Gewaltverbot: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:08 Uhr
1. Bedeutung und Entwicklung
Das völkerrechtliche G., gekoppelt mit dem Gebot der friedlichen Streitbeilegung, ist neben der Verpflichtung der Staaten, die Menschenrechte zu achten und zu schützen, das entscheidende Instrument, um den internationalen Frieden zu wahren. Die Rechtsgrundlage ist Art. 2 Nr. 4 UN-Charta 1945. Frühere Ansätze des Völkerbunds (1919) und der Stimson-Doktrin (1932) konnten das mit der Staatensouveränität verbundene ius ad bellum nicht beseitigen. Der Kriegsächtungspakt 1928 band die Vertragsparteien nur „in ihren gegenseitigen Beziehungen“ (Art. 1). Es bedurfte der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, um ein allgemeines G. auf der internationalen Ebene zu etablieren und damit den Souveränitätsbegriff entscheidend zu modifizieren. Von dem auf andere Staaten bezogenen G. zu unterscheiden sind ihrer Natur nach polizeimäßige, militärische Gewalt aber ggf. einschließende Maßnahmen, die zum Schutz des eigenen Luftraums, der Territorialgewässer oder gegen die Piraterie auf Hoher See ergriffen werden. Zum Schutz des inneren Friedens steht dem Staat auf dem eigenen Territorium das Gewaltmonopol zu.
2. Inhalt und Rechtsstatus
Art. 2 Nr. 4 UN-Charta verbietet den Gebrauch und die Androhung militärischer Gewalt gegen andere Staaten, nicht aber politischen und wirtschaftlichen Zwang. Verboten sind Krieg, aber auch alle diese Intensität nicht erreichenden militärischen Maßnahmen. Auch Cyberoperationen können Anwendung militärischer Gewalt, u. U. sogar bewaffnete Angriffe sein, da es insoweit auf die mit konventionellen Waffen vergleichbare Zerstörungswirkung ankommt.
Das G. schützt die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit von Staaten. Die die Kriegsgegner der Alliierten des Zweiten Weltkriegs betreffende Ausnahme (Feindstaatenklausel, Art. 107 UN-Charta) ist mit Aufnahme dieser Staaten in die UNO obsolet geworden. Nicht durchsetzen konnte sich die Breschnew-Doktrin, mit der die UdSSR militärische Interventionen bei Abkehr ihrer Satellitenstaaten von den „sozialistischen Errungenschaften“ rechtfertigen wollte. Mehr Probleme bereitet die militärische Intervention auf Einladung der rechtmäßigen Regierung. Zwar wird dabei die Souveränität dieses Staates grundsätzlich nicht verletzt. Doch kann sie zu einer Gefährdung des internationalen Friedens führen, bes. wenn weitere Staaten Aufständische als Insurgenten anerkennen und militärische Hilfe leisten. Der Vorschlag, in solchen Fällen jede militärische Intervention von dritter Seite als völkerrechtswidrig zu behandeln, hat indes noch keine allgemeine Anerkennung gefunden.
Das G. erfasst ferner jede aus anderen Gründen mit den Zielen der UN (Art. 1) unvereinbare Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt. Daraus folgt etwa die Bedeutung des G.s für stabilisierte De-facto-Regimes, die dadurch ebenso geschützt wie verpflichtet werden. Dazu gehören aber nicht internationale Terrororganisationen (z. B. „Islamischer Staat“), auch wenn sie über eine territoriale Basis verfügen.
Das G. gilt universell. Als Norm der UN-Charta bindet es alle UN-Mitglieder, darüber hinaus als zwingendes Völkergewohnheitsrecht (ius cogens) alle Staaten, die sich dieser Verpflichtung daher weder durch interne Absprachen noch durch Austritt aus der UNO entziehen können.
3. Ausnahmen
3.1 Selbstverteidigungsrecht
Unbeeinträchtigt vom G. bleibt das „naturgegebene“ individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht von Staaten bei einem bewaffneten Angriff. Art. 51 UN-Charta, der Gewohnheitsrecht spiegelt, gewährt dieses Recht aber nur, bis der UN-Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Der IGH hat das Selbstverteidigungsrecht dahin interpretiert, dass ein bewaffneter Angriff nur durch einen anderen Staat, also z. B. nicht durch eine internationale Terrororganisation, erfolgen könne und eine unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs liegende Gewaltanwendung nicht zur Selbstverteidigung berechtige. Beide Einschränkungen sind strittig; der Sicherheitsrat hat das Selbstverteidigungsrecht der USA bei den Angriffen durch Al Qaida am 11.9.2001 anerkannt. Strittig ist auch der Fall der präventiven Verteidigung. Steht ein bewaffneter Angriff konkret und unmittelbar bevor, wird man sie für zulässig halten müssen. Zeichnet sich nur die abstrakte Gefahr eines Angriffs ab, ist ein preemptive strike nur schwer zu rechtfertigen. Ob dies auch gilt, wenn etwa eine in einem Staat ansässige Terrororganisation über ABC-Waffen verfügt und mit Einsatz droht, ist jedenfalls dann zweifelhaft, wenn der UN-Sicherheitsrat untätig bleibt. Auch die gezielte Tötung (Targeted Killing) einzelner Personen, z. B. durch Drohnen, kann verhältnismäßige Selbstverteidigung sein.
3.2 UN-Sicherheitsrat
Nach Art. 39 und 42 UN-Charta kann der Sicherheitsrat zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit militärische Maßnahmen verbindlich anordnen oder empfehlen. Auf dieser Grundlage ist staatliche Gewaltanwendung gerechtfertigt. Dies gilt zwar nicht bei Empfehlungen der Generalversammlung, doch kann dadurch die Argumentationslast auf die Staaten verschoben werden, die die Rechtmäßigkeit der Gewaltanwendung bestreiten.
3.3 Rettung eigener Staatsangehöriger und humanitäre Intervention
Obwohl die gewaltsame Rettung eigener Staatsangehöriger durch die Heimatstaaten häufig geübte Praxis ist, wird sie in der Literatur oft als Verstoß gegen das G. verurteilt. Doch hat sich insoweit wohl eine eigenständige Ausnahme vom G. herausgebildet. Problematischer ist der Gewalteinsatz gegen einen Staat, wenn dort schwere Menschenrechtsverletzungen, gar Genozid (Völkermord) geschehen. Hier kollidieren die beiden wichtigsten Ziele der UNO, Schutz von Frieden und Menschenrechten, miteinander. Bleibt der Sicherheitsrat untätig (Kosovo-Fall), verlagert sich die Verantwortung auf die handlungsfähigen Staaten (NATO). Neuere Überlegungen in den UN zur responsibility to protect könnten auf eine weitere (werdende) Ausnahme vom G. hinweisen.
4. Verletzungsfolgen
Verstöße gegen das G. können durch Zwangsmaßnahmen sanktioniert (Art. 39–42 UN-Charta) und im Fall eines bewaffneten Angriffs aufgrund des Selbstverteidigungsrechts abgewehrt werden. Nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit sind Verletzerstaaten zur Wiedergutmachung verpflichtet, die durch UN- Sanktionen und friedliche Repressalien erzwungen werden kann. Wichtig ist das Verbot, Situationen, die durch Verstoß gegen das G. geschaffen wurden (z. B. Annexion), anzuerkennen. Haben sich die Staaten der Jurisdiktion des IGH oder eines Schiedsgerichts unterworfen, kann die Rechtsverletzung verbindlich festgestellt werden. Die Führung eines Angriffskrieges ist prinzipiell auch als Individualverbrechen nach dem IStGH-Statut (1998) strafbar.
Literatur
O. Dörr: Use of Force, Prohibition of, in: R. Wolfrum (Hg.): MPEPIL, Bd. 10, 2012, 607–620 • O. Corten: The Law Against War, 2010 • C. Verlage: Responsibility to Protect. Ein neuer Ansatz im Völkerrecht zur Verhinderung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 2009 • T. Gazzini: The Changing Rules on the Use of Force in International Law, 2005.
Empfohlene Zitierweise
E. Klein: Gewaltverbot, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gewaltverbot (abgerufen: 21.11.2024)