennung von Arbeit und Freizeit und das Einfamilienhaus draußen vor der Stadt als das ideale Gehäuse des W.s. Aber diese Lebensweise ist historisch gesehen sehr jung.

Das idealtypische Modell der vormodernen Lebensweise, das „Ganze Haus“ (Brunner 1965), war eine Selbstversorgungseinheit, in der Essen und Essenszubereitung, Arbeit und Erholung, Schlafen, Sich-Reinigen, Miteinander-Sprechen, Eltern und Kinder, Familie und Gesinde weder räumlich noch zeitlich voneinander geschieden waren. Dementsprechend gab es kein W. als das Gegenüber der Welt der Arbeit und des öffentlichen Lebens. Im Zuge der industriellen Urbanisierung wurde diese Einheit aufgelöst. Mit der Auslagerung der Erwerbsarbeit wurde der Haushalt zum Familien- und Konsumhaushalt, eingebunden in ein hochkomplexes System privater und öffentlicher Versorgungsapparaturen. Gleichzeitig wurden körperliche Funktionen und emotionale Regungen hinter die Mauern der Privatheit zurückgenommen. Der „Verhäuslichung der Vitalfunktionen“ (Gleichmann 1976) entsprach die Polarisierung des Alltags in eine öffentliche, entsinnlichte und eine private, intimisierte Sphäre, und diese Polarisierung wurde verinnerlicht. Industrielle Urbanisierung und der „Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1976) haben das moderne W. als Ort eines von Arbeit entlasteten und emotional aufgeladenen privaten Lebens in der Kleinfamilie geschaffen.

Die Wohnung als Raum der Erholung und familialer Privatheit und damit als das Gegenüber des öffentlichen Raums und der beruflichen Arbeitswelt ist im Verlauf des 20. Jh. zum Leitbild der Wohnungspolitik geworden. Es wurde institutionalisiert in den Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus, in Förderbestimmungen, Gesetzen, DIN-Normen und den Kategorien der amtlichen Statistik und prägte die Wohnwünsche einer Mehrheit der Deutschen. Jedoch schon in den 1970er Jahren begannen die Menschen, aus diesem Modell wieder auszuwandern in andere Lebensformen.

Die Wohnstandortpräferenzen ändern sich. Die Kernstädte gewinnen wieder an Attraktivität. Suburbanisierung ist eng an die familiale Lebensweise und die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung gebunden. Beide Voraussetzungen haben sich mit der beruflichen Emanzipation der Frauen und dem Wandel der Arbeitsbedingungen geändert. Für Haushalte mit zwei Berufstätigen, die zu flexibilisierten und individualisierten Zeiten an unterschiedlichen Orten arbeiten, wird das W. im Umland, fern von den innerstädtischen Arbeitsplätzen, zu aufwendig.

Wer heute vom W. spricht, meint nicht nur das Gehäuse der Wohnung sondern auch private und öffentliche Dienstleistungen, Verkehrsanbindungen, soziale und technische Infrastrukturen und die Qualität der Freiräume. Das hängt auch mit der Alterung der Bevölkerung zusammen. Die Lebenszeit nach dem Ende der Berufstätigkeit hat sich verlängert auf 20 bis 30 Jahre, und diese Zeit wird überwiegend in der Wohnung und der näheren Wohnumgebung verbracht. Das zwingt dazu, Wohnqualität sehr viel weiter zu definieren: räumlich über die Wohnung hinaus in das Wohnumfeld, inhaltlich über architektonisch/technische Bedingungen (Barrierefreiheit) hinaus in einen weiten Bereich personenbezogener Dienstleistungen, Gesundheit, Pflege, Sicherheit etc. Schließlich wird die Digitalisierung erheblich dazu beitragen, die Qualitätsstandards von Wohnungen und ihrem Umfeld auszuweiten und zu erhöhen.

Es ändert sich ebenfalls die Art des Zusammenlebens in der Wohnung. W. und Familie sind keine selbstverständliche Einheit mehr. Die klassische Biographie von Herkunftsfamilie, relativ kurzer Zeit der beruflichen Orientierung, Familiengründung und längerer Familienphase, gefolgt von einer wiederum relativ kurzen Phase des „leeren Nests“ tritt in den Hintergrund. Zwischen Auszug aus dem elterlichen Haushalt und Berufseintritt/Familiengründung dehnt sich die „Postadoleszenz“ als eine Phase des Experimentierens mit verschiedenen Lebensentwürfen. Auch die Phase des Alters dauert länger. Die Differenzierungen des Lebenslaufs gehen einher mit den sogenannten Neuen Haushaltstypen: Wohngemeinschaften, Singles, unverheiratet zusammenlebende Paare, Alleinerziehende, multilokales W. etc. Entspr. differenzierter werden die Anforderungen an die Wohnungen. Das strikte Gegenüber von W. und Arbeiten, Arbeitszeit und Freizeit verschwindet. Berufsbezogene Arbeiten werden wieder in die Wohnung zurückverlagert. Schließlich werden mit der Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen auch andere Wohnvorstellungen importiert.

Die Geschichte des W.s folgt der Figur einer Spindel: Aus einer Fülle sehr verschiedener Wohnformen hatte sich gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts die private, kleinfamiliale Wohnform für kurze Zeit durchgesetzt, gleichsam die Taille der Spindel. Seitdem differenzieren sich die unterschiedlichsten Lebens- und Wohnweisen wieder aus. Allerdings, ein Trend wird weiterhin Bestand haben: Bei steigendem Wohlstand und immer kleineren Haushalten wird mehr Wohnfläche pro Kopf nachgefragt. Derselbe Wohnungsbestand, der in den 50er Jahren für eine Millionenstadt gereicht hätte, kann heute nur noch 400 000 Menschen beherbergen.