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− | Die Entwicklung des B.s kann nicht ohne die historischen Erfahrungen mit den sozialen Folgen der Industrialisierung/Industriellen Revolution im 19. und frühen 20. Jh. verstanden werden. Die Entfesselung der produktiven Kräfte des Kapitalismus sorgte für Wirtschaftswachstum, führte aber zur Verelendung der aus der Landwirtschaft entlassenen <I>Proletarier</I>. Aufgegeben wurde der Anspruch sozialordnender Gestaltung im Sinne der <I>guten Policey</I> als staatliche Wohlfahrtspflege. Die freie Gestaltung des Arbeitsvertrages (§ 105 der Gewerbeordnung von 1869) war eine Konsequenz der Gewerbefreiheit ([[Berufsfreiheit]]), jedoch ein zweifelhafter Fortschritt, solange in Wahrheit nur der „Fabrikherr“ über Wohl und Wehe seiner „Fabrikuntertanen“ entscheiden konnte. „Fabrikordnungen“ wurden schon 1848 in der Paulskirchenversammlung gefordert, genauso wie die | + | Die Entwicklung des B.s kann nicht ohne die historischen Erfahrungen mit den sozialen Folgen der Industrialisierung/Industriellen Revolution im 19. und frühen 20. Jh. verstanden werden. Die Entfesselung der produktiven Kräfte des Kapitalismus sorgte für Wirtschaftswachstum, führte aber zur Verelendung der aus der Landwirtschaft entlassenen <I>Proletarier</I>. Aufgegeben wurde der Anspruch sozialordnender Gestaltung im Sinne der <I>guten Policey</I> als staatliche Wohlfahrtspflege. Die freie Gestaltung des Arbeitsvertrages (§ 105 der Gewerbeordnung von 1869) war eine Konsequenz der Gewerbefreiheit ([[Berufsfreiheit]]), jedoch ein zweifelhafter Fortschritt, solange in Wahrheit nur der „Fabrikherr“ über Wohl und Wehe seiner „Fabrikuntertanen“ entscheiden konnte. „Fabrikordnungen“ wurden schon 1848 in der Paulskirchenversammlung gefordert, genauso wie die [[Soziale Frage|<I>„sociale Frage“</I>]] von liberalen Gelehrten wie Robert von Mohl und Lorenz von Stein früh als Verfassungsfrage thematisiert wurde. Doch bewegte sich die Politik erst unter Otto von Bismarck hin zu <I>Sozialreformen „von oben“</I>. Das Kaiserreich setzte sich damit seit 1881 („Kaiserliche Botschaft“ vom 17.11.1881) ab von der [[Sozialpolitik]] führender Industriestaaten (insb. Großbritannien), indem unter O. von Bismarck zunächst die staatliche [[Sozialversicherung]] (Arbeiterversicherung als Zwangsversicherung) und unter dem jungen Wilhelm II. dann 1889/90 der Arbeitsschutz (Kinder-, Frauen-, Gefahren- und Sonntagsschutz) deutlich verbessert sowie die Anhörung der Arbeiterausschüsse im sogenannten Arbeiterschutzgesetz vom 1.6.1891 (auch zum Zweck der Abwehr der Sozialdemokratie [[[Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)|SPD]]] und der [[Gewerkschaften]]) eingeführt wurden. Der Kaiser handelte freilich aus einer Notlage heraus: Im Mai 1889 sorgte ein Massenaufstand der Bergarbeiter mit gut 90 000 Streikenden für eine veritable Wirtschaftskrise in der Montanindustrie. |
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− | Die frühe <I>Vergesetzlichung</I> der Arbeiterausschüsse, zunächst nur in der schwachen Form einer Anhörungspflicht zur obligatorischen Arbeitsordnung in Fabriken mit über 20 Arbeitern (nur soweit solche Ausschüsse freiwillig eingerichtet wurden), fand seine Fortsetzung in bayerischen (1900), preußischen (1905/09) und weiteren Landes-Berggesetzen, in denen Bergwerke mit mindestens 100 Arbeitern zur Errichtung eines ständigen Arbeiterausschusses verpflichtet wurden. Echte Akzeptanz von Gewerkschaften und Arbeiterausschüssen brachte erst das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst vom 5.12.1916 im Staatsnotstand des Ersten Weltkriegs <I>(Kriegssozialismus)</I>, wonach Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse in Betrieben mit über 50 Arbeitern bzw. Angestellten einzurichten waren. Ihnen oblag es, Anträge und Beschwerden über Lohn- und sonstige Arbeitsverhältnisse sowie Betriebseinrichtungen vorzubringen (Anhörungsrecht). Nach der Revolution gewährleistete die | + | Die frühe <I>Vergesetzlichung</I> der Arbeiterausschüsse, zunächst nur in der schwachen Form einer Anhörungspflicht zur obligatorischen Arbeitsordnung in Fabriken mit über 20 Arbeitern (nur soweit solche Ausschüsse freiwillig eingerichtet wurden), fand seine Fortsetzung in bayerischen (1900), preußischen (1905/09) und weiteren Landes-Berggesetzen, in denen Bergwerke mit mindestens 100 Arbeitern zur Errichtung eines ständigen Arbeiterausschusses verpflichtet wurden. Echte Akzeptanz von Gewerkschaften und Arbeiterausschüssen brachte erst das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst vom 5.12.1916 im Staatsnotstand des Ersten Weltkriegs <I>(Kriegssozialismus)</I>, wonach Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse in Betrieben mit über 50 Arbeitern bzw. Angestellten einzurichten waren. Ihnen oblag es, Anträge und Beschwerden über Lohn- und sonstige Arbeitsverhältnisse sowie Betriebseinrichtungen vorzubringen (Anhörungsrecht). Nach der Revolution gewährleistete die [[Weimarer Reichsverfassung (WRV)|WRV]] vom 11.8.1919 „soziale Selbstbestimmung“ (Hugo Sinzheimer) sowohl durch den Schutz der <I>Koalitionsfreiheit</I> von Gewerkschaften und [[Arbeitgeberverbände|Arbeitgeberverbänden]] (Art. 159 WRV, Tarifrecht) als auch durch den <I>Räteartikel</I> des Art. 165 WRV. Das unklare Verhältnis von Art. 159 WRV und Art. 165 WRV behinderte nicht die faktische Weichenstellung, dank der die Tarifvertragsverordnung schon 1918 den freien Gewerkschaften das Gesetz des tarifvertraglichen Handelns mit den Industrieverbänden überließ. Das unter chaotischen politischen Umständen eilig verabschiedete <I>Betriebsrätegesetz</I> 1920 verwirklichte nur die unterste Stufe der in Art. 165 Abs. 2 WRV angelegten dreistufigen Räteverfassung, etablierte aber die Institution Betriebsrat. Dieser wurde zunächst von der Gewerkschaft als Konkurrent misstrauisch beäugt, wurde aber bald – entgegen den Plänen H. Sinzheimers in der Weimarer Nationalversammlung – zum Stützpunkt der freien Gewerkschaften in den (großen) Unternehmen. Die politische Rätebewegung hatte demgegenüber bald abgedankt. Die praktische Wirksamkeit des Betriebsrätegesetzes war trotz der erweiterten Mitwirkungsrechte in sozialen und personellen Fragen eher gering. Es blieb auch wenig Entwicklungspotential, bis der NS-Staat ([[Nationalsozialismus]]) durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 mit seinem Betriebsführer-System den Mitbestimmungsgedanken ([[Mitbestimmung]]) beseitigte. |
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− | Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf das Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10.4.1946 eine erste Richtlinie für ländergesetzliche Betriebsrätegesetze, die von den Alliierten zu genehmigen waren. Diese wurden hinfällig durch das Bundes-<I>Betriebsverfassungsgesetz</I> vom 11.[10.1952 10.1952], das nach einem erbitterten Kampf zwischen den Verfechtern der Wirtschaftsdemokratie ( | + | Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf das Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10.4.1946 eine erste Richtlinie für ländergesetzliche Betriebsrätegesetze, die von den Alliierten zu genehmigen waren. Diese wurden hinfällig durch das Bundes-<I>Betriebsverfassungsgesetz</I> vom 11.[10.1952 10.1952], das nach einem erbitterten Kampf zwischen den Verfechtern der Wirtschaftsdemokratie ([[Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)|SPD]] und [[Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)|DGB]]) und den Anhängern einer „[[Sozialpartnerschaft]]“ ([[Christlich Demokratische Union (CDU)|CDU]]/[[Christlich-Soziale Union (CSU)|CSU]]/[[Freie Demokratische Partei (FDP)|FDP]]) unter Konrad Adenauer zu einer marktwirtschaftlichen Prinzipien ([[Soziale Marktwirtschaft]]) entsprechenden „Gestaltungsteilhabe“ des Betriebsrats in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten führte. Das Harmonieideal der <I>vertrauensvollen</I> Zusammenarbeit (§ 49 BetrVG 1952) prägte die neue Gesetzgebung, man erwartete sich eine konstruktive Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat. Doch brachte die bis heute im Wesentlichen gültige Novellierung des BetrVG vom 18.1.1972 unter Willy Brandt einen grundsätzlichen Wandel: unter Beibehaltung des Harmonieideals (§ 2 Abs. 1 BetrVG 1972) wurden dem Betriebsrat stärkere Rechte insb. im Bereich des Entgelts und sonstiger materieller Arbeitsbedingungen, in der personellen Mitbestimmung und bei Betriebsänderungen (Interessenausgleich und Sozialplan) zugestanden. Die letzte Novellierung im Reformgesetz vom 23.7.2001 bezweckte eine Modernisierung und Flexibilisierung und brachte weitere Verbesserungen der Betriebsratsarbeit z. B. durch eine Vergrößerung der Betriebsratsgremien. |
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− | Das B. ist ein wesentlicher Pfeiler im dualen System der arbeitsrechtlichen | + | Das B. ist ein wesentlicher Pfeiler im dualen System der arbeitsrechtlichen [[Mitbestimmung]] in Deutschland. Das kollektive [[Arbeitsrecht]] wird bis heute geprägt von praktisch wirksamen und abgeschichteten Befugnissen von i. d. R. überbetrieblich agierenden Tarifparteien und innerbetrieblich agierenden Betriebsparteien. Während das Tarifrecht im TVG als schlanke Verfahrensgesetzgebung die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) einfach-rechtlich umsetzt und die normative Wirkung von Tarifverträgen ermöglicht, sorgt das B. für die Umsetzung freiheitsverbürgender Grundrechte im Betrieb, indem es „Betriebsgesetze“ seitens Arbeitgeber <I>und</I> Betriebsrat z. B. zu Ordnungs- und Sicherheitsfragen, Arbeitszeit und -entgelt, [[Datenschutz]] und Ethik-Richtlinien zulässt. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können <I>Betriebsvereinbarungen</I> tarifliche Regelungen weder verändern noch ersetzen (Tarifvorrang). Doch soll die Mitbestimmung des Betriebsrats die vorrangigen Tarifverträge sinnvoll ergänzen und konkrete betriebliche Bedürfnisse berücksichtigen. Während [[Gewerkschaften]] die materiellen Arbeitsbedingungen (Entgelt, Wochenarbeitszeit etc.) für ihre Mitglieder in zentralen Verhandlungen mit den [[Arbeitgeberverbände|Arbeitgeberverbänden]] aushandeln bzw. durch Streiks ([[Arbeitskampf]]) erkämpfen (d. h. ökonomische Kompensation der Verhandlungsschwäche der abhängig Beschäftigten), können Betriebsräte die organisationsbedingte Abhängigkeit der Beschäftigten von der Leitungsmacht des Arbeitgebers durch mitbestimmte Betriebsregelungen vor Ort ausgleichen. Das B. sorgt daher für eine annähernd gleichgewichtige Interessendurchsetzung von Arbeitnehmerrechten im Betrieb und lässt sich im betrieblichen Alltag heute als Erfolgsmodell der [[Sozialpartnerschaft]] beschreiben. |
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− | Deutlich abzugrenzen ist das B. vom Recht der <I>Unternehmensmitbestimmung</I>. Die heute noch wesentliche paritätische | + | Deutlich abzugrenzen ist das B. vom Recht der <I>Unternehmensmitbestimmung</I>. Die heute noch wesentliche paritätische [[Mitbestimmung]] nach dem Mitbestimmungsgesetz vom 4.5.1976 bzw. die drittel-paritätische Mitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz vom 18.5.2004 findet im Aufsichtsrat nur von großen, über 2 000 bzw. über 500 Arbeitnehmer beschäftigenden Kapitalgesellschaften statt und ermöglicht damit eine indirekte Einflussnahme der Arbeitnehmervertreter auf unternehmensstrategische Entscheidungen im Zusammenwirken mit den Vertretern der Anteilseigner. |
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− | Das B. wird ferner ergänzt durch das <I>SprAuG</I> vom 20.12.1988, das es auch leitenden Angestellten i. S. v. § 5 Abs. 3 BetrVG ermöglicht, eigene „Sprecherausschüsse“ zu errichten. Wegen ihrer Arbeitgebernähe werden leitende Angestellte vom Betriebsrat nicht repräsentiert. Im öffentlichen Dienst erfüllen <I>Personalräte</I> die gleiche Funktion wie Betriebsräte, in den großen Kirchen und ihren Einrichtungen werden <I>Mitarbeitervertretungen</I> gewählt. Daran zeigt sich die flächendeckende Verbreitung von betrieblicher Mitbestimmung im deutschen Arbeitsrecht, was in der | + | Das B. wird ferner ergänzt durch das <I>SprAuG</I> vom 20.12.1988, das es auch leitenden Angestellten i. S. v. § 5 Abs. 3 BetrVG ermöglicht, eigene „Sprecherausschüsse“ zu errichten. Wegen ihrer Arbeitgebernähe werden leitende Angestellte vom Betriebsrat nicht repräsentiert. Im öffentlichen Dienst erfüllen <I>Personalräte</I> die gleiche Funktion wie Betriebsräte, in den großen Kirchen und ihren Einrichtungen werden <I>Mitarbeitervertretungen</I> gewählt. Daran zeigt sich die flächendeckende Verbreitung von betrieblicher Mitbestimmung im deutschen Arbeitsrecht, was in der [[Europäische Union (EU)|EU]] in dieser Breite kaum ein Beispiel findet. Inzwischen werden in jungen „Start up“-Unternehmen aber auch alternative Vertretungskörper (Betriebsausschüsse, Belegschaftssprecher) oder gemeinsame Gremien („Runder Tisch“) kraft freier Vereinbarung registriert. |
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<h2 class ="headline-w-margin">3. Europäische Rechtsquellen</h2> | <h2 class ="headline-w-margin">3. Europäische Rechtsquellen</h2> | ||
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− | Neben den oben unter 2. erwähnten deutschen Rechtsquellen des B.s hat auch die <I>EU</I> in der EuGRC ( | + | Neben den oben unter 2. erwähnten deutschen Rechtsquellen des B.s hat auch die <I>EU</I> in der EuGRC ([[Grundrechte]]) vom 12.12.2007 unter dem Titel IV (Solidarität) in Art. 27 das „Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen“ neben der [[Tarifautonomie]] einschließlich kollektiver Maßnahmen (Art. 28) als soziales Grundrecht anerkannt. Freilich bezieht sich dieses Recht derzeit ausweislich der Rahmen-RL 2002/14/EG vom 11.3.2002 nur auf die Stärkung der Informations- und Konsultationsrechte der Belegschaften, nicht auf deren „echte“ [[Mitbestimmung]]. Wesentlicher ist die Installation von <I>Europäischen Betriebsräten</I> durch die Richtlinie 2009/38/EG vom 6.5.2009 (Novellierung der RL 94/45/EG), in Deutschland umgesetzt durch das EBRG. Europaweit agierende Konzerne werden hierdurch verpflichtet, eine grenzübergreifende Unterrichtung und Anhörung mit Belegschaftsvertretern kraft Vereinbarungslösung (§§ 17 ff. EBRG) oder kraft Gesetzes (§§ 21 ff. EBRG) festzulegen. |
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− | Neben den europarechtlich verbürgten Informationspflichten hat der Betriebsrat in Deutschland darüber hinausgehende <I>starke Mitbestimmungsrechte</I> ( | + | Neben den europarechtlich verbürgten Informationspflichten hat der Betriebsrat in Deutschland darüber hinausgehende <I>starke Mitbestimmungsrechte</I> ([[Mitbestimmung]]), soweit das Gesetz ihm ein Initiativ- bzw. Veto-Recht wie in § 87 Abs. 1 BetrVG (Soziale Angelegenheiten) oder § 112 Abs. 4 BetrVG (Sozialplan) gibt. Das hat zur Folge, dass bei Nichteinigung mit dem Arbeitgeber die Einigungsstelle gem. § 76 BetrVG unter unabhängigem Vorsitz eines Arbeitsrichters eine Regelung auch gegen den Willen des Arbeitgebers durchsetzen kann. Übergeht dieser den Betriebsrat bei einer mitbestimmungspflichtigen Maßnahme (z. B. Anordnung von Überstunden, Auszahlung einer kollektiven Prämie), so ist die entsprechende Weisung unwirksam; außerdem kann ein Unterlassungsanspruch vor dem Arbeitsgericht erwirkt werden. Bei kollektiven Geldleistungen kann allerdings nur das „Wie“ (z. B. Verteilungsschlüssel) und nicht das „Ob“ der Zuwendung vom Betriebsrat beeinflusst werden (Grund: freie Unternehmerentscheidung). Besonders wichtig ist die zwingende Mitbestimmung beim <I>Sozialplan</I>, der z. B. bei Stilllegung von Betrieben den gekündigten Arbeitnehmern eine Abfindungszahlung bzw. Umschulungsmaßnahmen garantiert (§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG). |
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− | <I>Beschränktere Mitwirkungsrechte</I> finden sich dagegen im personellen Bereich, wenn z. B. § 99 ein auf gesetzliche Gründe gestütztes Widerspruchsrecht gegen die Einstellungspolitik des Arbeitgebers verlangt. So kann z. B. die Beschäftigung eines entgegen § 1 Abs. 1 AÜG nicht nur vorübergehend eingestellten Leiharbeiters verhindert werden. Bei Kündigungen jeder Art muss der Betriebsrat nur angehört werden, <I>bevor</I> die Maßnahme umgesetzt wird (§ 102 BetrVG). Eine ohne Anhörung vollzogene Kündigung ist unwirksam. Auch den | + | <I>Beschränktere Mitwirkungsrechte</I> finden sich dagegen im personellen Bereich, wenn z. B. § 99 ein auf gesetzliche Gründe gestütztes Widerspruchsrecht gegen die Einstellungspolitik des Arbeitgebers verlangt. So kann z. B. die Beschäftigung eines entgegen § 1 Abs. 1 AÜG nicht nur vorübergehend eingestellten Leiharbeiters verhindert werden. Bei Kündigungen jeder Art muss der Betriebsrat nur angehört werden, <I>bevor</I> die Maßnahme umgesetzt wird (§ 102 BetrVG). Eine ohne Anhörung vollzogene Kündigung ist unwirksam. Auch den sogenannten „Interessenausgleich“ zur sozialverträglichen Bewältigung einer Betriebsänderung (z. B. Unternehmensverlegung, Betriebsstilllegung, Spaltung von Betrieben) kann der Betriebsrat nicht erzwingen (§ 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). |
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− | Das B. steht im deutschen [[Arbeitsrecht]] rechtstatsächlich und rechtspolitisch auf einem stabilen Grund. Dennoch schlagen Digitalisierung ( | + | Das B. steht im deutschen [[Arbeitsrecht]] rechtstatsächlich und rechtspolitisch auf einem stabilen Grund. Dennoch schlagen Digitalisierung ([[Digitale Revolution]]) und [[Individualisierung]] der Arbeitswelt im 21. Jh. auf die betriebliche Wirklichkeit voll durch und schaffen erweiterte tarif- und betriebsratsfreie Zonen insb. in der Dienstleistungsbranche ([[Dienstleistungen]]). Die Rolle des allseits akzeptierten Belegschaftsvertreters auszufüllen wird zudem immer schwieriger. Daher wird sich das Flexibilisierungspotential des BetrVG z. B. in Gestalt neuer Verhandlungslösungen (so auch der Ansatz von § 3 BetrVG) in Zukunft weiter bewähren müssen, um diffuser werdenden Unternehmensstrukturen noch angemessen begegnen und der potentiellen Selbstausbeutung im Zeichen der „Arbeitswelt 4.0“ Schranken setzen zu können. Das BAG stärkt durch extensive Auslegung der Befugnisse des Betriebsrats dessen Rolle als „Ersatzgewerkschaft“ und begünstigt damit eine <I>Kultur informeller Partnerschaft</I> zwischen Management und Belegschaft, die im Zweifel auf die genaue Beachtung eines teilweise überschießend regulierenden BetrVG verzichten kann. |
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− | H. Reichold: Betriebsverfassungsrecht, Version | + | H. Reichold: Betriebsverfassungsrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Betriebsverfassungsrecht}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}}) |
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Aktuelle Version vom 5. Juli 2023, 08:59 Uhr
1. Historische Entwicklung
Die Entwicklung des B.s kann nicht ohne die historischen Erfahrungen mit den sozialen Folgen der Industrialisierung/Industriellen Revolution im 19. und frühen 20. Jh. verstanden werden. Die Entfesselung der produktiven Kräfte des Kapitalismus sorgte für Wirtschaftswachstum, führte aber zur Verelendung der aus der Landwirtschaft entlassenen Proletarier. Aufgegeben wurde der Anspruch sozialordnender Gestaltung im Sinne der guten Policey als staatliche Wohlfahrtspflege. Die freie Gestaltung des Arbeitsvertrages (§ 105 der Gewerbeordnung von 1869) war eine Konsequenz der Gewerbefreiheit (Berufsfreiheit), jedoch ein zweifelhafter Fortschritt, solange in Wahrheit nur der „Fabrikherr“ über Wohl und Wehe seiner „Fabrikuntertanen“ entscheiden konnte. „Fabrikordnungen“ wurden schon 1848 in der Paulskirchenversammlung gefordert, genauso wie die „sociale Frage“ von liberalen Gelehrten wie Robert von Mohl und Lorenz von Stein früh als Verfassungsfrage thematisiert wurde. Doch bewegte sich die Politik erst unter Otto von Bismarck hin zu Sozialreformen „von oben“. Das Kaiserreich setzte sich damit seit 1881 („Kaiserliche Botschaft“ vom 17.11.1881) ab von der Sozialpolitik führender Industriestaaten (insb. Großbritannien), indem unter O. von Bismarck zunächst die staatliche Sozialversicherung (Arbeiterversicherung als Zwangsversicherung) und unter dem jungen Wilhelm II. dann 1889/90 der Arbeitsschutz (Kinder-, Frauen-, Gefahren- und Sonntagsschutz) deutlich verbessert sowie die Anhörung der Arbeiterausschüsse im sogenannten Arbeiterschutzgesetz vom 1.6.1891 (auch zum Zweck der Abwehr der Sozialdemokratie [[[Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)|SPD]]] und der Gewerkschaften) eingeführt wurden. Der Kaiser handelte freilich aus einer Notlage heraus: Im Mai 1889 sorgte ein Massenaufstand der Bergarbeiter mit gut 90 000 Streikenden für eine veritable Wirtschaftskrise in der Montanindustrie.
Die frühe Vergesetzlichung der Arbeiterausschüsse, zunächst nur in der schwachen Form einer Anhörungspflicht zur obligatorischen Arbeitsordnung in Fabriken mit über 20 Arbeitern (nur soweit solche Ausschüsse freiwillig eingerichtet wurden), fand seine Fortsetzung in bayerischen (1900), preußischen (1905/09) und weiteren Landes-Berggesetzen, in denen Bergwerke mit mindestens 100 Arbeitern zur Errichtung eines ständigen Arbeiterausschusses verpflichtet wurden. Echte Akzeptanz von Gewerkschaften und Arbeiterausschüssen brachte erst das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst vom 5.12.1916 im Staatsnotstand des Ersten Weltkriegs (Kriegssozialismus), wonach Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse in Betrieben mit über 50 Arbeitern bzw. Angestellten einzurichten waren. Ihnen oblag es, Anträge und Beschwerden über Lohn- und sonstige Arbeitsverhältnisse sowie Betriebseinrichtungen vorzubringen (Anhörungsrecht). Nach der Revolution gewährleistete die WRV vom 11.8.1919 „soziale Selbstbestimmung“ (Hugo Sinzheimer) sowohl durch den Schutz der Koalitionsfreiheit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Art. 159 WRV, Tarifrecht) als auch durch den Räteartikel des Art. 165 WRV. Das unklare Verhältnis von Art. 159 WRV und Art. 165 WRV behinderte nicht die faktische Weichenstellung, dank der die Tarifvertragsverordnung schon 1918 den freien Gewerkschaften das Gesetz des tarifvertraglichen Handelns mit den Industrieverbänden überließ. Das unter chaotischen politischen Umständen eilig verabschiedete Betriebsrätegesetz 1920 verwirklichte nur die unterste Stufe der in Art. 165 Abs. 2 WRV angelegten dreistufigen Räteverfassung, etablierte aber die Institution Betriebsrat. Dieser wurde zunächst von der Gewerkschaft als Konkurrent misstrauisch beäugt, wurde aber bald – entgegen den Plänen H. Sinzheimers in der Weimarer Nationalversammlung – zum Stützpunkt der freien Gewerkschaften in den (großen) Unternehmen. Die politische Rätebewegung hatte demgegenüber bald abgedankt. Die praktische Wirksamkeit des Betriebsrätegesetzes war trotz der erweiterten Mitwirkungsrechte in sozialen und personellen Fragen eher gering. Es blieb auch wenig Entwicklungspotential, bis der NS-Staat (Nationalsozialismus) durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 mit seinem Betriebsführer-System den Mitbestimmungsgedanken (Mitbestimmung) beseitigte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf das Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10.4.1946 eine erste Richtlinie für ländergesetzliche Betriebsrätegesetze, die von den Alliierten zu genehmigen waren. Diese wurden hinfällig durch das Bundes-Betriebsverfassungsgesetz vom 11.[10.1952 10.1952], das nach einem erbitterten Kampf zwischen den Verfechtern der Wirtschaftsdemokratie (SPD und DGB) und den Anhängern einer „Sozialpartnerschaft“ (CDU/CSU/FDP) unter Konrad Adenauer zu einer marktwirtschaftlichen Prinzipien (Soziale Marktwirtschaft) entsprechenden „Gestaltungsteilhabe“ des Betriebsrats in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten führte. Das Harmonieideal der vertrauensvollen Zusammenarbeit (§ 49 BetrVG 1952) prägte die neue Gesetzgebung, man erwartete sich eine konstruktive Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat. Doch brachte die bis heute im Wesentlichen gültige Novellierung des BetrVG vom 18.1.1972 unter Willy Brandt einen grundsätzlichen Wandel: unter Beibehaltung des Harmonieideals (§ 2 Abs. 1 BetrVG 1972) wurden dem Betriebsrat stärkere Rechte insb. im Bereich des Entgelts und sonstiger materieller Arbeitsbedingungen, in der personellen Mitbestimmung und bei Betriebsänderungen (Interessenausgleich und Sozialplan) zugestanden. Die letzte Novellierung im Reformgesetz vom 23.7.2001 bezweckte eine Modernisierung und Flexibilisierung und brachte weitere Verbesserungen der Betriebsratsarbeit z. B. durch eine Vergrößerung der Betriebsratsgremien.
2. Funktion und Formen im kollektiven Arbeitsrecht
Das B. ist ein wesentlicher Pfeiler im dualen System der arbeitsrechtlichen Mitbestimmung in Deutschland. Das kollektive Arbeitsrecht wird bis heute geprägt von praktisch wirksamen und abgeschichteten Befugnissen von i. d. R. überbetrieblich agierenden Tarifparteien und innerbetrieblich agierenden Betriebsparteien. Während das Tarifrecht im TVG als schlanke Verfahrensgesetzgebung die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) einfach-rechtlich umsetzt und die normative Wirkung von Tarifverträgen ermöglicht, sorgt das B. für die Umsetzung freiheitsverbürgender Grundrechte im Betrieb, indem es „Betriebsgesetze“ seitens Arbeitgeber und Betriebsrat z. B. zu Ordnungs- und Sicherheitsfragen, Arbeitszeit und -entgelt, Datenschutz und Ethik-Richtlinien zulässt. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Betriebsvereinbarungen tarifliche Regelungen weder verändern noch ersetzen (Tarifvorrang). Doch soll die Mitbestimmung des Betriebsrats die vorrangigen Tarifverträge sinnvoll ergänzen und konkrete betriebliche Bedürfnisse berücksichtigen. Während Gewerkschaften die materiellen Arbeitsbedingungen (Entgelt, Wochenarbeitszeit etc.) für ihre Mitglieder in zentralen Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden aushandeln bzw. durch Streiks (Arbeitskampf) erkämpfen (d. h. ökonomische Kompensation der Verhandlungsschwäche der abhängig Beschäftigten), können Betriebsräte die organisationsbedingte Abhängigkeit der Beschäftigten von der Leitungsmacht des Arbeitgebers durch mitbestimmte Betriebsregelungen vor Ort ausgleichen. Das B. sorgt daher für eine annähernd gleichgewichtige Interessendurchsetzung von Arbeitnehmerrechten im Betrieb und lässt sich im betrieblichen Alltag heute als Erfolgsmodell der Sozialpartnerschaft beschreiben.
Deutlich abzugrenzen ist das B. vom Recht der Unternehmensmitbestimmung. Die heute noch wesentliche paritätische Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz vom 4.5.1976 bzw. die drittel-paritätische Mitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz vom 18.5.2004 findet im Aufsichtsrat nur von großen, über 2 000 bzw. über 500 Arbeitnehmer beschäftigenden Kapitalgesellschaften statt und ermöglicht damit eine indirekte Einflussnahme der Arbeitnehmervertreter auf unternehmensstrategische Entscheidungen im Zusammenwirken mit den Vertretern der Anteilseigner.
Das B. ist dagegen kein Gegenstand der Unternehmens-, sondern der Arbeitsverfassung (Arbeitsrecht). Es findet Anwendung ohne Rücksicht auf Rechtsform oder Größe des Unternehmens. Schon in Betrieben mit fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern können Betriebsräte gewählt werden. Doch liegt es an der Belegschaft selbst, ob es einen Betriebsrat geben soll. Ein Errichtungszwang existiert nicht. Das hat zur Folge, dass faktisch erst in Betrieben ab ca. 200 Beschäftigten Betriebsräte existieren und demgemäß nur ca. 60 % aller Beschäftigten in Deutschland von einem Betriebsrat vertreten werden. Von den Betrieben mit maximal 50 Beschäftigten haben nur 5 bis 6 % einen Betriebsrat. In Unternehmen mit 200 bis 500 Beschäftigten sind es schon um die 70 %, in noch größeren Unternehmen annähernd 90 % (Stand 2013).
Das B. wird ferner ergänzt durch das SprAuG vom 20.12.1988, das es auch leitenden Angestellten i. S. v. § 5 Abs. 3 BetrVG ermöglicht, eigene „Sprecherausschüsse“ zu errichten. Wegen ihrer Arbeitgebernähe werden leitende Angestellte vom Betriebsrat nicht repräsentiert. Im öffentlichen Dienst erfüllen Personalräte die gleiche Funktion wie Betriebsräte, in den großen Kirchen und ihren Einrichtungen werden Mitarbeitervertretungen gewählt. Daran zeigt sich die flächendeckende Verbreitung von betrieblicher Mitbestimmung im deutschen Arbeitsrecht, was in der EU in dieser Breite kaum ein Beispiel findet. Inzwischen werden in jungen „Start up“-Unternehmen aber auch alternative Vertretungskörper (Betriebsausschüsse, Belegschaftssprecher) oder gemeinsame Gremien („Runder Tisch“) kraft freier Vereinbarung registriert.
3. Europäische Rechtsquellen
Neben den oben unter 2. erwähnten deutschen Rechtsquellen des B.s hat auch die EU in der EuGRC (Grundrechte) vom 12.12.2007 unter dem Titel IV (Solidarität) in Art. 27 das „Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen“ neben der Tarifautonomie einschließlich kollektiver Maßnahmen (Art. 28) als soziales Grundrecht anerkannt. Freilich bezieht sich dieses Recht derzeit ausweislich der Rahmen-RL 2002/14/EG vom 11.3.2002 nur auf die Stärkung der Informations- und Konsultationsrechte der Belegschaften, nicht auf deren „echte“ Mitbestimmung. Wesentlicher ist die Installation von Europäischen Betriebsräten durch die Richtlinie 2009/38/EG vom 6.5.2009 (Novellierung der RL 94/45/EG), in Deutschland umgesetzt durch das EBRG. Europaweit agierende Konzerne werden hierdurch verpflichtet, eine grenzübergreifende Unterrichtung und Anhörung mit Belegschaftsvertretern kraft Vereinbarungslösung (§§ 17 ff. EBRG) oder kraft Gesetzes (§§ 21 ff. EBRG) festzulegen.
4. Mitwirkungsrechte und ihre Durchsetzung
Leitgedanke des B.s ist die Beteiligung der Belegschaft über den Betriebsrat an der Gestaltung der betrieblichen Arbeitsbedingungen. Historisch wurde das begründet mit der typisch deutschen Idee der „konstitutionellen Fabrik“ (H. Freese), wonach der Unternehmer als „geborener Monarch“ seine Herrschaftsrechte zum Zwecke der Verwirklichung demokratischer Postulate mit der Belegschaft teilen muss. Doch ist das B. deshalb nicht öffentliches Recht. Vielmehr verwirklicht es die Idee der vertraglichen Kooperation kraft Beteiligung des Betriebsrats in effizienter Weise, soweit es um betriebliche kollektive Regelungen geht. Es handelt sich daher um ein spezifisches Sozialprivatrecht. Das Verfassungsrecht setzt Grenzen, wenn es um den Kernbereich der Unternehmerrechte (Art. 12 GG) geht: Dessen Letztentscheidung bei der unternehmerischen Steuerung darf durch den Betriebsrat nicht angetastet werden. Auch einzelvertragliche „essentials“ (Entgelt, Tätigkeit, Voll- oder Teilzeit) bleiben der bilateralen Absprache zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorbehalten.
Neben den europarechtlich verbürgten Informationspflichten hat der Betriebsrat in Deutschland darüber hinausgehende starke Mitbestimmungsrechte (Mitbestimmung), soweit das Gesetz ihm ein Initiativ- bzw. Veto-Recht wie in § 87 Abs. 1 BetrVG (Soziale Angelegenheiten) oder § 112 Abs. 4 BetrVG (Sozialplan) gibt. Das hat zur Folge, dass bei Nichteinigung mit dem Arbeitgeber die Einigungsstelle gem. § 76 BetrVG unter unabhängigem Vorsitz eines Arbeitsrichters eine Regelung auch gegen den Willen des Arbeitgebers durchsetzen kann. Übergeht dieser den Betriebsrat bei einer mitbestimmungspflichtigen Maßnahme (z. B. Anordnung von Überstunden, Auszahlung einer kollektiven Prämie), so ist die entsprechende Weisung unwirksam; außerdem kann ein Unterlassungsanspruch vor dem Arbeitsgericht erwirkt werden. Bei kollektiven Geldleistungen kann allerdings nur das „Wie“ (z. B. Verteilungsschlüssel) und nicht das „Ob“ der Zuwendung vom Betriebsrat beeinflusst werden (Grund: freie Unternehmerentscheidung). Besonders wichtig ist die zwingende Mitbestimmung beim Sozialplan, der z. B. bei Stilllegung von Betrieben den gekündigten Arbeitnehmern eine Abfindungszahlung bzw. Umschulungsmaßnahmen garantiert (§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG).
Beschränktere Mitwirkungsrechte finden sich dagegen im personellen Bereich, wenn z. B. § 99 ein auf gesetzliche Gründe gestütztes Widerspruchsrecht gegen die Einstellungspolitik des Arbeitgebers verlangt. So kann z. B. die Beschäftigung eines entgegen § 1 Abs. 1 AÜG nicht nur vorübergehend eingestellten Leiharbeiters verhindert werden. Bei Kündigungen jeder Art muss der Betriebsrat nur angehört werden, bevor die Maßnahme umgesetzt wird (§ 102 BetrVG). Eine ohne Anhörung vollzogene Kündigung ist unwirksam. Auch den sogenannten „Interessenausgleich“ zur sozialverträglichen Bewältigung einer Betriebsänderung (z. B. Unternehmensverlegung, Betriebsstilllegung, Spaltung von Betrieben) kann der Betriebsrat nicht erzwingen (§ 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG).
5. Zukunftsperspektiven
Das B. steht im deutschen Arbeitsrecht rechtstatsächlich und rechtspolitisch auf einem stabilen Grund. Dennoch schlagen Digitalisierung (Digitale Revolution) und Individualisierung der Arbeitswelt im 21. Jh. auf die betriebliche Wirklichkeit voll durch und schaffen erweiterte tarif- und betriebsratsfreie Zonen insb. in der Dienstleistungsbranche (Dienstleistungen). Die Rolle des allseits akzeptierten Belegschaftsvertreters auszufüllen wird zudem immer schwieriger. Daher wird sich das Flexibilisierungspotential des BetrVG z. B. in Gestalt neuer Verhandlungslösungen (so auch der Ansatz von § 3 BetrVG) in Zukunft weiter bewähren müssen, um diffuser werdenden Unternehmensstrukturen noch angemessen begegnen und der potentiellen Selbstausbeutung im Zeichen der „Arbeitswelt 4.0“ Schranken setzen zu können. Das BAG stärkt durch extensive Auslegung der Befugnisse des Betriebsrats dessen Rolle als „Ersatzgewerkschaft“ und begünstigt damit eine Kultur informeller Partnerschaft zwischen Management und Belegschaft, die im Zweifel auf die genaue Beachtung eines teilweise überschießend regulierenden BetrVG verzichten kann.
Literatur
K. Fitting u. a.: Betriebsverfassungsgesetz. Handkommentar, 282016 • G. Wiese u. a.: Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 102014 • H. Reichold: Belegschaftsvertretungen im Spannungsfeld divergierender Arbeitnehmerinteressen, NZA-Beilage 24/4 (2012), 146–151 • V. Rieble: Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996 • H. Konzen: Vom „Neuen Kurs“ zur sozialen Marktwirtschaft, ZfA 22/3 (1991), 379–400 • M. Becker: Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995 • H. Reichold: Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995 • H. Konzen: Betriebsverfassungsrechtliche Leistungspflichten des Arbeitgebers, 1984 • W. Hromadka: Die Arbeitsordnung im Wandel der Zeit, 1979 • R. Richardi: Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968 • H. Sinzheimer: Grundzüge des Arbeitsrechts, 21927 • H. Freese: Die konstitutionelle Fabrik, 41922 • R. Richardi (Hg.): Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung, 141914 • L. Brentano: Das Arbeitsverhältniß gemäß dem heutigen Recht, 1877 • O. Stettes: Betriebsräte und alternative Formen der Mitbestimmung – Ergebnisse aus dem IW-Zunkunftspanel, in: IW-Trends 35/3 (2008), 1–15.
Empfohlene Zitierweise
H. Reichold: Betriebsverfassungsrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Betriebsverfassungsrecht (abgerufen: 22.11.2024)