Klassische Nationalökonomie: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 4. Januar 2021, 11:22 Uhr
1. Einleitung
Als „k. N.“ bezeichnet man jenes im 18. und 19. Jh. entstandene System ökonomischer Theorien und wirtschaftspolitischer Empfehlungen, welches auf Basis eines surplustheoretischen Ansatzes Fragen der Entstehung, Verteilung, und Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums untersucht. Zu den theoretischen und historischen Vorläufern der k.n N. zählen William Petty, David Hume und James Steuart. Einige zentrale klassische Ideen, so insb. das Konzept des Überschuss- oder Nettoprodukts (produit net), finden sich auch bei den französischen Physiokraten und deren Vorgängern, insb. bei Pierre Le Pesant de Boisguillebert und Richard Cantillon.
Als Hauptvertreter der k.n N. gelten allg. Adam Smith und David Ricardo. Zu den Klassikern zählen ferner: Thomas Robert Malthus, James Mill, John Ramsey McCulloch und Robert Torrens. Nachfolger und zugl. Wegbereiter des Übergangs zur Neoklassik sind John Stuart Mill und Nassau William Senior. Jean Baptiste Say hat A. Smiths liberale Ideen in Kontinentaleuropa popularisiert. Im deutschen Sprachraum können Johann Heinrich von Thünen, Carl Daniel Heinrich Rau und Friedrich Benedict Wilhelm von Hermann der k.n N. zugerechnet werden.
2. Wert und Verteilung
Im Zentrum des klassischen Theoriegebäudes steht die Wert-, Preis- und Verteilungstheorie. Die physiokratische Vorstellung einer sich jährlich reproduzierenden und darüber hinaus ein Mehrprodukt erwirtschaftenden Ökonomie wird von A. Smith insofern erweitert, als auch die in Handwerk, Industrie und Handel verrichtete Arbeit für produktiv erklärt und die Entstehung des Überschussprodukts damit im gesamten ökonomischen System und nicht mehr nur in der landwirtschaftlichen Produktion verortet wird. Nach Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel und nach Abzug der für den Unterhalt der Arbeiter notwendigen Lohngüter vom jährlich erzeugten Output verbleibt ein wertmäßiger Überschuss oder Surplus, der zur Verteilung als Profit und Rente zur Verfügung steht. Die zur Bestimmung dieses Überschusses von den Klassikern entwickelte Wert- und Preistheorie beruht auf dem Konzept der natürlichen oder normalen Preise, verstanden als Gravitationszentren der Marktpreise. Natürliche Preise resultieren aus den bei freier Konkurrenz zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen erfolgenden Arbeitskräfte- und Kapitalverlagerungen, die eine Tendenz zu einer uniformen Profitrate und einem einheitlichen Lohn für gleiche Arbeit bewirken.
Mit seiner (unabhängig von ihm auch von T. R. Malthus, Edward West und von J. H. von Thünen entwickelten) Differentialrententheorie gelang es D. Ricardo, die Rente aus der Preisbestimmung auszuschließen. Der Preis von Agrarprodukten, z. B. von Getreide, wird dieser Theorie zufolge durch die Produktionskosten auf den Grenzböden, d. h. den am wenigsten fruchtbaren oder am weitesten vom Verbrauchszentrum entfernt gelegenen Böden bestimmt, deren Nutzung aber noch erforderlich ist, um den gesellschaftlichen Bedarf an Getreide zu decken. Da aber nur ein Teil der insgesamt vorhandenen Fläche der Böden dieses Typs bebaut werden muss, führt die Konkurrenz ihrer Besitzer um Pächter dazu, dass der Rentsatz auf diesem Bodentyp auf Null gedrückt wird. Nur die Besitzer von ergiebigeren oder günstiger gelegenen Böden können die dort im Vergleich mit den Grenzböden anfallenden Ertrags- bzw. Kostendifferentiale als Renten abschöpfen. Das Niveau der allg.en Profitrate wird dann, für einen gegebenen Reallohnsatz, durch die Produktionskosten am Grenzboden bestimmt. Die Bestimmung der allg.en Profitrate und ihres langfristigen Trends rückt bei D. Ricardo ins Zentrum der Analyse: Sie ist die Schlüsselgröße des Systems, da sie die Rate beeinflusst, mit der Kapital akkumuliert wird und die Wirtschaft wächst (Wirtschaftswachstum).
Im Mittelpunkt von D. Ricardos Analyse stand die Frage der Anteile der verschiedenen Klassen am Volkseinkommen und deren Entwicklung über die Zeit. Im Gegensatz zu A. Smith sah er im „natürliche[n] Fortschritt der Gesellschaft“ (Ricardo 2006: 86), d. h. unter der Annahme, dass Kapitalakkumulation und Bevölkerungswachstum von keinerlei technischem Fortschritt begleitet sind, kaum Spielraum für Reallohnsteigerungen, zum einen wegen des mit der Bevölkerungsvermehrung steigenden Arbeitsangebots, zum anderen wegen der Notwendigkeit, auf intensivere Bewirtschaftungsmethoden oder weniger fruchtbare Böden zur Deckung des steigenden Nahrungsmittelbedarfs auszuweichen. Mit zunehmender Verknappung der fruchtbareren Böden steigt daher der Renten- und fällt der Profitanteil am Sozialprodukt. Sofern nicht landwirtschaftlicher Fortschritt oder Getreideimporte dem entgegenwirken, mündet der Wachstumsprozess aufgrund des Fallens der allg.en Profitrate in einem stationären Endzustand des ökonomischen Systems.
3. Außenhandel
Die Klassiker traten für freien internationalen Handel ein. Dies wurde begründet mit absoluten und komparativen Kostenvorteilen sowie dynamisch steigenden Erträgen (Vorteilen der Massenproduktion). A. Smith wies auch darauf hin, dass der Außenhandel die Möglichkeit eröffnet, die bei Kuppelproduktion anfallenden Nebenprodukte, für die im Inland kein Bedarf besteht, gegen im Ausland erzeugte und im Inland gewünschte Güter auszutauschen (vent for surplus-Argument). D. Ricardo befürwortete den Freihandel v. a. deshalb, weil durch Getreideimporte der Anstieg der Geldlöhne und damit der Fall der allg.en Profitrate aufgehalten werden kann. Theoretische Argumente gegen einseitigen Zollabbau finden sich nur bei R. Torrens. J. S. Mill öffnete mit seiner auf der reziproken Nachfrage aufgebauten Theorie der internationalen Werte den Weg zur Preisbestimmung über Angebots-Nachfragebeziehungen.
4. Rolle des Staates und Wirtschaftspolitik
Obgleich die Klassiker für größtmögliche individuelle Freiheit in Bezug auf wirtschaftliche Aktivitäten eintraten (A. Smiths „System der natürlichen Freiheit“ [1978: 582]), sahen sie in vielen Bereichen die Notwendigkeit zu staatlichen Eingriffen oder zu öffentlicher Güterbereitstellung, so etwa im Bereich des Bankwesens, des Bildungswesens, der Rechtspflege, des Polizeiwesens, der Landesverteidigung, und bei Infrastrukturprojekten. Zudem habe der Staat die Eigentumsrechte (Eigentum) zu sichern und dafür zu sorgen, dass sich das wirtschaftliche Handeln in einem System von Wettbewerbsmärkten vollzieht. Die Finanzierung der Staatsaufgaben sollte A. Smith zufolge über proportional gleichmäßig verteilte Steuern erfolgen, womit er zugl. auf das Äquivalenz- und das Leistungsfähigkeitsprinzip verwies. D. Ricardo befasste sich v. a. mit Fragen der Steuerinzidenz. Obgleich er zeigte, dass bei rational handelnden, nicht-myopischen Individuen die Finanzierungsart der Staatsausgaben keine Rolle spielt (Ricardianische Äquivalenz), stimmte er der Ansicht von A. Smith zu, dass öffentliche Verschuldung zu einer Verminderung der Kapitalakkumulation führen müsse.
5. Geld und Währung
Die Klassiker vertraten die Quantitätstheorie des Geldes, der zufolge eine Erhöhung der Geldmenge lediglich das Preisniveau erhöht, die relativen Preise aber unverändert lässt und langfristig keine realwirtschaftlichen Effekte hat. Von D. Hume übernahmen sie die Idee, dass es automatisch zu einem Ausgleich der Handelsbilanz kommt, da ein Exportüberschuss (-defizit) zu einem Zustrom (Abfluss) von Gold, einer Erhöhung (Verminderung) des Preisniveaus, und damit zu einer Verschlechterung (Verbesserung) der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führt (Price-specie-flow-Mechanismus). D. Ricardo schlug erstmals eine Goldstandardwährung vor, bei der Banknoten in Goldbarren (statt in Goldmünzen) eingelöst werden können (Ingot-Plan). Er entwickelte auch einen Plan zur Errichtung einer Nationalbank, der in England mit der Peelschen Bankakte von 1844 weitgehend umgesetzt wurde.
6. Makroökonomische Stabilität
Sparen ist für die Klassiker nicht Nachfrageausfall, sondern Verlagerung konsumtiver Verwendung des Einkommens auf die Beschäftigung „produktiver“ Arbeiter anstelle von „unproduktiven“ Dienstboten. Ein allg.er Nachfragemangel kann nicht auftreten, da Geld nur als Tausch-, nicht aber als Wertaufbewahrungsmittel gesehen wird und die Ersparnis annahmegemäß immer den Weg zu produktiver Verwendung findet (Saysches Theorem). T. R. Malthus hielt dieser optimistischen Sicht entgegen, dass es zu generellen Absatzstockungen kommen kann, wenn die durch Kapitalakkumulation bedingte Produktionserhöhung nicht durch vermehrten Konsum seitens der Grundeigentümer kompensiert werde.
7. Auflösung
Die k. N. wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jh. durch die marginalistische oder neoklassische Theorie abgelöst. Zu ihrer Auflösung trugen nicht nur die Mängel der arbeitswerttheoretischen Fassung des surplustheoretischen Ansatzes, sondern auch die Opposition gegen die Fortentwicklung der klassischen Wert- und Verteilungstheorie durch die sog.en Ricardianischen Sozialisten und durch Karl Marx (Marxismus) bei. Einen wichtigen Beitrag zur Rekonstruktion und modernen Reformulierung des preis- und verteilungstheoretischen Ansatzes der k.n N. lieferte Piero Sraffa.
Literatur
G. Deleplace: Ricardo on Money, 2017 • H. D. Kurz/N. Salvadori: The Elgar Companion to David Ricardo, 2015 • D. Ricardo: Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, 2006 • H. D. Kurz/N. Salvadori: The Elgar Companion to Classical Economics, 1998 • T. Aspromourgos: On the Origins of Classical Economics, 1996 • P. Garegnani: Value and Distribution in the Classical Economists and Marx, in: Oxford Economic Papers 36/2 (1984), 291–325 • A. Smith: Der Wohlstand der Nationen, 1978 • M. Dobb: Theories of Value and Distribution since Adam Smith, 1972 • J. Viner: Studies in the Theory of International Trade, 1937.
Empfohlene Zitierweise
C. Gehrke: Klassische Nationalökonomie, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Klassische_National%C3%B6konomie (abgerufen: 22.11.2024)