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Aktuelle Version vom 14. November 2022, 05:54 Uhr
Unter dem Begriff E. als ethisch-juristisches Institut versteht man die öffentliche Anrufung eines transzendenten Gottes als Zeuge des gesprochenen Wortes:
a) als assertorischer E., wenn dieser sich auf die Darstellung in Vergangenheit stattgefundener Ereignisse beizieht;
b) als promissorischer E., wenn er die Verpflichtung impliziert, ein bestimmtes Verhalten in Zukunft zeigen oder eine Handlung zu vollziehen.
Im Zusammenfließen der griechisch-römischen Tradition mit der jüdisch-christlichen können die Muster erkannt werden, welche das Panorama des E.es als juristisches Institut bis in die heutigen Tage bestimmen. Bereits in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit hängt der wechselhafte Verlauf der Phasen der Verfolgung und der Toleranz von der unterschiedlichen Interpretation der sakralen Konzeption der Macht ab: In Rom überwiegen die guten Sitten (fides) über den götzenhaften Kult der Macht. Nach Überwindung der unmittelbaren Erwartung der parusía, der Wiederkunft Christi, wird das Problem der E.-Leistung oder -Verweigerung zentral, weil es die Teilnahme der Christen an der Ausübung der Macht, am Eintritt in die Armee und am Zutritt zu den Ämtern betrifft.
Im Konstantinischen Zeitalter haben wir den Beginn der großen Teilung der östlichen und der westlichen Christenheit. Im Orient verlangt die Errichtung des christlichen Kaisertums mit der Christianisierung des E.es die Eingliederung der Untertanen bzw. Gläubigen in ein unitarisches Normenuniversum, bei dem die Grundsätze des Glaubens und des moralischen Verhaltens zu göttlich-humanem Recht transformiert werden. Es wird ein sakrales, politisches und juridisches Monopol verwirklicht, welches sein Haupt in der Figur des Kaisers hat. Häretisch ist derjenige, der nicht schwören will oder kann, der nicht Teil dieses Kirchen-Staatskörpers ist: Deshalb entsteht dieser „politische E.“ als spezifischer Ausdruck in Byzanz.
Anders im Okzident (Abendland), wo der E. im Wesentlichen außerhalb der Kirche verbleibt: Er wird von ihr geduldet, insb. als manchmal notwendiges und unvermeidliches Institut der Zivilgesellschaft aufgrund der Sünde und der menschlichen Gebrechlichkeit, oder zur Anwendung in öffentlichen Streitigkeiten, in iudicio, nach der Vorgabe des Apostels Paulus. Die Kirche verlangt zwar das Urteilsrecht über die Zulässigkeit des E.es, allerdings als eine ihr externe Handlung und verbietet ihn innerhalb der Kirche ihren Klerikern (Klerus). Mit dem Aufkommen der römisch-barbarischen Reiche entwickelt sich der E. zum sacramentum iuris, ein Mysterium, in dem sich das Metajuridische im Juridischen inkarniert. Er wird zur Grundlage eines menschlichen Vertrages (Vertrag), welcher gerade deshalb außerhalb der Kirche steht, obwohl diese sich das letzte Urteil darüber vorbehält und ihn gewissermaßen verwaltet.
Die Praxis des E.es erlaubt nicht nur das Aufkommen neuer Souveränitäten von unten (durch Kollektiv-E., coniurationes, können selbständige Gemeinden entstehen; man denke an den Bürger-E.), er ist auch grundlegend für die Entstehung und Entwicklung der internationalen Beziehungen mit dem Gottesfrieden oder dem Landfrieden. Der Beginn des modernen Konstitutionalismus kann im E. der Magna Charta von 1215 als Beschränkung der Regierungsmacht gesehen werden. In dieser Zeit ist es der E., der dazu beiträgt, dass sich auch das moderne Verfahrensrecht, mit dem Entstehen der Schwurgerichte und der langsamen und stufenweisen Abtrennung des forum ecclesiae vom forum saeculare, entwickelt.
Der E. ist auf diese Weise selbst Grundlage politischer Pakte (z. B. Herrschaftsverträge [ Vertragstheorien ], E.-Genossenschaften oder auch kommunale E.e) geworden, welche im Laufe der Jahrhunderte das Heranwachsen des liberalen und demokratischen Rechtsstaates erlaubt hat und im Rahmen der Geschichte der Zivilisation die einzigartige Erfahrung der westlichen Welt darstellt: ein dynamisches Gleichgewicht zwischen der sakralen Verankerung des E.es und der Säkularisierung politischer Pakte, Ergebnis des Dualismus zwischen spiritueller und politischer Macht, gereift im Rahmen des westlichen Christentums. Es ist dieses Gleichgewicht, welches erlaubt hat, die kollektiven Identitäten des Vaterlandes und der Nation aufzubauen und sie dabei mit der Entwicklung der Menschenrechte zu vereinbaren.
Mit den politischen Religionen und den totalitären Regimen (Totalitarismus) des 20. Jh. erfährt der E., durch den Verlust der transzendenten Verankerung, eine Pervertierung und im Faschismus und Nationalsozialismus seine Umwandlung in bedingungslose Unterordnung in Form von Gefolgschaft gegenüber dem Führer. Dort sieht man eine Tendenz, die Politik zu sakralisieren und dabei diesen Dualismus zwischen der Sphäre des Politischen und der des Sakralen, welche die Grundlage unseres kollektiven Lebens darstellt, aus dem Blick zu verlieren (diese Tendenz ist auch den aktuellen fundamentalistischen Bewegungen jeder Couleur nicht fremd [ Fundamentalismus ]).
Im aktuellen Globalisierungsprozess (Globalisierung) ist der E., obwohl er in einigen feierlichen Ereignissen überlebt (denken wir an den E. des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nach seiner Wahl) – Schritt für Schritt – aus den Gerichten sowie aus der Politik herausgedrängt worden.
Bis in unsere Jahre haben wir vom Nachlass eines zwar säkularisierten E.es gelebt, der jedoch seine sakralen Wurzeln behielt. Nun scheinen diese Wurzeln fast vollständig verschwunden zu sein: In vielen Ländern haben kürzlich ergangene Urteile der Obersten Gerichte auch seine letzten in den ZPO und StPO verbleibenden Spuren beseitigt. Ohne den E., der die unterschiedlichen Ebenen verbindet – die des positiven Rechts (Rechtspositivismus) und des Vertrages und die Ebene, die wir einfach meta-juridisch nennen könnten, oder, wenn wir auf Lykurg zurückgreifen wollen, der pístis –, ist die politische Gemeinschaft westlicher Art verurteilt, eine Krise zu erfahren, und selbst das positive Recht wird den Spannungen, die bereits am Horizont zu erkennen sind, nicht standhalten können.
Die aktuelle Krise des E.es betrifft somit die drei Wurzeln des gegenwärtigen Rechtsstaates, welche nicht allein im Nicht-Funktionieren der Regeln, insb. der Verfassungsnormen und derer der Governance, gesehen werden dürfen. Die Selbstbezogenheit des positiven Rechts, von seiner ethischen Verankerung gelöst, hat zur Illusion geführt, jedes Problem und jeden Konflikt mittels der staatlichen Norm lösen zu können, welche – ohne die Handlungsverpflichtung des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit) der Einzelnen, eine Erstarrung der Gesellschaft – in einen Normenkäfig aus immer feingliedrigeren Maschen führt. Ist das Überleben unseres Systems ohne jenen Dualismus aus Normen und Ordnungen (die Sphäre des Rechts und die der Ethik), welche seine Genese gekennzeichnet hat, möglich? Steht die Gesellschaft vielleicht nicht vor dem Ende des Rechtsstaates, vor dem Suizid des Rechts selbst in dem Maße, in dem die positiven Normen versuchen, jeden Bereich des gemeinschaftlichen und des privaten Lebens zu bestimmen und zu regeln? Zu erinnern ist etwa an die gegenwärtigen Probleme des gemeinschaftlichen Lebens: Das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer in der Schule, zwischen Arzt und Patient in Gesundheitswesen (ist der hippokratische Eid noch gültig?) usw. Solche Probleme führen unweigerlich zu einer Zunahme der gerichtlichen Streitigkeiten. Dabei sind die von der aktuellen globalen Zivilisation aufgeworfenen Probleme noch nicht betrachtet worden: Von den großen Finanzkapitalen, die jeder Kontrolle entzogen sind, über den Ressourcenmangel und die neuen Technologien, welche in die Privatsphäre eindringen, bis hin zu den Themen der Umwelt. Die Durchdringung jedes menschlichen Lebensbereiches durch die Gesetzgebung und durch die positive Rechtsprechung wird zunehmend als ein Zeichen der Schwäche anstatt des Fortschritts empfunden, das uns vor einer Gefährdung der tragenden Strukturen unserer demokratischen und liberalen Gesellschaft warnt. Mit dem Untergang des E.es verlässt die Gesellschaft die Tradition politischer Pakte wie sie vom Okzident entwickelt wurde; mit dem Untergang des „Sakramentes der Herrschaft“ betreten wir einen Bereich großer Ungewissheit.
Literatur
P. Prodi (Hg.): Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, 1993 • P. Prodi: Das Sakrament der Herrschaft. Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte, 1992.
Empfohlene Zitierweise
P. Prodi: Eid, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Eid (abgerufen: 24.11.2024)