Sozialer Konflikt
1. Begriffsbestimmung
Der Begriff s. K. wird in den Sozialwissenschaften, bes. in der Soziologie benutzt zur Kennzeichnung situationsübergreifender Auseinandersetzung je spezifischer Intensität innerhalb oder zwischen sozialen Einheiten um gesellschaftlich als relevant erachtete Gegenstände, die auf der Grundlage unterschiedlicher Leidenschaften, Weltbilder oder Interessen bei einer Mindestressourcenausstattung aller beteiligten K.-Parteien ausgetragen werden. Der s. K. wird v. a. in der Soziologie seit dem Beginn des 20. Jh., zunächst von Georg Simmel, später von Lewis Alfred Coser und Ralf Dahrendorf als wissenschaftlicher Schlüsselbegriff etabliert. Durch diese soziologische Fokussierung unterscheidet sich s. K. von Begriffen wie politischer K. oder internationaler Konflikt (Politikwissenschaften) und psychischer oder Individual-K. (Psychologie).
Von der Verwendung in der alltäglichen Lebenswelt unterscheidet sich der Begriff s. K. erstens durch die Betonung einer über nur eine Handlungssituation hinausgehende Auseinandersetzung (im Gegensatz zu situativen K.en z. B. um einen freien Sitzplatz in der Straßenbahn). Zweitens werden s. K.e zwischen sozialen Einheiten (Personen, Gruppen, Klassen, Gesellschaften) ausgetragen. Drittens ist der s. K. auf sozial relevante Gegenstände fokussiert (also z. B. nicht auf die Richtigkeit einer mathematischen Formel oder ästhetische Interpretation eines Romans). Schließlich verfügen viertens alle beteiligten K.-Parteien über ein Mindestmaß an Ressourcen, um in eine Auseinandersetzung einzutreten (Gewaltausübung gegenüber wehrlosen Personen ist kein s. K. sondern einseitige Machtausübung).
2. Dimensionen
S. K.e lassen sich nach den jeweils betrachteten Dimensionen unterscheiden: beteiligte soziale Einheiten, Gegenstände, Intensität und Austragungsformen.
2.1 Beteiligte soziale Einheiten
Unmittelbar beteiligte soziale Einheiten können einzelne Personen, soziale Gruppen, soziale Klassen oder ganze Gesellschaften sein, wobei sich der s. K. innerhalb oder zwischen diesen sozialen Einheiten entwickeln kann. Intra- und inter-Rollen-K.e treten sowohl innerhalb von einzelnen Personen als auch zwischen diesen und größeren sozialen Gruppen auf. S. K.e als Intra-Rollen-K.e treten auf, wenn innerhalb einer Rolle (als Bündel von an eine soziale Position herangetragenen Verhaltenserwartungen; Soziale Rolle) widerstreitende Erwartungen von unterschiedlichen Personen oder sozialen Gruppen erfahren werden. Inter-Rollen-K.e als s. K.e beziehen sich auf die widerstreitenden Erwartungen an unterschiedliche Rollen, die eine Person auszuüben hat (z. B. Vorgesetzter, Vater und Liebhaber zu sein). Inter- und Intra-Rollen-K.e existieren auf der (intra-)personalen Ebene, sie manifestieren sich häufig auf der Gruppenebene, und sie können sogar auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ausgetragen werden (z. B. in Bezug auf Geschlechterrollenverteilungen).
Ein typischer s. K. auf der Ebene sozialer Klassen ist der sogenannte industrielle K. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Marktlagen tragen die Beschäftigten und die Unternehmen divergierende Interessen überall auf der Welt in wiederkehrenden Auseinandersetzungen als s. K.e aus. Große soziale Gruppen können aber auch s. K.e austragen, wenn es z. B. um die Nutzung der Kernenergie oder um die Bedingungen der Massentierhaltung geht. S. K.e können schließlich auch zwischen ganzen (National-)Gesellschaften oder umfangreichen sozio-kulturellen Gruppen auftreten (z. B. Auseinandersetzungen um größere Autonomie Kataloniens oder Kurdistans, „Handelskriege“).
2.2 Gegenstände
Als s. K.e werden nur solche K.e bezeichnet, die um gesellschaftlich als relevant erachtete Gegenstände – v. a. knappe Güter, Werte und Normen, Aufmerksamkeit und Deutungsmuster – geführt werden. Beim klassischen industriellen s.n K. steht die Auseinandersetzung um materielle Güter (wie Lohnhöhe, Arbeitszeiten) im Vordergrund. Der s. K. um den Bau einer Autobahn oder Stromtrasse wird ebenfalls um von den beteiligten Gruppen als relevant erachtete knappe Güter geführt (Lärmbelastung, Abgase, Strahlenrisiken, schneller Transport). Viele s. K.e werden vorwiegend um Werte und Normen geführt (z. B. Auseinandersetzung um Gebrauch religiöser Symbole in öffentlichen Gebäuden, um Anerkennung und Repräsentanz der Diversität in Organisationen oder um die Behandlung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften). In der modernen Mediengesellschaft werden s. K.e auch um Aufmerksamkeit und als legitim erachtete Deutungsmuster geführt (etwa um die Frage, ob bestimmte benachteiligte Gruppen im Vergleich zu anderen angemessene Beachtung finden, z. B. Arbeitslose v Flüchtlinge).
2.3 Intensität
S. K.e können die vielfältigsten Intensitätsgrade annehmen und durchlaufen (von intensiven Debatten, öffentlichen Verlautbarungen und organisierten Protestaktionen über kollektive Kampfmaßnahmen wie Streiks und gewaltsame Proteste z. B. bei Globalisierungsgipfeln bis zur organisierten Gewalt etwa bei staatlich organisierten „Befriedungen“ oder Vertreibungen in bestimmten Regionen oder ethnisch motivierten Gewaltexzessen). S. K.e können schließlich in andauernden offen kriegerischen Auseinandersetzungen kulminieren, in denen völkerrechtlich legitimierte oder „neue […] Kriege“ (Kaldor 2000) jenseits allen internationalen Rechts vorherrschen (Krieg).
2.4 Austragungsformen
Es lassen sich antagonistische von graduellen K.en unterscheiden, bei denen als Ergebnis entspr. ein Nullsummenspiel (eine K.-Partei kann nur gewinnen, was die andere verliert), eine Win-Win-Situation oder eine Alle-verlieren-Lösung steht. Je nach Austragung auf dem eigentlichen oder einem Ersatz-Themenfeld werden „echte“ und „umgeleitete“ s. K.e unterschieden. S. K.e werden auch nach informellen und formellen, latenten oder manifesten Austragungsformen differenziert. Schließlich können s. K.e die Gestalt einer eher revolutionären oder eher reformerischen Veränderung annehmen (Revolution, Reform).
3. Theorien des sozialen Konflikts
Theorien des s.n K.s variieren je nach sozialwissenschaftlicher Disziplin, paradigmatischem Standpunkt und Menschenbild. Es lassen sich vereinfacht vier Gruppen unterscheiden. Für „harte“ K.-Theoretiker ist „[d]er Mensch […] dem Menschen ein Wolf“ (Hobbes 2017: 7) oder „die Geschichte […] eine Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4: 462). Danach stehen sich immer jeweils antagonistisch Individuen oder soziale Klassen mit widerstreitenden ökonomischen und politischen Interessen gegenüber. Alle anderen s.n K.e werden der Auseinandersetzung um Besitz, Status und Macht untergeordnet. S. K.e sind in dieser Sichtweise auch das Primäre und Vorherrschende, wodurch sozialer Wandel praktisch auf Dauer gestellt ist. Ein dauerhaftes Gleichgewicht in sozialen Systemen ist demnach nicht zu erwarten.
Begründer einer „weichen“ K.-Theorie ist der US-amerikanische Soziologe L. A. Coser. Ausgehend von G. Simmels Grundidee, dass der Streit eine wichtige Form der Gemeinschaftsstiftung sei, argumentiert er, dass Konkurrenz und Auseinandersetzung konstitutiv für alle Sozialbeziehungen seien und dass – v. a. institutionalisierte – s. K.e eine stimulierende, stabilisierende und positive Funktion für das soziale Zusammenleben hätten. Mit seiner K.-Theorie orientiert sich L. A. Coser zwar einerseits an der funktionalistischen Systemtheorie Talcott Parsons, kritisiert diese aber gleichzeitig wegen ihrer zu einseitigen Orientierung auf Stabilität: „Weit davon entfernt, notwendig dysfunktional zu sein, ist ein gewisses Maß an Konflikt ein wesentliches Element für die Gruppenbildung und den Bestand des Gruppenlebens“ (Coser 1972: 33).
Als Vertreter einer machtbasierten liberalen K.-Theorie gilt R. Dahrendorf. Zwischen Marxismus und Funktionalismus vertritt er, dass jede Form von Herrschaft s. K.e generiere, dass Gesellschaft immer ein äußerst labiles Gleichgewicht und deshalb der K. permanenter Begleiter aller Vergesellschaftung sei. Dabei geht er von der ungleichen Verteilung von Macht auf der gesamtgesellschaftlichen und individuellen Ebene aus: Menschen können z. B. in bestimmten sozialen Positionen (z. B. als Hauptabteilungsleiter in einem Unternehmen) mächtig, aber in anderen sozialen Positionen (z. B. als Anwohner einer viel befahrenen Straße) vergleichsweise ohnmächtig sein. S. K.e entstehen ihm zufolge deshalb nicht nur zwischen Besitz- oder Einkommensklassen, sondern überall dort, wo es um Aspekte der menschlichen Lebenschancen geht.
In einer vierten Theorietradition wird der s. K. (sozialpsychologisch) im Kontext sozialer Deprivation oder als moralischer Kampf um Anerkennung analysiert. Soziale Deprivation beschreibt die (neben ökonomischer Deprivation bestehende, oft mit ihr verbundene) subjektive Wahrnehmung von „Beraubung“ bzw. Benachteiligung von Personen und sozialen Gruppen gegenüber relevanten Bezugsgruppen. Axel Honneth deutet s.n K. als Reaktion auf fehlende Wertschätzung von Personen, ihrer sozialen und körperlichen Integrität. S. K.e entstehen demzufolge weniger aus widerstreitenden Interessen um (begrenzte) materielle Güter oder Einfluss, sondern um die Achtung und Anerkennung sozialer Gruppen. Demnach sind auch soziale Bewegungen und die damit einhergehenden s.n K.e Ausdruck verweigerter Anerkennung.
Literatur
T. Hobbes: De cive/Vom Bürger, 2017 • T. Bohnacker (Hg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, 2008 • M. Kaldor: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, 2000 • G. Simmel: Der Streit, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1999, 186–255 • A. Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 1994 • T. Skocpol: States and Social Revolutions. A Comparative Analysis of France, Russia and China, 1979 • W. L. Bühl: Theorien sozialer Konflikte, 1976 • L. A. Coser: Theorie sozialer Konflikte, 1972 • R. Dahrendorf: Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts, in: ders. (Hg): Gesellschaft und Freiheit, 1961, 197–235 • Ders.: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, 1957.
Empfohlene Zitierweise
L. Pries: Sozialer Konflikt, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sozialer_Konflikt (abgerufen: 21.11.2024)