Konstitutionalismus: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 8. Juni 2022, 08:15 Uhr
Der Begriff K. steht für verschiedene Formen begrenzter politischer Herrschaft (englisch limited government) bzw. für das Streben nach solch einer gemäßigten Regierung und ist eng verbunden mit der bis ins Altertum zurückreichenden Idee der Mischverfassung.
1. Alter und moderner Konstitutionalismus
Bevor die Bezeichnung K. gebräuchlich wurde, gab es schon die Sache selbst, d. h. das Streben nach der Begrenzung der Regierungstätigkeit. Geht der Begriff selbst auf lateinisch constitutio, also auf die kaiserlichen Gesetze im alten Rom zurück, so kannte schon die griechische Antike die Idee einer gemischten Verfassung, die die Kompetenzen verschiedener Gewalten einerseits begrenzte, andererseits aber auch miteinander verschränkte. Eines der wichtigsten Beispiele findet sich in der „Politik“ des Aristoteles, in der er mit dem Begriff der Politie eine Mischung aus Oligarchie und Demokratie beschrieb. Die Politie machte aus zwei schlechten Verfassungen eine gute – zwar nicht die beste, die sich Aristoteles vorstellen konnte, aber zumindest die beste, die unter tatsächlich herrschenden Bedingungen zu verwirklichen sei. Im ersten Jh. v. Chr. hat dann Cicero die ideale Verfassung als Mischung aus den drei von ihm als gut erachteten Verfassungen (Königtum, Optimatenherrschaft und Volksstaat) bezeichnet und dieses Bild, nicht ganz zutreffend und wie schon Polybios vor ihm, auf die römische Konsulatsverfassung bezogen.
Diese und andere Beispiele der griechischen und römischen Ideengeschichte haben eine anhaltende Faszination auf moderne Denker ausgeübt, zunächst v. a. in England und dann, seit dem 18. Jh., auch in Frankreich und in Nordamerika. Die moderne Vorstellung von K. beginnt nicht, wie oft angenommen wird, mit der Aufklärung, schon gar nicht mit den Postulaten der Französischen Revolution. Als die französischen Revolutionäre die Allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und mit ihnen auch das Gebot der Gewaltenteilung verkündeten und behaupteten, sie hätten sie soeben entdeckt, taten sie nichts anderes, als die historischen Freiheiten der Engländer neu zu formulieren. Dort, im neuzeitlichen England, v. a. nach der Glorious Revolution von 1688/89, liegt der Ursprung des modernen K. Seit dem 16. Jh. waren sich englische Verfassungsrechtler und politische Kommentatoren darüber einig, dass die englische Verfassung eine Mischverfassung sei, die eine monarchische, aristokratische (House of Lords) und eine demokratische (House of Commons) Dimension habe. So sahen es auch die beiden wichtigsten Verfassungskommentatoren des 18. Jh.: William Blackstone und Edmund Burke.
Das Besondere am englischen – später britischen – K. ist zum einen, dass er ohne Kodifizierung auskommt. Die Regularien des politischen Systems, die Befugnisse der Gewaltenträger, die Rechte und Freiheiten der Bürger – all das ist zwar in Statuten festgehalten, aber ein zusammenhängendes Verfassungsdokument gibt es nicht. Zum anderen zeichnet sich der britische K. durch seine langanhaltende Kontinuität aus. Die Verfassung ist nicht entworfen worden, sondern das Werk vieler aufeinanderfolgender Generationen. Für britische Kommentatoren war das Verfassungsrecht daher nie eine Frage der Theorie, sondern stets der Praxis.
Demgegenüber hat Charles de Montesquieu die englische Verfassung in seinem Hauptwerk „De l’esprit des lois“ von 1748 als Ausgangspunkt für den theoretischen Entwurf einer aus seiner Sicht idealen Verfassung benutzt. Er wies damit den Weg, eine Mischverfassung durch ein geschriebenes Dokument zu etablieren. Der erste und bedeutendste Versuch dazu wurde nach dem Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs unternommen – zunächst im Kleinen in einzelnen Bundestaaten und schließlich im Jahr 1787 mit der Verfassung der USA auch im Großen.
Der Unabhängigkeitskrieg war eine authentische Revolution. Ausgehend von der politischen Philosophie Thomas Hobbes’ und v. a. John Lockes, glaubten die Gründerväter einem novus ordo seclorum zum Durchbruch zu verhelfen, in dem eine gute politische Ordnung auf natürlichen Rechten beruhen sollte. Das Ziel der Verfassung lag deshalb nicht mehr darin, die Macht eines Monarchen zu begrenzen, sondern eine Art gemäßigte Volksherrschaft zu ermöglichen. Während E. Burke die britische Verfassung noch als „mixed Government […] composed of Monarchy, and of controls, on the part of the higher people and the lower“ (Burke 1981: 277) bezeichnet hat, ging es einigen der amerikanischen Gründerväter darum, durch eine starke Exekutive und das Repräsentativsystem den Willen des Volkes zu begrenzen. In der englischsprachigen Welt wird der moderne K. deshalb als ein Mittel angesehen, Demokratie (Gleichheit) und Liberalismus (Freiheit) in Einklang zu bringen. Es ist auf den Misserfolg der Französischen Revolution zurückzuführen, dass sich der K. auf dem europäischen Kontinent in Theorie und Praxis anders entwickelt hat als in Großbritannien, den USA und anderen Ländern der „Anglosphäre“.
2. Konstitutionalismus seit dem 19. Jahrhundert
Nach dem Sieg der Allianz von Chaumont über Napoleon versuchten die Architekten des französischen Restaurationsregimes, einen Kompromiss zwischen den politisch-sozialen Ergebnissen der Französischen Revolution und dem Ancien Régime zu schaffen. Dieses Bemühen mündete in die Charte constitutionelle von 1814, die von Ludwig XVIII. oktroyiert wurde. Obwohl sie den König durch ein Zweikammerparlament einhegte und fundamentale Rechte und Freiheiten garantierte, machte sie die Krone zum Machtzentrum des Staates. Der König hatte nicht nur die Exekutive inne, sondern durch sein Veto auch Anteil an der Legislative. Das ist nicht als Nachahmung des britischen Beispiels zu verstehen. Denn in Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt das Prinzip der Parlamentssouveränität bereits weitgehend durchgesetzt. Die Charte reagierte vielmehr auf Umwälzungen, mit denen Frankreich seit 1789 zu kämpfen hatte. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass sie in der Zeit des Vormärz erheblichen Einfluss auf die Verfassungsvorstellungen deutscher Konservativer hatte.
Die in der Bundesakte von 1815 formulierte Forderung nach „landständischen Verfassungen“ in allen deutschen Staaten lehnte sich insofern an die Charte an, als auch die deutschen Verfassungen von den Fürsten oktroyiert werden sollten. Dem Monarchischen Prinzip entspr., konnte der Fürst den Ständen Mitwirkungsrechte zugestehen, blieb aber selbst im vollen Besitz der Staatsgewalt. Wenngleich die Anhänger einer echten Repräsentativverfassung, d. h. Liberale verschiedener Schattierungen, im Vormärz an Boden gewannen, scheiterte ihr Versuch, in Deutschland einen echten, an Großbritannien oder der revidierten Charte von 1830 orientierten K. zu etablieren, in der Revolution von 1848/49. Die auf die urspr.e Charte zurückgehende Vorstellung von K. setzte sich deshalb in Deutschland durch – so sehr, dass sie in der Forschung oft als „deutscher K.“ bezeichnet wird, der als eine eigenständige Verfassungsform zwischen dem monarchischen Absolutismus und dem parlamentarischen System (Parlament) zu verstehen sei. Das jedoch greift zu kurz, da ähnliche Übergangsphänomene auf dem Weg zur parlamentarischen Monarchie oder zur Republik nicht nur im Frankreich der Restauration, sondern auch in anderen kontinentaleuropäischen Staaten zu beobachten sind. Wenn es sich beim „monarchischen K.“ tatsächlich um etwas Eigenständiges handeln sollte, wäre es zutreffender, von einem „europäischem Verfassungstyp“ (Kirsch 1999) zu sprechen.
Spuren dieses K. lassen sich nicht nur in der WRV mit ihrem starken Reichspräsidenten wiederfinden, sondern auch in anderen europäischen Verfassungen; man denke etwa an die Machtfülle des Präsidenten der Fünften Französischen Republik, die nach Charles de Gaulles Willen einem „régime exclusif des partis“ vorbeugen soll, mitunter aber schlicht antiparlamentarische Züge annehmen kann. Mit Blick auf die Gegenwart lässt sich deshalb sagen, dass Frankreich viel stärker vom Typus des „monarchischen“, oder besser: bonapartistischen, K. geprägt ist als Deutschland. In der BRD wurde das alte kontinentaleuropäische Verständnis von K. mit dem GG überwunden. Der Charakter des GG und der Stellenwert, den es hat, erinnern mehr an das amerikanische Verständnis von K. als an ältere deutsche Traditionen. Während Frankreich trotz der Verwurzelung des Republikgedankens immer nur ein funktionalistisches Verhältnis zu seinen Verfassungen gefunden hat, wird das deutsche GG von Politik, Rechtsprechung und Medien als Teil der nationalen Identität behandelt, was sich etwa in Dolf Sternbergers Idee des „Verfassungspatriotismus“ ausdrückt. Das GG gilt im heutigen Deutschland als unverzichtbarer Garant des limited government.
Literatur
W. Berns: Ancients and Moderns. The Emergence of Modern Constitutionalism, in: ders., Democracy and the Constitution, 2006, 4–16 • A. Riklin: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2006 • K. Loewenstein: Verfassungslehre, 42000 • M. Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp. Frankreich im Vergleich, 1999 • H. C. Mansfield, Jr.: Taming the Prince. The Ambivalence of Modern Executive Power, 1993 • E.-W. Böckenförde: Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie, in: ders. (Hg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 21981, 146–170 • E. Burke: Thoughts on the Cause of the Present Discontents (1770), in: ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. II, 1981, 241–323 • H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975 • C. C. Weston: English Constitutional Theory and the House of Lords 1556–1832, 1965 • C. H. McIlwain: Constitutionalism, Ancient and Modern, 1958.
Empfohlene Zitierweise
M. Oppermann: Konstitutionalismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Konstitutionalismus (abgerufen: 05.12.2024)