Elite: Unterschied zwischen den Versionen

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M. Hartmann: Elite, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Elite}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
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M. Hartmann: Elite, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Elite}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 8. Juni 2022, 08:13 Uhr

1. Einleitung

Unter E. (französisch élire = (aus-)wählen) versteht man im allg.en Sprachgebrauch eine durch besondere Merkmale aus der Gesamtbevölkerung herausgehobene Personengruppe. Man verwendet den Begriff sowohl für herausragende Sportler und Wissenschaftler, als auch für Spitzenpolitiker und Topmanager. Als Kriterium dienen besonders gute Leistungen ebenso wie ein besonders großer Einfluss bzw. besonders große Macht. In der sozialwissenschaftlichen E.-Forschung fällt die Definition enger aus. Zur E. zählen ihr zufolge im Wesentlichen nur diejenigen Personen, die (in der Regel qua Amt oder, im Falle der Wirtschaft, auch qua Eigentum) in der Lage sind, durch ihre Entscheidungen gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Die vier zentralen E.n kommen deshalb aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Justiz. Sie haben in dieser Hinsicht den größten Einfluss. Wenn die Vorstände oder Eigentümer großer Konzerne Beschlüsse über Betriebsschließungen oder -verlagerungen treffen, wenn eine Regierung Reformen des Renten- oder Gesundheitssystems beschließt, wenn die hohen Ministerialbeamten Gesetzesvorlagen formulieren oder wenn die Richter an den Bundesgerichten Urteile zum Datenschutz fällen; in all diesen Fällen entscheidet ein kleiner Kreis von Personen über wichtige Aspekte des täglichen Lebens der breiten Bevölkerung. In abgeschwächter Form gilt das auch für jene E.n, die wie die Medien-, die Wissenschafts- oder die militärische E. Entscheidungen treffen, die gesellschaftliche Entwicklungen ebenfalls beeinflussen, aber nicht so stark wie die der vier zentralen E.n.

2. Der klassische Elitebegriff

Der E.-Begriff wurde im 18. Jh. vom aufstrebenden französischen Bürgertum (Bürger, Bürgertum) als demokratischer Kampfbegriff gegen Adel und Klerus entwickelt. Statt der familiären Abstammung, wie zuvor üblich, sollte die individuelle Leistung das entscheidende Kriterium für die Besetzung gesellschaftlicher Spitzenpositionen darstellen. Diese Verwendung des Begriffs erfuhr im 19. Jh. einen grundlegenden Wandel. Der Gegenpol zu E. war nun nicht mehr der Adel, sondern die Masse. Das Bürgertum, damals zutiefst beunruhigt über das Phänomen der mit der Bevölkerungsexplosion und dem Aufkommen der industriellen Arbeiterklasse in Europa entstandenen städtischen Massen, sah die herrschende Ordnung durch revolutionäre Bestrebungen gefährdet. Es definierte E., der es sich selbst zurechnete, deshalb in Abgrenzung zur (aus seiner Sicht) ungebildeten und unkultivierten Masse.

Gaetano Mosca (1896), Robert Michels (1911) und Vilfredo Pareto (1916) formulierten in diesem historischen Kontext ihre klassischen E.-Theorien. Diese enthalten zwei Kernaussagen: Die grundsätzliche Unterteilung der Gesellschaft in E. und Masse und die permanente Zirkulation der E.n. Im Gegensatz von E. und Masse sehen die drei Klassiker ein universell gültiges Prinzip der Menschheitsgeschichte. Ihrer Meinung nach herrscht zu allen Zeiten, d. h. unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe und Regierungsform, eine kleine E. mit unterschiedlichen Mitteln (ganz wesentlich aber mit Gewalt) über die große Masse. Der Grund sei ganz einfach, dass nur die E. die materiellen, intellektuellen und psychologischen Fähigkeiten besitze, die zur Ausübung von Macht und damit zur Herrschaft erforderlich seien. Die Masse sei ihr geistig deutlich unterlegen und zudem völlig von ihren Gefühlen beherrscht, d. h. objektiv wie subjektiv führungsbedürftig.

Die Zirkulation der E.n bildet für die Klassiker ebenfalls ein unveränderliches Grundprinzip. Sie vollziehe sich in der Regel ohne große gesellschaftliche Erschütterungen, weil die herrschende Klasse beständig durch Personen aus den Unterschichten mit den notwendigen Eigenschaften aufgefrischt würde, und gleichzeitig ihre „entartetsten Mitglieder“ durch Abstieg in die Unterschichten verliere. Wenn dieser Kreislauf aber merklich gebremst oder gar gestoppt würde, könnten sich überlegene und gewaltbereite Elemente in den Unterschichten und unterlegene in den Oberschichten ansammeln. In der Folge komme es dann unweigerlich zum Sturz der herrschenden Klasse durch Revolutionen (Revolution).

3. Der funktionalistische Elitebegriff

Da die klassischen E.-Theorien mit dem Begriffspaar E. und Masse eine wichtige ideologische Grundlage für den Faschismus bildeten, war der E.-Begriff nach dem 2. Weltkrieg tief diskreditiert. Diese Tatsache sowie der Ost-West-Konflikt führten dazu, dass der Begriff E. in den folgenden Jahrzehnten überwiegend funktionalistisch definiert wurde. Der Ansatz von den Funktions-E.n basiert auf zwei wesentlichen Grundannahmen. Erstens existiere in modernen Gesellschaften keine einheitliche E. oder gar herrschende Klasse mehr. Es gebe vielmehr nur noch einzelne, miteinander konkurrierende funktionale Teil-E.n in den wichtigen gesellschaftlichen Sektoren (Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Medien, Wissenschaft, Kultur, Militär, Kirche und Justiz). Keine dieser Teil-E.n dominiere dabei. Zweitens erfolge der Zugang zu diesen E.n im Wesentlichen anhand von Leistungskriterien. Er stehe damit prinzipiell jedermann offen. Da die E.n-Rekrutierung nicht mehr auf Herkunft, sondern auf Leistung basiere, seien die E.n sozial auch nicht mehr homogen, sondern heterogen. Dass in der Empirie Angehörige der oberen Schichten in den E.n immer noch überproportional vertreten seien, habe seinen Grund in ihrer stärkeren Repräsentanz an den Gymnasien und Universitäten. Die generelle Bildungsexpansion werde diesen Vorteil im Verlauf der Zeit aber weitgehend beseitigen.

Für die funktionalistischen E.-Theorien besteht das entscheidende Problem deshalb darin, dass die für das Funktionieren der Demokratie zwingend erforderliche Kooperation und Übereinstimmung der verschiedenen, miteinander konkurrierenden Teil-E.n nicht mehr automatisch, durch eine gemeinsame Herkunft oder Klassenzugehörigkeit, sichergestellt seien. Um sie dennoch zu gewährleisten, darin sind sich die meisten Vertreter einig, dürften die E.n auf die Interessen der breiten Bevölkerungsmehrheit nur sehr begrenzt Rücksicht nehmen. Lowell Field/John Higley (1983) sehen in den E.n sogar die einzigen Garanten für die Stabilität der westlichen Demokratien. Dementsprechend stellt für sie ein zu großer Einfluss der Bevölkerung auf wichtige politische Entscheidungen eine erhebliche Gefahr für die Demokratie dar. Er müsse daher möglichst weit reduziert und der Handlungsspielraum der E.n im Gegenzug möglichst stark erweitert werden. Zwar gehen die meisten Repräsentanten der funktionalistischen E.-Theorie nicht ganz so weit, beziehen in zentralen Punkten aber letztlich doch eine vergleichbare Position. Das zeigen zwei der prominentesten Vertreter, Ralf Dahrendorf und Suzanne Keller. R. Dahrendorf bezeichnet den Konsens der etablierten, sozial homogenen E.n, bei dem ihm das britische Establishment als Vorbild vor Augen steht, als sichersten Garanten für demokratische Verhältnisse. Keller sieht in einer zu nachdrücklichen Forderung nach Demokratie, Gleichheit und öffentlicher Verantwortlichkeit der Führer sogar eine der größten Gefahren für die Demokratie. Sie fordert deshalb von den E.n folgerichtig, dass sie ihren E.-Status offensiv anerkennen müssten.

4. Der kritische Elitebegriff

Die funktionalistischen E.-Theorien sind in der Soziologie allerdings nicht unumstritten. Dies gilt schon für die soziologischen Klassiker Charles Wright Mills (1956) und Pierre Bourdieu (1982, 2004), die die prominentesten Vertreter einer kritischen Position darstellen. Sie betonen explizit, dass es auch in der heutigen, parlamentarischen Demokratie (Parlament) keine Vielzahl voneinander unabhängiger und prinzipiell gleichrangiger Teil-E.n gebe, sondern vielmehr eine einzige Macht-E. bzw. herrschende Klasse. Diese weise trotz ihrer internen Differenzierung einen starken inneren Zusammenhalt auf und werde von der besitzenden Klasse bzw. der v. a. mit ökonomischem Kapital ausgestatteten Fraktion der herrschenden Klasse dominiert. Gemeinsame Interessen, ein gemeinsamer Habitus und gemeinsame E.-Bildungseinrichtungen sorgten für ihre Stabilität und Reproduktion. P. Bourdieu und C. W. Mills widersprechen damit grundsätzlich der funktionalistischen Annahme von der qua Leistungsprinzip hergestellten sozialen Offenheit des E.n-Zugangs. Sie unterscheiden sich allerdings deutlich in der Schwerpunktsetzung ihrer Analysen. C. W. Mills geht es in erster Linie um den Nachweis einer aus den E.n von Wirtschaft, Politik und Militär bestehenden Power Elite, die als Machtzentrum der Gesellschaft alle wesentlichen Entscheidungen treffe. P. Bourdieu konzentriert sich dagegen auf die Erforschung der Reproduktion der herrschenden Klasse und der dabei entscheidenden Mechanismen, wie v. a. dem klassenspezifischen Habitus und der E.-Bildungsinstitutionen.

5. Die empirische Eliteforschung heute

Die kritische Position überwiegt in der aktuellen empirischen E.-Forschung, die ihre wesentlichen Annahmen durch konkrete Forschungsergebnisse im Kern bestätigt. Das gilt selbst für Deutschland, das keine expliziten E.-Bildungsstätten kennt. Die soziale Herkunft (v. a. in Form des klassenspezifischen Habitus) hat auch hierzulande entscheidenden Einfluss auf den Zugang zu den E.n. So sind sogar bei Promovierten, die alle herkunftsbedingten Hürden des Bildungssystems überwunden haben, die Chancen auf einen Aufstieg in die Wirtschafts-E. für den Nachwuchs des Bürger und v. a. des Großbürgertums (Bürger, Bürgertum) ganz wesentlich höher als für die Kinder aus den Mittelschichten und der Arbeiterklasse. Dieses Ergebnis stellt eine grundsätzliche Kritik an der zentralen Feststellung der funktionalistischen E.-Theorien dar, der zufolge die E.n prinzipiell jedermann offen stünden und nur die unterschiedlichen Erfolge im Bildungssystem zu einer disproportionalen Vertretung in den E.n führten. Am stärksten trifft die Aussage zwar auf die Wirtschafts-E. als die sozial am stärksten geschlossene Teil-E. zu, in abgeschwächter Form aber auch auf die meisten anderen E.n. Dementsprechend rekrutieren sich die Mitglieder der deutschen Kern-E. zu fast zwei Dritteln aus dem Bürger- und Großbürgertum. Wie vereinheitlichend die soziale Herkunft wirkt, zeigt sich bei den Einstellungen der E.n. Das Elternhaus prägt diese unverkennbar quer durch alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Je exklusiver die Herkunft der E.-Mitglieder ausfällt, desto weiter sind ihre Einstellungen zur sozialen Ungleichheit, zur Finanzkrise und zu Steuern von denen der restlichen Bevölkerung entfernt.

Eine die internationale Debatte über E.n in den letzten Jahren stark prägende Frage ist die nach einer Global Class oder Global Elite Während in den 1990er Jahren Positionen vorherrschten, die diese Frage mit einem mehr oder minder klaren Ja beantworteten, hat sich das Bild seit der Jahrtausendwende aufgrund empirischer Studien deutlich verändert. Es dominieren jetzt die Stimmen, die der Aussage von einer Global Elite eher ablehnend gegenüberstehen. Selbst in der am stärksten internationalisierten Teil-E., der Wirtschafts-E., kann allenfalls in einzelnen Ländern wie Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz von einer spürbaren Internationalisierung die Rede sein. In allen anderen bewegt sich diesbezüglich dagegen nur wenig oder die Internationalisierung ist wie in China und Japan sogar rückläufig. Alles in allem bleiben die Wirtschafts-E.n überwiegend national organisiert, weil nationale Karrieremuster und Bildungswege inkl. der jeweiligen nationalen E.-Bildungseinrichtungen den Aufstieg immer noch entscheidend bestimmen. Diese Aussage trifft auf die E.n der anderen Sektoren sogar in noch weit stärkerem Maße zu, weil hier die Staatsangehörigkeit (Politik, Justiz, Verwaltung und Militär) oder kulturelle Traditionen (Kultur, Medien und Wissenschaft) eine wesentlich größere Rolle spielen.