Esoterik: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 4. Januar 2021, 11:07 Uhr
Das Substantiv E. bzw. das im Gebrauch ältere Adjektiv esoterisch stehen für eine „Chiffre“ (Zander 2007: 18), die unterschiedliche sozial- und ideengeschichtliche Phänomene umfasst. Ein übergreifender Konsens zur Begriffsdefinition konnte bisher nicht erreicht werden. Nach seiner Etymologie leitet sich der Begriff E. vom griechischen Adjektiv esóteros ab. Übersetzen kann man E. mit das „innere, verborgene, geheime Wissen“, das Adjektiv meint dementsprechend „zum inneren Kreis gehörig“.
1. Esoterik als exklusives oder privilegiertes Wissen
In religiösen oder weltanschaulichen Strömungen baut sich regelmäßig ein Sonderwissen auf, welches nur einem bestimmten Kreis von Eingeweihten zugänglich ist. In diesem Sinne verweist der Begriff der E. auf eine Identitätsform, die auf einem exklusiven Wissen beruht, durch welches sich bestimmte gesellschaftliche Kreise auszeichnen. Dem Beispiel der in der Antike wurzelnden Hermetik folgend, betont diese Begriffsverwendung soziale Distinktionsprozesse, die sich in unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Strömungen beobachten lassen. Das Motiv eines inneren Kreises von Eingeweihten oder Auserwählten, teils verbunden mit der Aufforderung zur Geheimhaltung, wird u. a. innerhalb des Christentums („Mystik“), im Judentum („Kabbala“), im Islam („Sufismus“) sichtbar.
Der eigene Wissens- und Praxiskanon solcher Teilströmungen erfordert einen besonderen Aneignungsmodus, der den Weg zur Weisheit geleitet. Der Zugang wird dabei in Form eines kontemplativen, auf dem Streben nach Versenkung beruhenden Weges verstanden, der sich von der Rezeptionspraxis der weniger Auserwählten abgrenzt. U. U. ist mit diesem Aneignungsmodus auch ein Zustand der Ekstase verbunden. Um den exklusiven Charakter zu bewahren, muss der esoterische Habitus in besonderen Institutionen (in Orden, Logen, Kreisen, Schulen oder Kommunen) angesiedelt sein, wo die esoterischen Lehren von Mystagogen, Priestern oder Meistern an ausgesuchte Schüler übermittelt werden. Mit dieser sozialstrukturellen Begriffsbestimmung wird die E. weder über ihre inhaltlichen Merkmale definiert noch als sozial oder historisch zusammenhängende Bewegung gedacht.
2. Esoterik als geistesgeschichtliche Strömung
Gemäß einer ideengeschichtlichen Bestimmung der E. werden religiöse oder weltanschauliche Strömungen identifiziert, die sich durch gemeinsame inhaltliche Prinzipien und Dichotomien auszeichnen. So fasst Antoine Faivre historische Strömungen wie die Hermetik, den Okkultismus, die christliche Kabbala, den Paracelsismus, die christliche Theosophie und das Rosenkreuzertum als „esoterischen Corpus“ zusammen. In diesem Schriftenbestand des 15. bis 17. Jh. werden inhaltliche Gemeinsamkeiten identifiziert, wie das „Denken in Entsprechungen“, die „Idee der lebenden Natur“, die „Erkenntnis durch Imagination“ sowie die „Erfahrung der Transmutation“ (Faivre 1992: 24–32). Über die Typologisierung hinausgehend unterstellt A. Faivre eine historische Kontinuität dieser Prinzipien, die über die Freimaurerei (Freimaurer) und den Mesmerismus des 18. Jh., über den Spiritismus, Okkultismus und die Theosophie des 19. Jh. bis ins 20. Jh. hineinreicht.
Einen modifizierten ideengeschichtlichen Ansatz schlägt Wouter Jacobus Hanegraaf vor, der im 18. Jh. einen Bruch in der inhaltlichen Ausrichtung esoterischer Strömungen verortet. Zunehmend werden der E. zu dieser Zeit Ideen zugeordnet, die darauf bestehen, dass Kräfte und Einflüsse außerhalb (natur)wissenschaftlicher Erklärung existieren. Mit diesem Hinweis bereichert W. J. Hanegraaf den ideengeschichtlichen Ansatz durch ein sozialgeschichtliches Element. Der E. ist demnach gemein, dass sie das Wissen bündelt, welches von den herrschenden gesellschaftlichen Diskursen (Diskurs) der Religion, Philosophie und Naturwissenschaft ausgeschlossen wird. Die E. wird zu einem Sammelbecken für das „forbidden knowledge“ (W. J. Hanegraaff) der beginnenden Moderne, das sich im Gegensatz zu den spezifischen, legitimierenden Ideologien (Ideologie) der Moderne als „allumfassend“ betrachtet und ein angenommenes „Ur-Wissen“ verschiedener Religionen und Weisheitstraditionen zu rehabilitieren sucht.
Als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand wird die E. damit umso attraktiver, weil sie die für die Entstehung der modernen Gesellschaft konstitutiven Machtdiskurse nachvollziehbar macht. So hat Monika Neugebauer-Wölk herausgearbeitet, dass die Etikettierung abweichender religiöser Lehren als E. ein konstitutives Element der Selbstlegitimation christlicher Theologie gewesen ist.
3. Esoterik als Sammelbegriff für alternative Religiosität seit Beginn der Moderne
Der Begriff der E. wird seit der vorletzten Jahrhundertwende zunehmend mit alternativen Wissens- und Gesellungsformen in Zusammenhang gebracht, die eine konfrontative Stellung gegen den Fortschrittsglauben der modernen Gesellschaft (Fortschritt) einnehmen. Träger sind das alternative Bildungsbürgertum zu Beginn des Jh. (z. B. in der Lebensreformbewegung) sowie weitere Jugend- bzw. Alternativbewegungen der Vorkriegsjahre. Ein gemeinsames Merkmal dieser Bewegungen ist, dass sie das Stigma des „Okkulten“, „Irrationalen“ oder „Vormodernen“ in eine Tugend oder ein „Charisma“ (Winfried Gebhardt) verwandeln, um ihre eigene gesellschaftliche Identität gegen den abendländischen Rationalismus zu profilieren. Prominente Nachfolger aus der Nachkriegszeit sind die „Gegenkultur“ der 1960er Jahre, die „Jugendreligionen“ der 1970er Jahre sowie die „New-Age Bewegung“ des darauf folgenden Jahrzehnts.
Wissenschaftlich umstritten ist, wie sehr bei diesen Strömungen die soziale und ideengeschichtliche Kontinuität zu den historischen Vorläufern der E. noch behauptet werden kann. Ebenso stellt sich die Frage, ob an der Wende zum 21. Jh. überhaupt von einer Bewegung im Sinne eines übergreifenden, geteilten Prinzipienkanons gesprochen werden kann. Dieser Zweifel wird vor allem in Anbetracht des „E.-Booms“ seit den 1990er Jahren virulent. E. ist zu einem Massenphänomen mit Breitenwirkung geworden. Praktiken, die in dieser Begriffsverwendung zur E. gezählt werden sind Channeling, Astrologie, Tarot, Pendeln sowie verschiedene Methoden der Alternativmedizin wie Homöopathie, Reiki, Bach-Blüten, Feng Shui oder Reinkarnationstherapie. Zumindest solche einzelnen Elemente der E. haben mittlerweile einen Prozess der Popularisierung durchlaufen, der von der Alternativkultur zum gegenwärtigen Gesundheits- und Wellnessmarkt führt.
Literatur
W. J. Hanegraaff: Esotericism and the Academy: Rejected Knowledge in Western Culture, 2012 • M. Hero: Der Markt für spirituelles Heilen. Eine soziologische Betrachtung seiner Akteure und Institutionen, in: C. Klein u. a. (Hg.): Gesundheit – Religion – Spiritualität, 2011, 149–162 • M. Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: M. Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik, 2008, 477–507 • H. Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945; Bd. 1, 2007 • W. J. Hanegraaff: Forbidden Knowledge, Anti-Esoteric Polemics and Academic Research, in: Aries. Journal for the Studies of Western Esotericism, 5/2005, 225–254 • K. von Stuckrad: Was ist Esoterik?, 2004 • M. Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800: Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Differenz, in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism, 3/2003, 127–165 • A. Faivre: Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens, 2001 • C. Bochinger: „New Age“ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, 1994 • W. Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, 1994.
Empfohlene Zitierweise
M. Hero: Esoterik, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Esoterik (abgerufen: 23.11.2024)