Anomie: Unterschied zwischen den Versionen

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Das A.-Konzept wurde Ende des 19.&nbsp;Jh. von Émile Durkheim in die Soziologie eingeführt, um einen Zustand sozialer Unternormierung oder Normauflösung im Zuge beschleunigten [[Sozialer Wandel|sozialen Wandels]] zu erfassen. Robert King Merton griff es in den 30er Jahren des vergangenen Jh. auf, verschob seine Bedeutung aber zur Diskrepanz zwischen den allgemein anerkannten Schlüsselwerten der nordamerikanischen Gesellschaft, Erfolg zu haben und zu Wohlstand zu gelangen und den begrenzten Mitteln und Möglichkeiten der Unterschichten, diese Ziele zu erreichen. Mertons These löste eine Fülle empirischer Untersuchungen aus, in deren Verlauf das A.-Konzept erweitert und verwässert wurde. Seiner inflationären Verwendung folgte eine Phase der Ernüchterung. Gegenwärtig wird von ihm nur zurückhaltend Gebrauch gemacht.
 
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E. Durkheim und R.&nbsp;K. Merton studierten anomische Entwicklungen bei im Modernisierungsprozess fortgeschrittenen Gesellschaften ([[Gesellschaft]]). Heute sind anomische Verhältnisse v.&nbsp;a. in den Staaten Afrikas ([[Nordafrika]], [[Subsahara-Afrika]]) und Lateinamerikas ([[Lateinamerika und Karibik]]) zu beobachten. Teils gehen sie, wie im [[Europa]] des 19.&nbsp;Jh., auf Prozesse beschleunigten [[Sozialer Wandel|sozialen Wandels]] zurück. Häufig ist der Hauptproduzent von A. aber der [[Staat]] selbst, der, weit davon entfernt, einen institutionellen Rahmen allg.er [[Ordnung]] und Sicherheit ([[Innere Sicherheit|innere Sicherheit]]) bereit zu stellen, die allg.e Unordnung und Unsicherheit noch steigert. Aus ehemaligen Kolonien hervorgegangen, haben die Länder dieser Großregionen durchwegs das europäische Staatsmodell übernommen, waren aber großenteils außerstande, ihren obrigkeitlichen Anspruch durchzusetzen und sich als verbindliche Ordnungsmacht gegenüber der Bevölkerung zu etablieren (staatsfreier Raum). Sie sind schwache Quasi-Staaten geblieben.
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E. Durkheim und R.&nbsp;K. Merton studierten anomische Entwicklungen bei im Modernisierungsprozess fortgeschrittenen Gesellschaften ([[Gesellschaft]]). Heute sind anomische Verhältnisse v.&nbsp;a. in den Staaten Afrikas ([[Nordafrika]], [[Subsahara-Afrika]]) und Lateinamerikas ([[Lateinamerika und Karibik]]) zu beobachten. Teils gehen sie, wie im [[Europa]] des 19.&nbsp;Jh., auf Prozesse beschleunigten [[Sozialer Wandel|sozialen Wandels]] zurück. Häufig ist der Hauptproduzent von A. aber der [[Staat]] selbst, der, weit davon entfernt, einen institutionellen Rahmen allgemeiner [[Ordnung]] und Sicherheit ([[Innere Sicherheit|innere Sicherheit]]) bereit zu stellen, die allgemeine Unordnung und Unsicherheit noch steigert. Aus ehemaligen Kolonien hervorgegangen, haben die Länder dieser Großregionen durchwegs das europäische Staatsmodell übernommen, waren aber großenteils außerstande, ihren obrigkeitlichen Anspruch durchzusetzen und sich als verbindliche Ordnungsmacht gegenüber der Bevölkerung zu etablieren (staatsfreier Raum). Sie sind schwache Quasi-Staaten geblieben.
 
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:06 Uhr

1. Begriff

Das A.-Konzept wurde Ende des 19. Jh. von Émile Durkheim in die Soziologie eingeführt, um einen Zustand sozialer Unternormierung oder Normauflösung im Zuge beschleunigten sozialen Wandels zu erfassen. Robert King Merton griff es in den 30er Jahren des vergangenen Jh. auf, verschob seine Bedeutung aber zur Diskrepanz zwischen den allgemein anerkannten Schlüsselwerten der nordamerikanischen Gesellschaft, Erfolg zu haben und zu Wohlstand zu gelangen und den begrenzten Mitteln und Möglichkeiten der Unterschichten, diese Ziele zu erreichen. Mertons These löste eine Fülle empirischer Untersuchungen aus, in deren Verlauf das A.-Konzept erweitert und verwässert wurde. Seiner inflationären Verwendung folgte eine Phase der Ernüchterung. Gegenwärtig wird von ihm nur zurückhaltend Gebrauch gemacht.

Wer dies dennoch tut, ist gut beraten, auf Durkheim zurückzugreifen. Zwar hat der französische Klassiker den A.-Begriff nie definiert. Doch aus dem Kontext, in dem er ihn einsetzte, und gelegentlich verwendeten Synonymen schält sich doch ein klarer Begriffskern heraus. Danach ist unter A. ein état de dérèglement, d. h. ein durch den Mangel an Regeln (im heutigen Sprachgebrauch wäre eher von Normen (Norm) zu sprechen) erzeugter Zustand gesellschaftlicher Unordnung zu verstehen. Soziale A. bezieht sich somit nicht auf die Befindlichkeit von Einzelpersonen, sondern stellt auf einen sozialen Sachverhalt ab, und hier wiederum nicht auf die kulturell-weltanschauliche Sphäre oder auf den Bereich materieller Interessen, sondern auf das Normengefüge einer Gesellschaft, das beschädigt oder in Auflösung begriffen ist.

Die damit angesprochene Abweichung vom Idealtypus einer intakten normativen Ordnung wird verständlicher, wenn man sich die Voraussetzungen eines funktionierenden Normsystems vor Augen führt. Dieses besteht, unabhängig davon, ob es sich um ein förmliches Gesetz oder informelle Normen handelt, regelmäßig aus vier Komponenten.

a) Eine sprachliche: Normen müssen, da sie wiederkehrende Situationen zum Gegenstand haben, typisierende, für jedermann verständliche Begriffe (wie Besitz, Beleidigung, Ehe) als sprachliche Bausteine benützen.

b) Eine moralische: sie müssen den ethischen Überzeugungen eines Großteils der Bevölkerung entsprechen.

c) Eine Sanktionskomponente (Sanktion): auf ihre Verletzung hin muss eine gesellschaftliche Gegenreaktion erfolgen.

d) Schließlich müssen Normen und Normensysteme auch stimmig sein, dürfen also nicht ein und dasselbe Rechtsgut schützen und zugleich der allgemeinen Willkür ausliefern.

Anomische Verhältnisse, so wäre zu folgern, greifen dann Platz, wenn die Klarheit, Konsistenz, soziale Akzeptanz und Sanktionsbewehrtheit einer normativen Ordnung Schaden leidet.

Situationen, in denen alle Funktionsvoraussetzungen gleichzeitig entfallen, also absolutes Chaos herrscht und nur noch das Recht des Stärkeren gilt, sind kurzfristige Ausnahmen. Naturkatastrophen, etwa Erdbeben oder Überschwemmungen, können diesen Effekt haben, desgleichen eskalierende Gewaltkonflikte ohne klare Konfliktfronten (soziale Konflikte, ethische Konflikte, internationale Konflikte, Religionskonflikte). Weit häufiger sind Fälle partieller A. Bezeichnend für sie ist nicht ein normatives Vakuum, sondern eher ein Zuviel an konkurrierenden Normen, die jeweils spezifische Defizite aufweisen. Ein Defizit kann darin bestehen, dass ihre jeweilige Durchsetzbarkeit nicht gesichert ist, oder dass ein mächtiger Erzwingungsstab zwar für ihre Durchsetzung sorgt, sie aber von einem Großteil der Normadressaten innerlich abgelehnt werden, oder dass die Vertreter unterschiedlicher Normensysteme um ihre Anerkennung bei derselben Bezugsgruppe streiten. Aus diesen Konkurrenzen und Konflikten resultieren gravierende Probleme für die Normunterworfenen, die je nach Situation und Sanktionswahrscheinlichkeit zwischen den unterschiedlichen normativen Anforderungen hin und her lavieren müssen. Einer definitiven Auflösung sind normative Systeme dann nahe, wenn zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen kein Konsens mehr über rechtliche Grundbegriffe erzielt werden kann („babylonische Sprachverwirrung“; Waldmann 2003: 23).

2. Anwendungsbereiche

E. Durkheim und R. K. Merton studierten anomische Entwicklungen bei im Modernisierungsprozess fortgeschrittenen Gesellschaften (Gesellschaft). Heute sind anomische Verhältnisse v. a. in den Staaten Afrikas (Nordafrika, Subsahara-Afrika) und Lateinamerikas (Lateinamerika und Karibik) zu beobachten. Teils gehen sie, wie im Europa des 19. Jh., auf Prozesse beschleunigten sozialen Wandels zurück. Häufig ist der Hauptproduzent von A. aber der Staat selbst, der, weit davon entfernt, einen institutionellen Rahmen allgemeiner Ordnung und Sicherheit (innere Sicherheit) bereit zu stellen, die allgemeine Unordnung und Unsicherheit noch steigert. Aus ehemaligen Kolonien hervorgegangen, haben die Länder dieser Großregionen durchwegs das europäische Staatsmodell übernommen, waren aber großenteils außerstande, ihren obrigkeitlichen Anspruch durchzusetzen und sich als verbindliche Ordnungsmacht gegenüber der Bevölkerung zu etablieren (staatsfreier Raum). Sie sind schwache Quasi-Staaten geblieben.

Diese Schwäche hat eine „äußere“ und eine „innere“ Seite (Waldmann 2002: 14 f.). Nach außen hin manifestiert sie sich darin, dass die Staatsorgane Regulierungsforderungen erheben, fiktiv Räume und Verhaltensbereiche besetzen, die sie faktisch außerstande sind zu kontrollieren. Die staatliche Durchsetzungsschwäche lädt konkurrierende gesellschaftliche Machtverbände dazu ein, diese Räume ihrerseits zu okkupieren. Das geschieht nicht nur in weit vom Regierungssitz entfernten Gebieten, sondern auch inmitten der Metropolen. Bspw. haben in zahlreichen Unterschichtvierteln von Rio de Janeiro Rauschgiftbosse das Sagen. Für den einzelnen Bürger ergibt sich daraus eine Lage, die nicht weniger verunsichernd, eher noch schlimmer ist, als wenn ein Normenmangel herrscht. Muss er sich doch ständig entscheiden, nach welchen Regeln er sich richtet und wo er das geringere Sanktionsrisiko eingeht: Wenn er den staatlichen Geboten oder wenn er den Anforderungen der gesellschaftlichen Machtgruppierungen zuwiderhandelt.

Zum anderen wird das Staatspersonal selbst, werden Verwaltungsbeamte, Richter und Polizisten in diesen Ländern zur Ursache von Ängsten, Irritationen und Unsicherheitsgefühlen der Bürger, da sie sich nicht an die Gesetze halten. Hier zeigt sich die innere Schwäche dieser Staaten. Die Staatsbeamten bilden keine Inseln der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit, sondern sind oft Brennpunkte der Normabweichung. Nicht selten stehen dahinter Parallelnormen des Nepotismus und Klientelismus, die den beamtenrechtlichen Pflichtenkanon konterkarieren. Die den Beamten in Hinblick auf ihre überparteiliche Funktion eingeräumten Privilegien können, für privatistische Zwecke eingesetzt, zu gefährlichen Waffen gegen den Bürger werden, der sich den Amtsmissbrauch nicht gefallen lässt („Beamtenbeleidigung“).