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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:11 Uhr
I. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Funktionsweise
Die R. C. T. basiert auf der wissenschaftlichen Annahme (Postulat) des methodologischen Individualismus, der ein zu untersuchendes gesellschaftliches Phänomen, wie die von einem Industriezweig produzierte Gütermenge, als Ergebnis individueller Handlungen, z. B. der zuständigen Manager, erklären oder prognostizieren möchte. Im Mittelpunkt der R. C. T. stehen demnach die Entscheidungen von Individuen, die unter bestimmten Situationsbedingungen ihre persönlichen Ziele verfolgen und dadurch zu kollektiven Ergebnissen beitragen. Nach Karl-Dieter Opp basiert die R. C. T. auf drei Kernhypothesen. Die Motivationshypothese besagt, dass sich das Handeln von Individuen aus ihren persönlichen Motiven und damit nicht allein aus den strukturellen Handlungsbedingungen oder einer extern vorgegebenen Systemlogik ergibt. Dabei wird axiomatisch angenommen, dass die Präferenzordnungen der betrachteten Individuen klar definiert (Vollständigkeit), widerspruchsfrei (Transitivität) und auf die Realisierung möglichst vieler Optionen ausgerichtet sind (Nichtsättigung). Die Hypothese der Handlungsbeschränkungen geht davon aus, dass die Erreichbarkeit individueller Ziele von objektiven Bedingungen in Form physikalischer oder institutioneller Restriktionen abhängt. So steht z. B. für den Kauf der präferierten Güter nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung, und die maximale Produktionsmenge wird von der Knappheit der dafür benötigten Rohstoffe mitbestimmt. Die dritte Hypothese der Nutzenmaximierung geht davon aus, dass die betroffenen Akteure unter derartigen Knappheitsbedingungen in dem Sinne rational handeln, dass sie versuchen, ihre Ziele bestmöglich zu verwirklichen. Der auf diese Weise idealtypisch modellierte nutzenmaximierende rationale Entscheider wird auch als homo oeconomicus bezeichnet.
2. Anwendungsbereiche
Die vereinfachenden Annahmen der R. C. T. über das Verhalten einzelner Akteure bilden den methodischen Grundstein (Heuristik) für zahlreiche theoretische Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften. Sie liegen bspw. der mikroökonomischen Haushalts- und Unternehmenstheorie zugrunde, die davon ausgehen, dass Haushalte (Haushalt, privater) und Unternehmen rational handeln, indem sie mit ihrem jeweiligen Budget den optimalen Konsumplan und die gewinnmaximale Produktionsmenge realisieren wollen. Beide Perspektiven werden im mikroökonomischen Marktmodell (Markt) miteinander verknüpft. Die methodische Annahme rationalen Verhaltens ermöglicht dabei das Zusammenfassen (Aggregieren) von individueller Nachfrage und Angebot zu Gesamtnachfrage und -angebot. Dadurch lassen sich Marktergebnisse wie die gehandelte Menge oder der Marktpreis erklären und vorhersagen. Auch die Auswirkungen staatlicher Eingriffe ins Marktgeschehen in Form von Steuern und Subventionen oder Mindest- und Höchstpreisen lassen sich auf diese Weise theoretisch abschätzen.
Die Heuristik der R. C. T. liegt auch der Spieltheorie zugrunde, die im Gegensatz zum beschriebenen Marktmodell von einer strategischen Interdependenz der Akteure (Spieler) ausgeht. Demnach entscheidet jeder Spieler zwar rational i. S. der R. C. T., indem er aus verfügbaren Strategien diejenige wählt, die ihm aus seiner Sicht den größten Nutzen bringt. Der mit einer Strategie verbundene Nutzen hängt jedoch von der Strategiewahl der anderen Spieler ab. Dadurch lassen sich Verhandlungen rationaler Akteure über die Verteilung einer Kooperationsrente modellieren wie z. B. bei Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Außerdem lassen sich Probleme bei der Bereitstellung von Kollektivgütern analysieren. So zeigt das Gefangenendilemmamodell, dass individuell rationales Verhalten zu einer unerwünschten Unterversorgung mit öffentlichen Gütern, wie Angeboten des öffentlichen Nahverkehrs, führen kann, da jeder Einzelne diese zwar nutzen, den Beitrag zu ihrer Bereitstellung, bspw. in Form des Kaufs einer Fahrkarte, aber lieber den anderen überlassen möchte.
Schließlich kommt die Methodik der R. C. T. auch in der normativen Gesellschaftsvertragstheorie (Vertragstheorie) zur Anwendung, die normative Prinzipien, moralische Regeln oder gesellschaftliche Institutionen als Ergebnis eines einstimmigen Gesellschaftsvertrages rationaler Akteure unter hypothetischen Entscheidungsbedingungen begründen will.
3. Kritik und Gegenkritik
Die R. C. T. erfährt aus verschiedenen Perspektiven Kritik. Ihr wird vorgeworfen,
a) ein reduktionistisches Menschenbild zu zeichnen (anthropologische Kritik);
b) aufgrund realitätsferner Modellannahmen falsche Erklärungen und Prognosen menschlichen Verhaltens zu liefern (empirische Kritik);
c) den Charakter derer zu beeinflussen, die seine Funktionsweise erlernen und als Verhaltensnorm verinnerlichen (normative Kritik).
Die anthropologische Kritik lehnt die R. C. T. als unzulässige Vereinfachung menschlichen Entscheidens ab. Sie weist darauf hin, dass rationale Entscheider i. S. der R. C. T. als a-sozial oder gar egoistisch gelten müssten, da sie nur ihre eigenen Ziele verfolgen, ohne die Belange anderer zu berücksichtigen. Dem hält sie entgegen, Menschen seien auch zur Berücksichtigung fremder Interessen, zur Kooperation oder gar zum Altruismus fähig. Diese Kritik verkennt, dass die R. C. T. als Heuristik konzipiert wurde, die dazu dienen soll, typisches Verhalten von Menschen zu modellieren. Als vereinfachendes Modell betont die R. C. T. gezielt diejenigen Aspekte menschlichen Entscheidens, die im Wirtschaftskontext bes. wichtig sind, wie bspw. das wirtschaftliche Kalkül eines Haushalts mit gegebenem Budget möglichst viele Bedürfnisse zu befriedigen, während es andere Aspekte bewusst außer Acht lässt, wie den Aspekt, dass innerhalb des Haushalts umverteilt wird. Diese methodische Engführung hat den Zweck menschliches Entscheiden im Gegenstandsbereich Wirtschaft besser verstehen und ermessen zu können und erhebt nicht den Anspruch den Menschen in all seinen Facetten abzubilden.
Die empirische Kritik an der R. C. T. akzeptiert zwar diese modellhafte Vereinfachung, bemängelt jedoch, dass sie nachweislich zu falschen Erklärungen und Prognosen führe. Tatsächlich wird dies durch Ergebnisse der experimentellen Spieltheorie und der empirischen Verhaltensökonomik belegt. Bei Experimenten zum sogenannten Ultimatumspiel zeigt sich bspw., dass die Teilnehmer in der Realität oft bereit sind, um der Fairness willen, auf Vorteile zu verzichten. Aus derartigen Diskrepanzen zwischen der Prognose der R. C. T. und empirisch festgestelltem Verhalten, entstanden eine Vielzahl alternativer Modellierungsansätze, die alle die Realitätsnähe der R. C. T. verbessern wollen. Zu den vielen „Verwandten“ des homo oeconomicus zählen
a) der Satisficer, der seinen Nutzen nicht maximiert, sondern lediglich ein bestimmtes, ihn zufriedenstellendes, Nutzenniveau anstrebt;
b) der sozial orientierte Entscheider, der das Wohlergehen von Verwandten, Freunden und Kollegen oder immaterielle Güter, wie gesellschaftlichen Status, in seine Nutzenfunktion integriert;
c) der homo reciprocans, der dem kooperativen Verhalten anderer kooperativ begegnet, während er unkooperatives Verhalten bestraft;
d) der willensschwache Entscheider, der multiple Präferenzen in Form eines korrigierenden übergeordneten Präferenzsystems (das des Planners) und routinemäßig ablaufenden untergeordneten Präferenzsystems (das des Doers) hat oder der rationale Ziele aufgrund impulsiver Neigungen nicht konsequent verfolgt.
Die zugrundeliegende empirische Kritik, nach der die Nutzenmaximierungshypothese als empirisch falsch zu verwerfen sei, greift dennoch zu kurz, insb. deshalb, weil Realitätsnähe nicht das entscheidende Qualitätsmerkmal für wissenschaftliche Erklärungs- und Prognoseansätze ist. Zuvörderst müssen diese das Kriterium der Falsifizierbarkeit erfüllen, indem sie zu wissenschaftlichen Vermutungen (Hypothesen) führen, die sich durch den Abgleich mit der Realität überprüfen lassen, z. B. im Rahmen spieltheoretischer Experimente. Je realitätsnäher ein Ansatz ist (im Extremfall, indem er jeden Akteur mit seiner individuellen Gewichtung zwischen Eigennutz, Altruismus, Fairnessorientierung, Genügsamkeit usw. modelliert), desto schwieriger kann man ihn als falsch entlarven. Versucht man z. B. die Fairnessorientierung der Teilnehmer des Ultimatumspiels durch ein Modell zu erklären, das die beobachtete Fairnesspräferenz jedes Einzelnen bereits annimmt, ist diese Erklärung zwar immer logisch wahr (Tautologie), kann deshalb aber auch nicht widerlegt werden. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wäre sie also nichtssagend und empirisch gehaltlos. Die R. C. T. wiederum ist in hohem Maße falsifizierbar, da sie aufgrund der hochselektiven Nutzenmaximierungshypothese nur eine optimale Entscheidung, z. B. in Form einer gewinnmaximalen Produktionsmenge, zulässt. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass sie sich in empirischen Studien immer wieder als falsch erweist. Dies bedeutet, dass ihre Erklärungen und Prognosen im Erfolgsfall zwar hohen empirischen Gehalt haben, aber höchstens im Durchschnitt zutreffen werden.
Die normative Kritik argumentiert, die R. C. T. könne den Charakter all derer verderben, die ihre Funktionsweise in Schule, Studium oder Beruf erlernen, indem sie sie dazu erziehe, eigennützigere Entscheidungen zu treffen und andere Entscheidungsmotive weniger stark zu berücksichtigen. Diese Kritik liegt den starken Vorbehalten gegen eine Vermittlung der R. C. T. im Schulunterricht zugrunde. In der Tat scheinen empirische und experimentelle Forschungsergebnisse zu bestätigen, dass sich Universitätsabsolventen wirtschaftswissenschaftlicher Fächer systematisch anders verhalten als Absolventen anderer Fächer. Bspw. treffen sie in Verhaltensexperimenten unmoralischere Entscheidungen oder sind als Politiker häufiger in Korruption verwickelt. Es bleibt jedoch unklar, ob dies auf einen Selektions- oder einen Indoktrinationseffekt zurückzuführen ist, ob also Personen mit einer entsprechenden Verhaltensdisposition sich eher ein wirtschaftswissenschaftliches Studium aussuchen oder ob ihre Verhaltensdisposition durch das Erlernen der R. C. T. erst entspr. geformt wird. In jedem Fall scheint sich die normative Kritik hauptsächlich auf Probleme bei der Vermittlung des Modells zu beziehen und nicht auf das Modell selbst, das nicht als Verhaltensnorm konzipiert ist.
Literatur
R. Ruske: Does Economics Make Politicians Corrupt? Empirical Evidence from the United States Congress, in: KYKLOS 68/2 (2015), 240–254 • C. Müller: Warum Rational Choice?, in: ders./F. Trosky/M. Weber (Hg.): Ökonomik als allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens, 2012, 3–19 • C. Müller/R. Ruske/J. Suttner: Menschenbild und Moralität: Der Selektions- und Indoktrinationseffekt ökonomischer Bildung, in: M. Schuhen/M. Wohlgemuth/C. Müller (Hg.): Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, 2012, 139–155 • J. Haucap/T. Just: Not Guilty? Another Look at the Nature and Nurture of Economics Students, 2010 • G. Kirchgässner: Homo Oeconomicus: Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 32008 • A. Falk: Homo Oeconomicus versus Homo Reciprocans: Ansätze für ein neues wirtschaftspolitisches Leitbild?, in: PdW 4/2 (2003), 141–172 • K.-D. Opp: Rational Choice Theory/Theorie der rationalen Wahl, in: G. Endruweit/G. Trommsdorff (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, 22002, 424–427 • A. Ockenfels: Fairness, Reziprozität und Eigennutz, 1999 • D. Gauthier: Morals by Agreement, 1986 • J. Elster: Weakness of Will and the Free Rider Problem, in: Econ. Ph. 1/2 (1985), 231–265 • M. Tietzel: Wirtschaftstheorie und Unwissen, 1985 • R. H. Thaler/H. M. Shefrin: An Economic Theory of Self-Control, in: JPE 89/2 (1981), 392–406 • J. M. Buchanan: The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan, 1975 • J. Rawls: A Theory of Justice, 1971 • A. A. Alchian: Exchange and Production: Competition, Coordination, and Control, 1969 • H. A. Simon: Models of Man. Social and Rational, 1957 • T. Hobbes: Leviathan, Or the Matter, Forme, and Power of A Common-Wealth Ecclessiasticall and Civill, 1651.
Empfohlene Zitierweise
D. Bäumlisberger, C. Müller: Rational Choice Theory, I. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Rational_Choice_Theory (abgerufen: 05.12.2024)
II. Soziologisch
Abschnitt druckenDie R. C. T. bezeichnet in der Soziologie eine Theorie sozialen Handelns (Handeln, Handlung). Die Grundlagen und Fragestellungen der R. C. T. finden sich bereits bei Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes in der Sozialphilosophie und politischen Philosophie des 15. und 16. Jh. Den historischen Hintergrund bilden die Erfahrungen von frühneuzeitlichem Machtmissbrauch und andauerndem Bürgerkrieg. Kerngedanke der R. C. T. ist es, soziale Ordnung nicht aus der Orientierung individueller Akteure an sozialen Normen (homo sociologicus), sondern aus den Entscheidungen und Handlungen individueller Akteure zu erklären, die im Wesentlichen als selbstinteressiert handelnd aufgefasst werden. Dabei zielt die R. C. T. explizit auf die Handlungsalternativen ab, zwischen denen der Akteur seine Wahl trifft. Die Akteure verfügen – so die zentrale (homo oeconomicus) Annahme der R. C. T. – über Ressourcen und wählen diejenige Handlungsalternative, unter der sie ihre Ziele (auch Präferenzen genannt) unter Berücksichtigung von Handlungsbeschränkungen (auch Restriktionen genannt) in höchstem Maße realisieren. Die weitere Ausdifferenzierung von Annahmen über Handlungsbeschränkungen und das, was „in höchsten Maße“ meint (z. B. Nutzenmaximierung, Maximierung des subjektiv erwarteten Nutzens), führt zu verschiedenen Varianten der R. C. T.
Die R. C. T. sucht nach gesetzesartigen (nomologischen) Zusammenhängen oder nach Mechanismen, die soziales Handeln erklären. Sie bevorzugt es, das Besondere aus dem Allgemeinen (deduktiv) abzuleiten (sogenannte deduktiv-nomologische Erklärung). Sie entwickelt hierzu auch formale (mathematische) Modelle.
Anwendungen der R. C. T. zielen zum einen auf die logische Analyse möglicher Bedingungskonstellationen für das Auftreten bestimmter Tatbestände – etwa ein für alle Handelnden optimales Ergebnis –, zum anderen auf die empirisch-erklärende Untersuchung konkreter sozialer Sachverhalte:
a) Der Grundlagenforschung sind die Analysen zur Entstehung sozialer Ordnung, z. B. zur Entstehung von Kooperation oder zu kollektivem Handeln unter rationalen Akteuren zuzuordnen. Im Mittelpunkt spieltheoretischer Analysen (Spieltheorie) steht die logische Analyse der Struktur einer sozialen Situation, in der die Entscheidung eines Akteurs von der Entscheidung des anderen abhängt und umgekehrt (insb. Dilemma-, Fairness-, Markt- und Vertrauensspiele; strategische Entscheidungssituationen).
b) Empirisch-erklärende Untersuchung basiert weitgehend auf nutzentheoretischen Modellen, in denen vereinfachend angenommen wird, dass in die Entscheidung eines Akteurs keine strategischen Überlegungen (Strategie) eingehen (parametrische Entscheidungssituationen). Analysiert werden bspw. Konsum-, Bildungs- sowie Migrationsentscheidungen, umweltrelevantes als auch abweichendes Verhalten (Devianz, Kriminalität), oder Entscheidungen in und von Organisationen.
Die R. C. T. wird dafür kritisiert, dass sie Präferenzen als gegeben und konstant annimmt, während sie in Wirklichkeit vielfach das Ergebnis von Aushandlungsprozessen der Akteure und veränderlich sind. Der Versuch, soziale Phänomene unter Rückgriff auf homo oeconomicus-Annahmen zu erklären wird innerhalb der Soziologie weitgehend als ökonomischer Imperialismus wahrgenommen. Als große Schwäche der R. C. T. erweist sich, dass sie den Sinn ignoriert, den ein soziales Handeln hat. Sie ignoriert die Bedeutungen, die Akteure Objekten und Subjekten zuschreiben. Sie ignoriert Sprache und Verständigung. Sie ignoriert die fantasiereichen Inszenierungen sozialen Handelns. Sie ignoriert weitgehend den Einfluss von Normen und Werten, von Macht und Herrschaft, von Kultur und Geschlecht, wie auch von Emotionen. Finden diese doch Eingang in die Modellierungen, dann über Hilfsannahmen oder indem ein Handlungsrahmen (Frame) definiert wird.
Gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich bes. dann mithilfe der R. C. T. fruchtbar bearbeiten, wenn individuelles Handeln relevant ist, wenn die Individuen Entscheidungen treffen müssen und wenn die Handlungsalternativen vorwiegend von bemerkenswerten Kostenunterschieden gekennzeichnet sind, während andere Aspekte wie bspw. Normen, Werte, Macht und Herrschaft kaum handlungsleitend sind. Konsumentscheidungen im Internet und Migrationsentscheidungen seien als Beispiele genannt, von denen aktuell bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen ausgehen.
Literatur
R. Wittek/T. A. B. Snijders/V. Nee: The Handbook of Rational Choice Social Research, 2013 • N. Braun/T. Gautschi: Rational-Choice-Theorie, 2011 • M. S. Archer/J. Q. Tritter (Hg.): Rational Choice Theory. Resisting Colonialization, 2000.
Empfohlene Zitierweise
N. Saam: Rational Choice Theory, II. Soziologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Rational_Choice_Theory (abgerufen: 05.12.2024)
III. Politikwissenschaftlich
Abschnitt druckenPublic Choice (auch ökonomische Theorie der Politik [ Neue Politische Ökonomie ] genannt, im Folgenden P. C. T.) und Social Choice bezeichnen die Anwendung der R. C. T. in der Politikwissenschaft. Die Grundlagen und Fragestellungen finden sich auch hier bereits bei Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes. Kerngedanke von Public Choice ist es, politische Ordnung und kollektive Wohlfahrt nicht aus bestehenden Institutionen und vorgängiger Herrschaft, sondern aus den Entscheidungen und Handlungen (Handeln, Handlung) individueller (und korporativer, z. B. staatlicher) Akteure zu erklären, die im Wesentlichen als selbstinteressiert handelnd aufgefasst werden. Dabei zielt die P. C. T. auf die Handlungsalternativen ab, zwischen denen die Akteure ihre Wahl treffen. Das Modell des Marktes und das Konzept des ökonomischen Gutes werden herangezogen, um politische Phänomene zu erklären. Politisches Handeln wird im Wesentlichen als Verteilung öffentlicher Güter aufgefasst. Politische Akteure wie Wähler, Politiker, Parteien, Bürokraten und Interessensgruppen handeln als Anbieter oder Konsumenten dieser öffentlichen Güter. Während Public Choice politische Phänomene beschreibt und zu erklären sucht, wendet Social Choice den Ansatz normativ und fragt, wie eine politische Ordnung gestaltet sein sollte, die als gerecht und effizient bezeichnet werden kann. In den letzten drei Jahrzehnten entwickelt sich die Theorie in Richtung einer allgemeinen Entscheidungstheorie, die viele ursprüngliche Annahmen über Rationalität aufgegeben hat, und Annahmen enthält, die von ihren Vertretern als „essentially nonutilitarian“ bezeichnet werden (Anand/Pattanaik/Puppe 2009: 1).
Auch Public Choice und Social Choice sind der deduktiv-nomologischen Erklärung verpflichtet. Beide entwickeln insb. auch formale (mathematische) Modelle. Anwendungen der P. C. T. zielen auf die logische Analyse möglicher Bedingungskonstellationen für das Auftreten bestimmter Tatbestände – etwa eines Optimums an Wohlfahrt für alle Gesellschaftsmitglieder – und auf die empirisch-erklärende Untersuchung konkreter politischer Sachverhalte:
a) Der Grundlagenforschung sind Public Choice-Modelle des Handelns zentraler politischer Akteure sowie ihrer Interaktion zuzuordnen, z. B. das Modell des rationalen Wählers, das räumliche Modell des Parteiensystems, Modelle der Bürokratie, sowie das Modell des politischen Unternehmers. Im Mittelpunkt spieltheoretischer Analysen (Spieltheorie) steht die logische Analyse der Struktur einer politischen Situation. Dabei wird zum einen auf spieltheoretische Konzepte zurückgegriffen, die oben beschrieben wurden. Zum anderen werden Situationen analysiert, in denen die Akteure eine wesentlich höhere Bereitschaft zur Kooperation zeigen (sogenannte kooperative Spieltheorie), z. B. politische Verhandlungen.
b) Empirisch-erklärende Untersuchungen beziehen sich z. B. auf die nachhaltige Nutzung von Gemeingütern und den Vergleich der Leistungsfähigkeit verschiedener institutioneller Arrangements, wie institutionalisierte lokale Kooperation der Betroffenen, staatliche Kontrolle oder Privatisierung (etwa in der Umweltökonomie).
c) Normative Fragen, bspw. nach Prinzipien für die Bestimmung kollektiver Präferenzen oder nach gerechten Verteilungsregeln, werden im Rahmen von Social Choice sowie von ökonomischen Vertrags- und Gerechtigkeitstheorien diskutiert.
Die P. C. T. wird in der Politikwissenschaft insb. dafür kritisiert, dass sie den Rationalitätsbegriff radikal umdeutet. Vormals mit Vernunft (Vernunft – Verstand) gleichgesetzt (z. B. bei Platon und Aristoteles verstanden als am Gemeinwohl bzw. göttlichen Willen orientiert oder von Immanuel Kant definiert als einem allgemeinen Gesetz gehorchend) wird Rationalität nun zur freien, allein auf das Individuum bezogenen, Entscheidung. Darüber hinaus wird kritisiert, dass die Modelle der P. C. T. die Durchsetzung sachlicher Ziele, d. h. die grundlegende Policy-Orientierung politischer Akteure sowie institutionelle Rahmenbedingungen ignorieren. Mit der Institutionenökonomik hat die R. C. T. inzwischen einen originellen Ansatz zur Analyse und Gestaltung von Institutionen beigetragen. In gegenwärtige politische Entscheidungen bringen sich Vertreter der P. C. T. über Prozesse der Politikberatung ein. Von ihren Gegnern wird die P. C. T. als Variante des angelsächsischen Neoliberalismus betrachtet.
Literatur
R. G. Holcombe: Advanced Introduction to Public Choice, 2016 • M. Reksulak/L. Razzolini/W. F. Shughart II (Hg.): The Elgar Companion to Public Choice, 22014 • P. Anand/P. Pattanaik/C. Puppe: The Handbook of Rational and Social Choice, 2009 • S. Pressman: What Is Wrong with Public Choice, in: JPKE 27/1 (2004), 3–18.
Empfohlene Zitierweise
N. Saam: Rational Choice Theory, III. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Rational_Choice_Theory (abgerufen: 05.12.2024)