Wissenssoziologie: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Soziologie]]

Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr

W. bezeichnet einen sozialwissenschaftlichen Ansatz, der sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Wissen und der Erkenntnis auf der einen und sozialen Prozessen sowie sozialen Strukturen auf der anderen Seite beschäftigt. Der Begriff W. wurde von Karl Mannheim und Max Scheler Anfang der 1920er Jahre geprägt. Die soziale Bedeutung des Wissens war bereits von den soziologischen Klassikern bemerkt worden. So hatte Auguste Comte mit seinem Dreistadiengesetz auf die historische Verschiebung vom theologischen über das metaphysische zum wissenschaftlichen Wissen hingewiesen, Karl Marx hatte die ideologische Rolle des Wissens in seiner Unterscheidung von Basis und Überbau betont, und der französische Soziologe Émile Durkheim hatte die soziale Strukturiertheit selbst der elementaren Kategorien des Denkens (Logik, Kausalität, Zeitlichkeit) herausgehoben. Zugespitzt formuliert K. Mannheim dieses soziologische Verständnis als „Seinsverbundenheit“ (Mannheim 1978: 227) allen Wissens. Jede Art der sozialen Gruppierungen bildet ein eigenes Wissen aus, das ihr eine bes. Perspektivität verleiht und zur Ideologie neigt. Bes. moderne Gesellschaften sind durch plurale Perspektiven gekennzeichnet.

Die jüngere W. im Gefolge von Alfred Schütz bindet Wissen systematisch an die Vorstellung, dass die Wirklichkeit insgesamt im Handeln geschaffen wird, das von sozial geprägtem Wissen geleitet ist. Diese Vorstellung findet im wissenssoziologischen Paradigma des Sozialkonstruktivismus (Konstruktivismus) einen international sehr breit rezipierten Ausdruck, der von Peter Ludwig Berger und Thomas Luckmann geprägt wurde. Im deutschsprachigen Raum bildete dieser Ansatz den lebendig diskutierten Bezugspunkt für zahllose wissenssoziologische Veröffentlichungen und Forschungsanstrengungen sowie die erfolgreiche Institutionalisierung innerhalb der DGS.

Die für die W. betonte Verknüpfung von Wissen mit Handeln (Handeln, Handlung) findet ihren Nachhall in nahezu allen jüngeren Theorielinien innerhalb der Soziologie, auch wenn sie jeweils mit unterschiedlichen Begriffen gefasst wird. Die von der jüngeren W. getragene interpretative Wende der Sozialwissenschaften (Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, Sozialkonstruktivismus) trug auch maßgeblich zur Ausbildung der qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung bei, die sich dem Wissen der Handelnden als Konstrukten erster Ordnung verstehend zuwendet, um daraus ihre Handlungen zu erklären. Die jüngere W. wirkte sich auch auf viele andere wissenschaftliche Disziplinen und interdisziplinäre Forschungszusammenhänge aus, wie etwa Gender Studies (Gender), der postkolonialen Erforschung (Postkolonialismus) sozialer Probleme und die sich international und interdisziplinär ausbreitenden Science and Technology Studies.

Während die Philosophie Wissen als Verhältnis eines einzelnen „erkennenden“ Subjekts zu einem Objekt, zur Umwelt oder zur Welt betrachtet (wobei die verschiedenen Positionen von der Art der Aktivität des Subjekts und der „Realität“ der Objekts abhängen), zeichnet sich die prägnante soziologische Konzeption des Wissens dadurch aus, dass es das Wissen des Erkenntnissubjekts zudem, hauptsächlich oder sogar ausschließlich als abhängig von seiner Relation zu anderen Subjekten ansieht. Diese Position wird spät in der Philosophie als social epistemology formuliert. Wissen wird als großteils von anderen übernommenes Sinngebilde, als wesentlich von der Kultur bereitgestellte Bedeutung oder als – auch hinsichtlich der Ding- und Naturwelt – hauptsächlich in sozialen und kommunikativen Prozessen erzeugt verstanden. Wissen umfasst nicht nur explizite und sprachliche, sondern auch „implizite“ leibliche (z. B. „Sehgemeinschaften“), habitualisierte („Körpertechniken“) und routinisierte („Communities of Practice“) Formen bis hin zu den basalen lebensweltlichen (Lebenswelt) Kategorien von Zeit und Raum. Wissen wird in Zeichen, Sprache, Artefakten und Technologien objektiviert, die im Handeln jeweils situativ realisiert werden. Diese Objektivationen bilden die Grundlage für dauerhafte Wissensordnungen, die von sozialen Institutionen getragen und durch deren Macht gestützt oder gestürzt werden. Wissen ist damit Teil großflächiger sozialer Prozesse, in denen die gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wird. Welche Wirklichkeit konstruiert wird, hängt deswegen sehr wesentlich von der jeweiligen sozialen Verteilung und den Arten der kommunikativen Vermittlung des Wissens ab. Daher stellt Wissen bzw. die Macht, Wissen zu definieren, eine zentrale Säule jeder gesellschaftlichen Ordnung dar.

Grob lassen sich die verschiedenen wissenssoziologischen Ansätze danach unterscheiden, a) wie sie das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft fassen und b) welche Prozesse sie zugrunde legen.

a) Korrelationistische Ansätze betonen das Wechselverhältnis von gesellschaftlichem Wissen und Gesellschaft, das sie etwa kausal oder funktionalistisch deuten. Integrierte Ansätze sehen Wissen dagegen als ein definitorisches Merkmal des sozialen oder kollektiven Handelns, das deswegen zuerst verstanden werden muss, um erklärt werden zu können.

b) Neben sozialen sinngeleiteten Handlungen können auch vorreflexive „habitualisierte“ Praktiken als grundlegende Prozesse der Wissenskonstitution und -vermittlung angesehen werden, aber auch Sinn „prozessierende“ Kommunikationen, Sinn körperlich objektivierendes kommunikatives Handeln oder gesellschaftliche Diskurse.

Die wissenssoziologische Analyse fokussiert auf das von diesen Prozessen erzeugte, sie leitende oder sie tragende Wissen (etwa als Schema, Typisierung oder Kategorisierung). Gegenstand der W. ist ebenso die soziale Verteilung des Wissens, die nach Handlungsrollen, Sonder- und Expertenwissen unterschieden werden kann; dazu gehören auch die Wissensbestände der verschiedenen sozialen Institutionen mit ihren jeweiligen Legitimationen. V. a. auch die ungleiche Verteilung des Wissens nach sozialen Gruppen ist Untersuchungsgegenstand der W., die sich dabei auch für die damit verbundenen Ideologien und Machtverhältnisse interessiert („Eliten“, „Arbeiterklasse“ oder „Bildungsbürgertum“). Daneben bildet die Untersuchung der Wissensvermittlung einen bedeutenden Forschungszweig, wobei etwa bes. auf die sprachlichen Mittel der Kommunikation, die objektivierten, medialen und materialen Formen der Kommunikation sowie auf kommunikative Gattungen geachtet wird.

Eine mit dem wissenssoziologischen Konzept des Wissens engstens verbundene Diagnose kreist um den Begriff der Wissensgesellschaft. Diese zeichnet sich einerseits durch eine starke Orientierung am wissenschaftlichen, „positiven“ und „objektiven“ Wissen aus. Hierbei spielt die Wissenschaft eine große Rolle zur Bestimmung und Legitimation des Wissens. Wissen hat auch gewissen Einfluss auf den Zugang zu zunehmend professionalisierten (keineswegs notwendig „wissenschaftlichen“) Berufskarrieren, und ist ein wesentliches Instrument der gesellschaftlichen Veränderungen, das in diesem Zusammenhang als „Innovation“ interpretiert wird. Andererseits wird etwa im Management auch auf die „implizite“ Seite des Wissens und die „Kreativität“ der Handelnden geachtet.

„Wissensgesellschaft“ bildet zu guten Teilen eine normative Selbstbeschreibung, die sich auf die funktionalen Aspekte des Wissens beschränkt. Sie geht einher mit der Ausbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien und entspr.en Veränderungen der Formen, Vermittlung und Strukturen der Kommunikation. Wissensgesellschaft zeichnet sich jedoch nicht durch eine bloße Vermehrung des Wissens aus, sondern basiert auf der bes.n Betonung wissenschaftlich legitimierten Wissens, das in einer zunehmend längeren, mit formalen (akademischen) Abschlüssen verbundenen und sich auf immer mehr soziale Gruppen erstreckenden Ausbildung vermittelt wird.

Diese im Konzept der Wissensgesellschaft implizierte Bedeutung der Wissenschaft wird durch die Wissenschaftssoziologie analysiert. Diese hat sich aus der W. entwickelt, der sie etwa den Zusammenhang zwischen „Denkstilen“ und sozialen Gruppen verdankt. Während sich die Wissenschaftssoziologie zunächst in Großbritannien und in den USA allmählich weiterentwickelt hat, ist der wissenssoziologische Grundgedanke einer Abhängigkeit wissenschaftlichen Wissens von sozialen Strukturen, Praktiken und Handlungsformen Kern einer sich international enorm rasch ausbreitenden interdisziplinären Wissenschaftsforschung, Social Studies of Science, geworden. Standen dabei zunächst die Lebens-, Natur- und Ingenieurswissenschaften im Vordergrund der Forschung, so wendet sie sich mittlerweile auch der Sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu. Diese reflexive Zuwendung zu den eigenen „Wissenskulturen“ dient der eigenen theoretischen Selbstvergewisserung, trägt zur Neuausrichtung der Erfassung der eigenen Disziplin- und Methodengeschichte bei und verspricht auch neue Anstöße für eine empirisch fundierte Theorie der Wissenschaft.