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Aktuelle Version vom 5. Juli 2023, 09:46 Uhr
Für das bis auf das Althochdeutsche zurückgehende Wort „V.“ hat das von Jacob und Wilhelm Grimm begründete „Deutsche Wörterbuch“ (Bd. 26, 453–472) eine Fülle von Bedeutungen bzw. Bedeutungsvarianten benannt. Was die politische Sprache betrifft, so lassen sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Ebenen des Wortgebrauchs unterscheiden, die sich schon im Altgriechischen und Lateinischen finden und deren Verständnis sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten dem heutigen Gebrauch gemäß verfestigt hat. In etlichen modernen Sprachen lassen sich ähnliche Unterscheidungen ausmachen, dem Deutschen am nächsten bei den Skandinaviern: Erstens kann gemeint sein eine ethnische Großgruppe, definiert durch vermeintliche gemeinsame Abstammung, Sprache und Kultur; zweitens die Bewohner eines Staates bzw. dessen Bürger (Bürger, Bürgertum), insb. die Inhaber der Souveränität in der Demokratie; drittens die unterschiedlich umfassend gedachte Menge der einfachen Menschen innerhalb einer ethnischen oder staatsbürgerlichen Gesamtheit, die relativ unteren Klassen und Schichten bzw. die V.s-Massen (Masse) gegen die Oberen, die Eliten. Die beiden erstgenannten Bedeutungen entsprechen der „Nation“, denn es ist nie gelungen, diese vom „V.“ plausibel terminologisch zu trennen. Doch die soziale Dimension des Begriffs bleibt dem „V.“ vorbehalten. Weiter tradiert wird bis heute in jüdisch-christlicher Überlieferung das Gottes-V. bzw. das Kirchen-V. Das „katholische V.“ trat v. a. während des Kulturkampfs der 1870er Jahre hervor.
Die Berufung auf das V. und die Benutzung des V.s-Begriffs lässt sich für das 20. Jh. über das gesamte politisch-weltanschauliche Spektrum nachweisen, mehr oder weniger emphatisch. Gerade dessen Mehrdeutigkeit, wobei das ethnische, das staatsbürgerliche und das soziale V. keine unvereinbaren Gegensätze bilden, hat zur Karriere des V.s-Begriffs beigetragen. Auch die modernen Diktaturen haben sich bemüht, ihr Regime als dem V.s-Willen entstammend und ihm entspr. darzustellen.
Zu einem politischen Zentralbegriff wurde „V.“ im deutschsprachigen Mitteleuropa in den Jahrzehnten um 1800 durch den direkten und indirekten Einfluss der Französischen Revolution. Die französischen Verfassungen von 1791 und 1793, gedanklich gestützt auf die theoretischen Schriften von Charles de Montesquieu und Jean-Jacques Rousseau, wie zuvor schon die nordamerikanischen einzelstaatlichen und Unionsverfassungen, machten das V. zum pouvoir constituant. Der bedeutende badische Liberale Carl von Rotteck formulierte 1818, ein V. ohne Verfassung sei „– im edlen Sinne des Wortes – gar kein Volk“ (Rotteck 1841: 407). Für die europäischen Liberalen blieb dabei die Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern, also ein beschränktes Wahlrecht, lange bestimmend. Das „eigentliche“ V. war durch Eigentum, also wirtschaftliche Selbstständigkeit und/oder Bildung und die vermeintlich nur dadurch gegebene Urteilsfähigkeit charakterisiert und vom „Pöbel“, den „niederen Klassen“, deutlich abgehoben. Demgegenüber war das aktive V. der (radikaleren) „Demokraten“ als Männerbevölkerung umfassend definiert; das Frauenwahlrecht wurde in Europa allerdings erst im späten 19. Jh. ernsthaft diskutiert.
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Orientierung an einer idealisierten Vorstellung vom V., namentlich vom deutschen V., in den antinapoleonischen Gruppenbildungen nach 1806, wo „Nation“ teilweise zu romanisch klang, und in den Befreiungskriegen 1813–15, v. a. in den Freiwilligen-Einheiten. Dabei hatte die in xenophober Reaktion auf die französische Hegemonie erfolgte Aufwertung, ja Verherrlichung des deutschen V.es bei den Sprechern der noch kleinen Nationalbewegung wie Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn u. a. eine obrigkeitsfeindliche und egalitäre Tendenz. Verstanden wurde das V. als eine sich in Sprache, Kultur und Wesensart ausdrückende organische Einheit. Nur durch das ethnisch-nationale V. als Mittler zwischen den Einzelnen und der Menschheit könnten universelle Zwecke verfolgt werden. Dabei konnte auf die volks- und völkerkundlichen Arbeiten des Theologen, Philologen und Philosophen Johann Gottfried Herder zurückgegriffen werden, der dem jeweiligen „V.s-Geist“ Eigenwert und göttlichen Ursprung attestiert hatte.
Anders als beim konservativen Flügel der politischen Romantik und bei der Historischen Rechtsschule hatte die Überzeugung, dass die staatliche Verfassung dem spezifischen Charakter des jeweiligen V.es gemäß sein müsse, bei den erwähnten Volkstümlern tendenziell demokratische Konsequenzen statt gegenreformerische. E. M. Arndt ging 1815 z. B. so weit, die Legitimität der fürstlichen Existenz von dem gerechten Handeln des Herrschers abhängig zu machen. Dieser hätte als „Diener und Beamter des Volkes“ (Arndt 1815: 192) zu fungieren. Die meist föderativ und konstitutionell-monarchisch gedachte Einheit Deutschlands blieb allerdings in dieser Phase i. d. R. noch ein vage formuliertes Ziel.
In der Enttäuschung über die Ergebnisse des Wiener Kongresses geriet das Volkstumsdenken rasch in einen offenen Gegensatz zum politisch-gesellschaftlichen Status quo, während Franzosen- und (kulturelle) Judenfeindschaft in der Nationalbewegung einige Jahrzehnte zurücktraten. In den 1830er und 1840er Jahren entwickelte sich vielmehr eine Art Internationalismus der europäischen National- und Emanzipationsbewegungen (Emanzipation): die Völker (V.er) gemeinsam gegen die Mächte des Alten, eine Vision, die sich mit dem Ausbruch der Revolution von 1848/49 schnell als zu optimistisch herausstellte. So schloss sich die große Mehrheit der Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt in der Frage des Umgangs mit der polnischen V.s-Gruppe in der preußischen Provinz Posen (dort in der Mehrheit befindlich) der Devise des „gesunden Volksegoismus“ (Sten. Ber. NV 1848, Bd. 2: 1145) (so der Abgeordnete Wilhelm Jordan am 24.7.1848) an.
Typisch für das V.s- und Nationsverständnis, wie es sich im frühen 19. Jh. herauskristallisierte, war, nicht nur in Deutschland, dessen Rückprojizierung in eine idealisierte Vergangenheit, teilweise bis in die germanische Vorzeit. Hier meinte man spezifische Tugenden und gesellschaftliche Leitbilder für die Gegenwart zu finden. Tatsächlich war ein „deutsches V.“ – auch begrifflich – erst sekundär aus den gentes des ostfränkischen bzw. römisch-deutschen Reiches des Mittelalters entstanden, die ihrerseits aus adeligen Herrschaftsverbänden hervorgegangen waren (Deutsche Geschichte). Die Entstehung von V. und Nation im modernen Sinn setzte den Zerfall der Feudalgesellschaft und der Ständeordnung voraus, die Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft, zunächst im Gehäuse Alteuropas, namentlich einer überregionalen Kommunikation und hochsprachlichen Vereinheitlichung.
So wie die staatliche Zersplitterung im Deutschen Bund von 1815, wenngleich weniger anachronistisch als im Alten Reich, bis in die 1860er Jahre institutionalisiert war, sprach man – neben und teilweise vor dem deutschen V. als einer einheitlichen Größe – im Plural von den V.ern der deutschen Einzelstaaten, eine Benennung, die im Hinblick auf die (kon-)föderative Tradition Deutschlands im Zweiten Kaiserreich erst langsam an Bedeutung einbüßte und sogar bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überdauerte, wo der Staatsqualität der neu geschaffenen Länder, wenn auch nicht unbedingt explizit, ein politisches V. entsprechen musste, so z. B. in der Präambel der RPVerf vom 18.5.1947.
Das deutsche V. blieb nicht nur in der RV von 1871, wo es in der Präambel nur indirekt auftauchte, marginal, sondern trat auch in der nicht verwirklichten Paulskirchenverfassung von 1849 wenig hervor: Die gesamtdeutsche Staatsbürgerschaft war dort definiert durch die Zugehörigkeit zu einem Einzelstaat, die Parlamentarier waren „Abgeordnete des deutschen Volkes“ (§ 93 Paulskirchenverfassung). Dabei markierte die Entscheidung der Frankfurter Nationalversammlung für die preußische Spitze ebenso wie später das Resultat der Bismarckschen Einigungskriege unübersehbar den Unterschied des staatsbürgerlichen, nationale Minderheiten einschließenden, und des ethnischen V.es, zu welchem Mio. Deutsche in der Donaumonarchie gehörten.
Insgesamt gilt jedoch das ganze 19. Jh. über, dass, wer in seinem Namen das V. hervorhob – von den V.s-Gesellschaften der deutschen Jakobiner in den 1790er Jahren bis zur antipreußisch-demokratischen V.s-Partei in Südwestdeutschland seit den 1860er Jahren –, eher auf dem linken Flügel des Spektrums, in Opposition zu den Herrschenden und zum Großbesitz stand. Es lag für die sich seit 1863 separat konstituierende Sozialdemokratie deshalb nahe, an den Wortgebrauch der vorsozialistischen Demokraten anknüpfend, das V., neben der Arbeiterklasse und gewissermaßen auf einer anderen Ebene der Wahrnehmung, weiterhin anzurufen, wie es auch außerhalb Deutschlands der Fall war. Das drückte sich etwa im Namen einer großen Zahl von Parteizeitungen („V.s-Zeitung“, „V.s-Wacht“, „V.s.-Freund“ u. a.) aus. 1921 benannte die noch nicht wiedervereinigte Mehrheits-SPD (SPD) das „arbeitende Volk in Stadt und Land“ in ihrem Görlitzer Programm als ihre Bezugsgruppe. Damit war offenkundig das soziale V. gemeint, nicht die „V.s-Partei“ späterer Jahrzehnte als catch-all-party.
Herausragenden Stellenwert erhielt – parteiübergreifend – der deutsche V.s-Begriff mit dem Ersten Weltkrieg. Sowohl die Verfechter einer liberal-demokratischen Weiterentwicklung des monarchischen Konstitutionalismus durch Parlamentarisierung – Hugo Preuß 1915: „Identität von Volk und Staat“ (Preuß 1915: 168) – als auch die Befürworter eines autoritären, plebiszitär gestützten Regimes neuen Typs beriefen sich auf das V. Die terminologische Entgegensetzung von „V.s-Staat“ und „V.s-Gemeinschaft“ trifft den Unterschied nur in der Tendenz, da in der Folgezeit auch Vertreter der Mittelparteien und sogar Sozialdemokraten gelegentlich in einem demokratischen Sinn bzw. mit einer sozialen Akzentuierung von der „V.s-Gemeinschaft“ und Gegner der Republik vom „V.s-Staat“ sprachen.
Die Weimarer Demokratie leitete ihre Legitimität laut Verfassung allein von der Souveränität des V.es (Volkssouveränität) ab, und auch diejenigen politischen Kräfte, die eine Parlamentarisierung der Regierungsweise vordem abgelehnt oder lange gezögert hatten, den Verfassungswandel aktiv zu betreiben, legten nun Wert darauf, sich in ihrem Namen auf das V. zu beziehen: Nationalliberale gründeten eine „Deutsche V.s-Partei“, Konservative eine „Deutschnationale V.s-Partei“, welch letztere auf der Ebene der Wahlen hauptsächlich die rechte Opposition gegen „das System“ verkörperte, bis diese Funktion ab 1929/30 v. a. von der NSDAP übernommen wurde.
Auch das V. der Republikaner war muttersprachlich-kulturell konnotiert, schloss aber wie selbstverständlich die jüdischen Deutschen und nationale Minderheiten als gleichberechtigte und gleichrangige Staatsbürger ein, während die Vertreter des intellektuellen Rechtsradikalismus die Juden aus dem deutschen V. entweder explizit oder implizit ausschlossen. Das V. war ihnen eine natürliche, unaufhebbare und somit, anders als Staat und Gesellschaft, überhistorische Gemeinschaft, ein Organismus höchster Ordnung. Diese Vorstellung war i. d. R. verbunden mit der Ablehnung der repräsentativen Demokratie als Staats- und Regierungsform; der V.s-Wille sei nicht durch Abstimmungen empirisch zu ermitteln, sondern ergebe sich aus der „Wesensart“ des V.es, eben dem Volkstum.
Dieses V.s-Verständnis der antidemokratischen Rechten hatte verschiedene W urzeln: Neben der Herausbildung einer radikalnationalistischen und sozialdarwinistisch-imperialistischen Strömung (Sozialdarwinismus), wie sie in den einschlägigen Agitationsvereinen, v. a. im Alldeutschen Verband, gegen Ende des 19. Jh. Gestalt annahm, und dem stark von der Entwicklung in Österreich angeregten modernen Antisemitismus seit den 1880er Jahren spielten die Begründung der wissenschaftlichen Volkskunde durch Wilhelm Heinrich Riehl mit ihrer Hochschätzung des mit dem Boden verbundenen Bauerntums sowie die antiliberale Kulturkritik von Autoren wie Paul de Lagarde und Julius Langbehn mit ihren spirituellen, teilweise religiösen Anklängen eine prägende Rolle, namentlich für die bürgerliche Jugendbewegung.
Auch wenn die NSDAP stets in Distanz zu den altvölkischen Zirkeln geblieben war, wurden Grundelemente der „völkisch-organischen Weltanschauung“ ab 1933 zur staatsoffiziellen Lehre; es ging laut Joseph Goebbels (Völkischer Beobachter vom 17.11.1933) um die „Volkwerdung der deutschen Nation“. Das nationalsozialistische Leitbild zielte auf die Geschlossenheit der entindividualisierten, hierarchisierten und führerstaatlich verfassten „V.s-Gemeinschaft“, aus der nicht nur Juden, sondern auch „Schlechtgesinnte“ und „Gemeinschaftsfremde“ (Asoziale) eliminiert werden sollten.
Das konzeptionelle Problem bestand in dem Verhältnis von V. und „Rasse“ (Rassismus), denn die wissenschaftlichen Vertreter des nordizistischen Gedankens wie Hans Friedrich Karl Günther meinten nachweisen zu können, dass sich das empirisch vorhandene deutsche V. neben dem nordischen und dem annähernd gleichrangigen fälischen Typus auch aus anderen Rassebestandteilen zusammensetzte; allenfalls könne von einer Dominanz des nordischen Blutsanteils ausgegangen werden. In der Konsequenz konnte das bedeuten, dass auch das ethnisch deutsche V. zum Gegenstand biopolitischer Umgestaltung (Biopolitik) geworden wäre, wofür mit den namentlich von Heinrich Himmler in Gang gesetzten bzw. befürworteten „Umvolkungs-“ und „Aufnordungs“maßnahmen die Methoden bereitstanden.
Mit dem Ende des „Dritten Reiches“ war die Konjunktur des V.s-Begriffs keineswegs beendet, weder in der Publizistik und im Alltagsleben (vom „V.s-Wagen“ bis zur „V.s-Partei“) noch auf den semantischen Feldern der Politik und des Staatsrechts, und das gilt für beide deutsche Staaten. In den Westzonen bzw. in der BRD wurde weitgehend an das tradierte Verständnis des V.es angeknüpft. Die deutsche Staatsbürgerschaft (Staatsangehörigkeit) wurde bis 1999 fast ausschließlich durch Abstammung von den Eltern erworben. Bei der Regelung des Vertriebenenstatus der Deutschstämmigen von außerhalb der Grenzen von 1937 griff man in Ermangelung anderer Kriterien 1961 sogar auf die „Deutsche V.s-Liste“ der NS-Zeit zurück. Das (Gesamt-)„Deutsche V.“ war die staatsrechtlich wesentliche Größe, auch wenn laut Präambel des GG (idF vom 23.5.1949) das westdeutsche Teil-V. seine Staatsgründung stellvertretend und provisorisch für diejenigen Deutschen mitvollzog, denen „mitzuwirken versagt war“. In den offiziellen Äußerungen der zentralen Verfassungseinrichtungen blieb die Orientierung auf das gesamtdeutsche V. als den „eigentlichen Souverän“ (Willy Brandt anlässlich des Treffens mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph am 21.5.1970 in Kassel) bis 1989/90 unangefochten, auch als mit dem Regierungswechsel von 1969 die DDR als zweiter Staat deutscher Nation anerkannt und der Alleinvertretungsanspruch der BRD für Deutschland nach außen aufgegeben wurde. Das Urteil des BVerfG von 1973 zum Grundlagenvertrag mit der DDR befestigte diese Position noch einmal staatsoffiziell.
Andererseits wurde die Berufung auf das (deutsche) V. als Bezugsgröße schon seit den 1960er Jahren seltener und weniger selbstverständlich, mehr noch als bei dem von der sozial-liberalen Regierung zwischenzeitlich aufgewerteten Begriff der Nation. Diese wurde indessen zunehmend, gewissermaßen entpolitisiert, nur noch als Kulturnation bzw. Bewusstseinsnation verstanden.
Ganz ähnlich wie die SPD 1921 adressierte die KPD bei ihrer Wiederzulassung in der SBZ und Berlin am 11.6.1945 den Aufruf an das „schaffende Volk in Stadt und Land“. Damit konnte die Partei an die ausgedehnte Benutzung des V.s-Terminus in den Parteien der Kommunistischen Internationale seit 1934/35 unter der Parole der „V.s-Front“, später, in den „V.s-Demokratien“ des sowjetischen Einflussbereichs nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeweitet zur „Nationalen Front“, anknüpfen. Die V.s-Front-Parole zielte auf die Erweiterung eines kommunistisch-sozialdemokratischen Bündnisses („proletarische Einheitsfront“) in die agrarischen, kleinbürgerlichen und akademischen Zwischenschichten einschließlich deren parteipolitischer Vertretungen, so etwa der Radikalen Partei in Frankreich. Auch im deutschen Exil (V.s-Frontausschuss in Paris) und im innerdeutschen Widerstand (Gruppe Deutsche V.s-Front) wurde die Bezeichnung aufgegriffen, um eine linksorientierte, aber über die frühere sozialistische Arbeiterbewegung hinausreichende Bündniskonstellation zu markieren.
Die diversen Anrufungen des sozialen V.es im linken politischen Spektrum während der ersten zwei Drittel des 20. Jh. enthielten, bewusst oder unbewusst, zumeist durchaus auch Anklänge an das staatsbürgerliche und das lange davon nicht klar geschiedene ethnische V. Das gilt für die Sozialdemokratie und noch prononcierter für die KPD/SED, wo das deutsche V. am Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst als Haftungsgemeinschaft, dann, beim offenen Ausbruch des Ost-West-Konflikts, als nationale Widerstandsgemeinschaft (gegen die „imperialistischen Besatzungsmächte“ im Westen und die Bonner Parteien), jedenfalls als Schicksalsgemeinschaft in Stellung gebracht wurde. Die DDR-V.s-Kammer ging aus einem „Deutschen V.s-Rat“ hervor, dem Organ einer gesamtdeutsch angelegten „V.s-Kongress“-Bewegung; und geographisch war die ostdeutsche Staatsgründung nicht auf die Sowjetzone und den Sowjetsektor Berlins begrenzt; die DDR-Verfassung hatte sich 1949 laut Präambel „das deutsche Volk“ schlechthin gegeben.
Auch die spätere östliche Zwei-Staaten-Lehre brach noch nicht mit der Vorstellung von einer einzigen deutschen Nation mit dem einen deutschen V., das dereinst unter der Roten Fahne seine staatliche Einheit wiedererlangen werde (in diesem Sinne die Präambel der zweiten DDR-Verfassung vom 9.4.1968). Erst in Abwehr der Neuen Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung seit Herbst 1969 wurde das „V. der DDR“ als ein national eigenständiges definiert. Auf dem Boden der DDR sei eine neue, sozialistische deutsche Nation entstanden, während in Gestalt der BRD die alte bürgerliche Rest-Nation weiterexistiere.
Das einst unbestimmte soziale V. wurde vom „Philosophischen Wörterbuch“ gemäß der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus „politisch-soziologisch“ (Klaus/Buhr 1976: 1269) definiert als die Gesamtheit aller Klassen und Schichten, die objektiv am gesellschaftlichen Fortschritt interessiert seien, also die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, im Kapitalismus ausgenommen nur die „kleine Gruppe der Monopolbourgeoisie“ (ebd.) („Kategorie der Volksfeinde“ [ebd.]). Mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse werde das V. dann identisch mit der Gesamteinwohnerschaft des Staates.
Als am Ende der 1980er Jahre offenkundig wurde, dass das erziehungsdiktatorische Projekt eines „Sozialismus in den Farben der DDR“ (Spittmann 1989) im Kontext der Existenzkrise des gesamten Ostblocksystems gescheitert war, gewann die Anrufung des V.es eine unerwartete Aktualität: In einer friedlichen demokratischen Revolution gegen die Alleinherrschaft der SED-Führung forderte das Teil-V. der DDR seine politische Souveränität ein. Verbunden mit dieser staatsbürgerlichen Bedeutungsebene trat in der Erhebung gegen die Machtelite auch das soziale V. (die V.s-Massen) unverkennbar hervor. Die Parole „Wir sind das Volk!“ formulierte den Unten-Oben-Antagonismus in – vermutlich unbewusster – Aufnahme einer bereits in den Emanzipationsbewegungen des Vormärz (nicht nur in deutscher Sprache) aufgetauchten Slogans. Die quantitative und soziale Ausweitung der Demonstrationen und der zunehmende Zerfall der DDR als Staat nach der Öffnung der Mauer am 9./10.11.1989 machten die Menschen dann empfänglich auch für die Politisierung der ethnisch-kulturellen Dimension des V.s-Terminus: „Wir sind ein Volk!“ Das Ergebnis der V.s-Kammerwahl vom 18.3.1990 mit dem Sieg der Allianz für Deutschland leitete faktisch den Beitritt der DDR zur BRD ein (Deutsche Einheit). Deren Teil-V. war an dem folgenden Prozess nur indirekt beteiligt.
In den Jahrzehnten seitdem ist das Konzept „V.“ zunehmend infrage gestellt worden: durch den Globalisierungsprozess (Globalisierung) einschließlich der Massenzuwanderung in die Staaten Europas und Nordamerikas, durch die – nicht nur dadurch bewirkten – kulturellen Diversifizierungstendenzen (Diversität) und die anhaltende Individualisierung namentlich der westlichen Gesellschaften, auch durch die Entstehung von Elementen einer europäischen Staatlichkeit und eines europäischen Demos (Europäischer Integrationsprozess). Alle diese Vorgänge befördern die – sei es reflektierte, sei es affektive – Zurückweisung, jedenfalls Relativierung von tradierten Gemeinschaftsvorstellungen. Es ist jedoch unübersehbar, dass damit zugleich ein Demokratieproblem aufgeworfen wird. Denn offenbar benötigt auch der moderne demokratische Staat, der auf Inklusion (Inklusion, Exklusion) angelegt ist, ein Mindestmaß an „sozialer“ (i. S. v. Hermann Heller) und kultureller Homogenität.
Insofern drückt der Appell rechtspopulistischer Gruppierungen an „das V.“ nicht nur einen anachronistischen Ethnizismus aus, sondern thematisiert, unabhängig von der konkreten Programmatik, zugleich auch das politische und das soziale V. in seiner vermeintlichen Ohnmacht gegenüber den Eliten und, allgemein gesprochen, ein Bedürfnis nach Gemeinschaft gerade angesichts der atomisierenden Tendenzen der modernen Gesellschaft. Und selbst die kosmopolitischen Protestbewegungen des frühen 21. Jh. scheinen nicht ohne eine Art V.s-Begriff auszukommen, so die sich von den USA nach Europa bzw. Deutschland ausbreitende Occupy-Bewegung. Diese berief sich mit ihrer Parole „We the People“ auf die klassische Formulierung in der Verfassung der USA.
Literatur
P. Brandt: Volk, in: A. Hand u. a. (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts, 2015, 395–433 (Lit.) • R. Grawert: Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: HStR, Bd. 2, 32004, 107–142 • H.-W. Bartz: Volk, in: ders./J. Grimm/W. Grimm (Hg.): Deutsches Wörterbuch, Bd. 26, 2001, 453–472 • P. Brandt: Volk, in: HWPh, Bd. 11, 2001, 1080–1090 (Lit.) • S. Breuer: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, 2001 • A. von Bormann (Hg.): Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, 1998 • U. Herrmann (Hg.): Volk – Nation – Vaterland, 1996 • H. Berding (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2, 1994 • H. Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1994 • R. Koselleck u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: GGB, Bd. 7, 1992, 141–431 • B. Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, 1991 • I. Spittmann: Sozialismus in den Farben der DDR, in: Deutschland Archiv 22/3 (1989), 241–244 • G. Fritz: L’idée de peuple en France du XVIIe du XIXe siècle, 1988 • B. Rindermann u. a. (Hg.): Politisch-sozialer Wortschatz im 19. Jahrhundert, 1986 • T. Nairn u. a. (Hg.): Sozialismus und Nationalismus, 1978 • M. Rehnberg: Folk. Kaleidoskopiska anteckningar kring ett ord, dess innebörd och användning under skilda tider, 1977 • G. Klaus/M. Buhr: Volk, in: dies. (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 121976, 1269–1270 • E. K. Francis: Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, 1965 • H. Preuß: Das deutsche Volk und die Politik, 1915 • C. von Rotteck: Ein Wort über Landstände, in: ders.: Gesammelte und nachgelassene Schriften, Bd. 2, 1841, 405–427 • E. M. Arndt: Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen, 1815.
Empfohlene Zitierweise
P. Brandt: Volk, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Volk (abgerufen: 22.11.2024)