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Aktuelle Version vom 14. November 2022, 05:55 Uhr
1. Der Weg zur europäischen Fiskalunion
In den römischen Verträgen von 1956 war von finanzpolitischer Zusammenarbeit noch wenig zu finden. Erst in den neunziger Jahren des letzten Jh., als es um die Schaffung einer Europäischen Währungsunion ging, kam es zu einer breiteren öffentlichen Diskussion über dieses Thema. Die Debatte fand unter dem Stichwort „Krönungstheorie“ statt: Danach könne und solle eine Währungsunion sinnvollerweise erst dann geschlossen werden, wenn die europäischen Staaten sich vorab zu einer „Politischen Union“ mit allen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Kompetenzen eines föderalen Staates zusammengefunden hätten. Wirtschaftstheoretisch wurde das damit begründet, dass unterschiedliche Wachstums-, Inflations- und Beschäftigungsentwicklungen bei nationalen Währungen über Wechselkursanpassungen ausgeglichen werden. Das sei in einer Währungsunion nicht mehr möglich.
Auf der anderen Seite stand das Interesse, mit einer gemeinsamen Währung der europäischen Idee neue Impulse zu geben. Da in den 90er Jahren – und auch fernerhin nicht – keine Bereitschaft zur Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Finanzpolitik bestand, suchte man den kleinsten gemeinsamen Nenner in einem Vertragsbündnis mit Regeln, das gravierende Divergenzen in der fiskalischen Entwicklung der Teilnehmer der Währungsunion verhindern und die Kongruenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik fördern sollte.
2. Der Vertrag von Maastricht und der Stabilitäts- und Wachstumspakt
Mit dem Maastricht-Vertrag von 1992 zur Schaffung einer Währungsunion wurden als Aufnahmebedingungen die sogenannten Konvergenzkriterien eingeführt, die neben der finanzpolitischen Stabilität auch die Inflationsrate, das Zinsniveau und die erfolgreiche Teilnahme am vorlaufenden Wechselkursverbund (EWS) umfassen. Die „auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Haushalte“ (Art. 109 j, EUV) wurde durch eine Höchstgrenze für das Verhältnis zwischen öffentlichem Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt von 60 % und eine Defizitquote von 3 % (Finanzierungsdefizit des Staates in Prozent des BIP) definiert. Die maximal erlaubte Schuldenstandsquote entsprach dem europäischen Durchschnitt bei Vertragsabschluss. Die Defizitquote stellte sicher, dass bei einem durchschnittlichen nominalen Wirtschaftswachstum von 5 % der relative Schuldenstand konstant blieb. Letztlich waren aber beide Werte gegriffen, was von Ökonomen wie von Politikern später immer wieder als Argumentation gegen diese Vorgaben genutzt wurde.
Um die Nachhaltigkeit der Finanzkennziffern zu gewährleisten, entwickelten das Bundesministerium der Finanzen und die Deutsche Bundesbank die Idee eines Stabilitätspaktes, der die dauerhafte Einhaltung der Stabilitätskriterien zum Ziel hatte. In Deutschland galt es, im zeitlichen Vorfeld zum Wirksamwerden der dritten, entscheidenden Stufe der Währungsunion zum 1.1.1999, Kritiker zu beruhigen, die sich um den Bestand der deutschen Stabilitätskultur sorgten. Im Bundesfinanzministerium wurden deshalb in Abstimmung mit den Fachleuten der Bundesbank erste Konzepte für einen „Stabilitätspakt“ entworfen, der auf den haushaltpolitischen Konvergenzkriterien beruhte, und darüber hinaus mittelfristig ausgeglichene Staatshaushalte forderte. Abweichungen sollten nach kurzen Warnphasen mit automatischen finanziellen Sanktionen belegt werden. Nur im Falle von Naturkatastrophen und bei gravierenden Konjunkturabschwächungen sollten kurzfristige Überschreitungen der Verschuldungsgrenzen erlaubt sein. Über all das sollte in jährlichen, zu überprüfenden, Konvergenzberichten rapportiert werden. Ein automatischer Sanktionsmechanismus war nicht durchsetzbar. Die Mitgliedsstaaten verpflichteten sich, die Ausnahmeregeln nur in einem engen, zahlenmäßig fixierten Ausmaß in Anspruch zu nehmen.
Auf französisches Drängen wurde aus dem Stabilitätspakt ein „Stabilitäts- und Wachstumspakt“. In der Überschrift wurde das Wort „Wachstum“ eingefügt, im Text ein Passus ergänzt, wonach durch Strukturmaßnahmen Wachstum generiert werden soll. In dieser Form wurde er als Verordnung des Europäischen Rates im Juli 1997 in Kraft gesetzt.
Seit diesem Zeitpunkt wird der Pakt kritisiert und nur zögernd angewandt. Bei der Prüfung der Konvergenzkriterien für den Beginn und den Beitritt zur Währungsunion mussten sich Italien und Belgien verpflichten, zusätzliche Maßnahmen zur Reduzierung ihrer Staatsschulden zu ergreifen. Im Fall Griechenlands, das im Jahr 2001 aufgenommen wurde, kam es später zum Nachweis zu niedrig ausgewiesener Defizitquoten.
Der eigentliche Sündenfall, von dem sich der Pakt bis in die Gegenwart nicht erholt hat, war die nichtsanktionierte Überschreitung der 3 %-Defizitgrenze durch Deutschland und Frankreich in den frühen Bewährungsjahren 2002 und 2003. Die Europäische Kommission leitete zwar entsprechende Defizitverfahren nach den rechtlichen Vorgaben ein, wurde aber von den betroffenen Ländern und südeuropäischen Verbündeten daran gehindert, es zum strafbewehrten Ende zu führen. Auseinandersetzungen vor dem EuGH wurden später eingestellt, weil Deutschland ab 2005 wieder zur Haushaltsdisziplin zurück fand.
Der Pakt erlebte später immer wieder Veränderungen, die von den Reformvertretern als Verschärfung betrachtet wurden. Zu nennen ist bspw. der sogenannte „Sixpack“ vom Dezember 2011. Damit wurde versucht, die fiskalischen Vorgaben des Paktes besser in ein makroökonomisches Umfeld durch ein Indikatorensystem einzupassen und so die Nachhaltigkeit der jeweiligen Budgetpolitik frühzeitiger und angemessener zu beurteilen. Zudem wurden die Sanktionen bei Nichtbeachtung des Paktes verschärft. Andererseits gab es auch immer wieder Versuche, die Härte der Defizitgrenze z. B. durch das Herausrechnen von Investitions- oder Verteidigungsausgaben zu verringern.
Zur europäischen F. gehören auch die Notinstrumente, die in der Finanzmarkt- und Eurokrise ab 2008 geschaffen wurden. So trat im September 2012 der Vertrag über den ESM in Kraft, der mit Bürgschaften und Krediten in finanzielle Schieflage geratenen Mitgliedsländern die Rückkehr zur budgetären Stabilität ermöglichen soll.
Im Dezember 2011 vereinbarte der Rat einen über die Währungsunion hinausreichenden „Europäischen Fiskalpakt“, der insb. eine „Schuldenbremse“, ähnlich der Regelung für Bund und Länder in Deutschland, vorsieht. Danach sollen sich die teilnehmenden Staaten auf zeitlich definierte Pläne zur Rückführung ihrer Defizite verpflichten.
3. Bewertung der Zukunftsperspektiven
Bisher bleibt die europäische F. aus zwei Gründen in ihrer Wirkung begrenzt:
Zum einen wird sie durch den Jahrhunderte alten Ökonomenstreit über die effiziente Ausrichtung der Finanzpolitik gelähmt. Während die eine Lehrmeinung der Budget- und Steuerpolitik die Rolle zuweist, vorübergehende Wachstumsschwächen mit dynamischem staatlichen Ausgabenwachstum unter Inkaufnahme von Finanzierungsdefiziten zu begegnen, ist die andere der Meinung, Wachstum und Preisstabilität setzten mehr oder weniger ausgeglichene Staatshaushalte voraus. Die erstgenannten halten dementsprechend die europäischen Stabilitätsvorgaben für „ökonomisch unintelligent“.
Die zweite Schwäche der F. liegt in der geringen Bereitschaft der Mitgliedsländer der EU, noch weitergehende Kompetenzen im Budgetbereich auf die Gemeinschaft zu übertragen, denn das Budgetrecht ist die Kernkompetenz der nationalen Parlamente.
Ein Vertragsbündnis wie die EWWU lebt vom Vertrauen in die Einhaltung der vereinbarten Regeln. Das ist die Aufgabe von Kommission und Ecofin, der sie bisher unzureichend nachgekommen sind. Festzustellen ist aber auch, dass sowohl der EuGH als auch das BVerfG bisher alle Rettungsmaßnahmen im Rahmen des Fiskalpaktes für rechtlich zulässig erachtet und so die Mechanismen bestätigt hat.
In den letzten Krisen durch die Corona-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde der Fiskalpakt erneut herausgefordert. Hier kam die Ausnahmeregel für außerordentliche, wirtschaftliche Einbrüche und Katastrophen zum Tragen, die es den Mitgliedsstaaten vorübergehend erlaubt, die Verschuldungsgrenzen deutlich zu überschreiten. Zuletzt hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Budgetrestriktionen bis Ende 2023 auszusetzen. Allerdings zeichnet sich jetzt die Gefahr ab, dass immer neue Begründungen herhalten müssen, um die vielfach ungeliebten Haushaltsgrenzen dauerhaft zu suspendieren.
Literatur
R. Streinz: Rechtliche Rahmenbedingungen der Krise, in: K.-S. Stieber (Hg.): Brexit und Grexit, Argumente und Materalien zum Zeitgeschehen, 2015, 7–14 • Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2010 • K. Hentschelmann: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2009 • H. Tietmeyer: Herausforderung Euro, 2005 • T. Waigel: Vom finanzpolitischen Alltag zur europäischen Vision, in: T. Waigel (Hg.): Unsere Zukunft heißt Europa, 1996, 9–29.
Empfohlene Zitierweise
W. Otremba, T. Waigel: Fiskalunion, Version 03.11.2022, 11:36 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Fiskalunion (abgerufen: 25.11.2024)