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Version vom 14. November 2022, 05:58 Uhr
I. Religionswissenschaftliche Perspektive
Abschnitt druckenFür Religionswissenschaft (und Ethnologie) ist M. ein „kultureller Leistungswert“ (Assmann/Assmann 1998: 180), eine Erzählung mit einer legitimierenden oder deutenden Funktion der Welt. Die legitimierenden Mythen (Legitimation) sichern nach Bronisław Malinowski Bestand und Verfassung einer Gesellschaftsordnung durch Rückführung auf einen obersten und unumstrittenen, d. h. heiligen Wert. Bei den deutenden Mythen geht es um Themen der Daseinsbestimmung. Sie beantworten keine Fragen, sondern kommen allen Fragen zuvor durch die „in den kollektiv als gültig und verbindlich anerkannten Gestaltungen anthropologischer Grundfragen“ (Assmann/Assmann 1998: 186). Sie können in kosmogonische Mythen und Schöpfungsmythen, Naturmythen, Kulturmythen und schließlich Existentialmythen klassifiziert werden. Zu den mythischen Ausdrucksformen gehören Narrativität, Topik, Ikonizität, Oralität und Literalität. Zum mythischen Denken, das nicht durch logische Erklärungssätze, sondern durch symbolischen Sinn geprägt ist, gehören u. a. Animation, Homologie, Wiederholung von Grundmustern, Polarisierung und Temporalisierung, Ambivalenz und Totalisierung.
Angesichts der Mannigfaltigkeit des M. in einzelnen Kulturen und Religionen gibt es „den M.“ lediglich in der (religions-)wissenschaftlichen Metasprache. Als M. ist in der Religionswissenschaft auch zu bezeichnen, „was grundlegende religiöse Orientierungsprozesse auslöst, also die typisch menschlichen Irritationen durch die Erfahrung von Kontingenz, von Chaos und Vieldeutigkeit auffängt, mit Sinn besetzt und der Kommunikation erschließt“ (Stolz 1994: 613). Durch die darin vorkommende Vereinigung von kognitiven und emotionalen Aspekten hat der M. einen zentralen Stellenwert für die Religion. Die Religionsgeschichte bietet eine Vielfalt „mythischer Landschaften“ mit spezifischen Problemen, je nachdem, ob es sich um Mythen im Bereich schriftloser Kulturen, in Indien, China, Japan, in antiken Hochkulturen (Ägypten, Mesopotamien, Griechenland, Rom) oder im Bereich monotheistischer Orientierungen (Israel, Urchristentum, Gnosis, Islam) handelt. Bei der missionierenden Begegnung des Christentums (Mission) mit anderen Religionen führte die Unkenntnis der Funktion mythischer Erzählung zu einer „Dämonisierung“ fremder Religiosität bzw. zu einer Betrachtung derselben als „Krankheit“, die es auszumerzen galt.
Das rationalistische Erklärungsschema von Aufklärung und Positivismus sah im M. eine vorwissenschaftliche Erklärung der physischen Welt. In der Mythenkritik und -hermeneutik hat Peter Ludwig Berger drei Reaktionstypen auf den M. unterschieden: Abwehr des M. bei gleichzeitiger Wiedergewinnung des mythischen Überlieferungsguts (deduktive Reaktion), Reduzierung des M. auf die Kompatibilität mit dem neuen wissenschaftlichen Weltbild (reduktive Reaktion), fortschreibende Neuinterpretation des M. im Rahmen der neuen geistigen Gegebenheiten (induktive Reaktion). Durch die Aufklärungskritik hat die Religion ihre „mythische“ Funktion als Orientierungsvermittlung weitgehend verloren. Ihr Nutzen wird eher auf die Beförderung einer vernünftigen Moral reduziert. Das damit entstandene Orientierungsdefizit führte zur Entstehung von verschiedenen politischen bzw. ideologischen Metaerzählungen, die „zumindest teilweise als Funktionsäquivalente von Mythen zu werten sind“ (Stolz 1994: 623). Die gleichsam mythischen Narrative und die religioiden Elemente politischer Religionen sollten auch von der Religionswissenschaft analysiert werden.
In der ersten Hälfte des 20. Jh. etablierte sich u. a. dank B. Malinowski und Mircea Eliade „eine kulturgeschichtlich und ethnographisch verankerte Mythenforschung“ (Assmann/Assmann 1998: 184), die den M. nicht nur auf primitive Gesellschaften beschränkte, sondern als allgemeingeschichtliches Phänomen erklärte. Seit den 1970er Jahren ist eine Konjunktur der M.-Forschung mit einer philosophischen und einer soziologischen Linie zu beobachten, die den M. als konstitutives Element der eigenen Kultur sichtbar zu machen versucht (Rückkehr zum M., Mythen des Alltags).
Literatur
RGG, Bd. 5, 42002 • A. Grünschloß: Mythos/Mythologie. V. Missionswissenschaftlich, in: ebd., 1702–1704 • R. A. Segal: Mythos/Mythologie. I. Religionswissenschaftlich, in: ebd., 1682–1687 • H. Bürkle: Mythos, Mythologie, in: LThK, Bd. 7, 2000, 597–600 • R. A. Segal: Theorizing about Myth, 1999 • A. Assmann/J. Assmann: Mythos, in: HRWG, Bd. 4, 1998, 179–200 • K. Gabriel: Mythos, in: StL, Bd. 3, 71995, 1256–1259 • F. Stolz: Mythos. II. Religionsgeschichtlich, in: TRE, Bd. 23, 1994, 608–625 • P. L. Berger: Der Zwang zur Häresie, 1992 • I. Strenski (Hg.): Malinowski and the Work of Myth, 1992 • M. Eliade: Mythos und Wirklichkeit, 1988 • K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, 1985 • A. Horstmann: Mythos, in: HWPh, Bd. 6, 1984, 283–318 • K. Galling (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, 31960 • J. Haekel: Mythos, in: ebd., 1268–1274 • H. Meyer: Mythos, in: ebd., 1282–1284.
Empfohlene Zitierweise
M. Delgado: Mythos, I. Religionswissenschaftliche Perspektive, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Mythos (abgerufen: 24.11.2024)
II. Soziologische Perspektive
Abschnitt druckenMythen (M.en) sind von hoher symbolischer Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben. Sie verkörpern und legitimieren zentrale Glaubens- und Wertvorstellungen. Unabhängig von ihrem faktischen Wahrheitsgehalt stoßen M.en zu allen Zeiten auf gesellschaftliche Nachfrage, weil sie Weltsichten vermitteln und den Menschen dabei helfen, mit den Kontingenzen des Lebens fertig zu werden. Der M. kann somit als grundlegende Struktur menschlichen Denkens in allen Gesellschaften aufgefasst werden.
1. Gesellschaftliche Funktionen
Dem M. kommt eine Ordnungs- und Vergewisserungsfunktion zu, er vermittelt kulturelle Selbstverständlichkeiten und gesellschaftliche Orientierung. Unter diesem Aspekt unterstreicht Hans Blumenberg die sinnstiftenden und entlastenden Leistungen des M. So festigen M.en gesellschaftliche Ordnungen und Identitäten, sie legitimieren scheinbar notwendige gesellschaftliche Institutionen, Rituale und Praktiken. Ursprungs-M.en können die Herrschaftsinteressen von Eliten oder ganzen Völkern rechtfertigen, Geschichts-M.en dienen der Ableitung von Identitäten und Zugehörigkeiten, kosmogonische und kosmologische M.en erzählen von der Entstehung der Welt und „erklären“ ihren Aufbau und ihren Lauf. Gegenstand des M. können auch einzelne Personen und ihr Schicksal sein. Die Taten, Ideen oder Tugenden dieser Personen werden dabei aus ihrem unmittelbaren zeitgebundenen Kontext herausgelöst. Alltags-M.en (z. B. Fortschritts- oder Leistungs-M.en) sichern die Motivation der Gesellschaftsmitglieder und den Fortbestand tradierter Wertvorstellungen, ebenso die damit verbundenen Herrschaftsinteressen. Im Gegenzug besteht Gesellschaftskritik immer auch in der Infragestellung überkommener M. Eine solche Entmythologisierung kann z. B. durch die Wissenschaft oder einen sich emanzipierenden Alltagsverstand hervorgebracht werden.
2. Entstehungskontexte und Veränderungsweisen
V. a. in archaischen, schriftlosen Gesellschaften erfüllt der M. eine Schlüsselrolle beim Aufbau, der Legitimierung (Legitimation) und Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung und Autorität. Wie Claude Lévi-Strauss herausgearbeitet hat, erfolgt die kulturvermittelnde Wirkung der M.en über die Gegenüberstellung von „binären Oppositionen“ (Oppitz 1993: 291 f.; wie z. B. „das Rohe“ v „das Gekochte“). Über solche Gegensätze erlernen die Gesellschaftsmitglieder die kulturellen Codes und Klassifikationen. Die Verbreitung und Kontrolle der M.en obliegt größtenteils einer Elite von religiösen und politischen Autoritäten.
Jede Form gesellschaftlicher Differenzierung bringt auch eine potenzielle Ausweitung der M.en-Produktion mit sich. Dies geschieht v. a. über die Erweiterung des Wissens der Gesellschaftsmitglieder. Im Verlaufe der Geschichte legitimieren sich neue soziale Stände, soziale Bewegungen und Milieus durch die Infragestellung oder Neufassung von M.en. Einen wichtigen Entstehungs- und Veränderungskontext von M.en bildet seit dem 20. Jh. die medial vermittelte Populärkultur. Hier sind es weniger kollektiv erinnerte Erzählungen, sondern die um Aufmerksamkeit buhlenden Angebote der Werbe- und Unterhaltungsindustrie, welche die „Mythen des Alltags“ (Barthes 2003) ausmachen. Die gegenwärtige Ausweitung der Medienproduktion geht mit einer steigenden Anzahl von M.en-Produzenten einher. Deren Kampf um Aufmerksamkeit bringt eine Inflation des M.-Begriffs mit sich und verstärkt das Wechselspiel von Mythifizierung und Entmythifizierung. Von diesem Mechanismus können reale oder fiktive Personen („Stars“ oder „Promis“), Alltagsgegenstände („M. Coca Cola“), Alltagsweisheiten, Ereignisse und Events („M. Nürburgring“) betroffen sein.
Literatur
R. A. Segal: Mythos, 2007 • R. Barthes: Mythen des Alltags, 2003 • M. Oppitz: Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthroplogie, 1993 • M. Eliade: Mythos und Wirklichkeit, 1988 • H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, 1979 • C. Lévi-Strauss: Mythologica, Bd. 1, 1971.
Empfohlene Zitierweise
M. Hero: Mythos, II. Soziologische Perspektive, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Mythos (abgerufen: 24.11.2024)
III. Politische Bedeutung
Abschnitt druckenDie Politikwissenschaft interessiert sich für den M. als eine symbolische Form mit einem kollektiven, auf das grundlegende Ordnungsproblem sozialer Verbände bezogenen Wirkungspotential. Politische Mythen (M.en) sind in nahezu allen Gesellschaften vorfindbar, von einfachen Stammesformationen bis zur modernen Industriegesellschaft, von der gegenwärtigen Dikatur bis zur athenischen Demokratie, in deren Theatern der M. zugl. auch eine reflexive Dimension bekam. Ein politischer M. ist eine symbolisch verdichtete Erzählung, die ihre Figuren und Ereignisse teilweise aus der reinen Fiktion bezieht (wie etwa bei den Nibelungen), teilweise aus dem Bezug auf historische Gegebenheiten. Diese bekommen durch die mythische Überformung jedoch eine überhistorische Geltung verliehen, die dann immer wieder einlädt zu Anwendungen auf je aktuelle politische Situationen. So griffen die französischen Revolutionäre (Französische Revolution) auf die Geschichte des antiken Rom zurück; das neugegründete Deutsche Kaiserreich berief sich, sinnlich fassbar geworden im 1875 eingeweihten Detmolder Hermannsdenkmal, auf Arminius und die Varusschlacht um 9 n. Chr.; gegenwärtige US-Präsidenten beschwören die Tatkraft des mythischen Gründungsvaters George Washington als Vorbild aktueller Politik.
1. Formen
Formal ist der M. beschreibbar als ein komplexes, narrativ entfaltetes Zeichen, das eine materialisierte Ausdrucksdimension und eine komplexe Inhaltsdimension aufweist. Der Ausdruck kann bestehen aus Lauten und Buchstaben, aus sprachlichen Texten oder Bildern, aus architektonischen Gebilden oder auch aus audiovisuellen Formen unterschiedlicher Gestalt. Entscheidend ist jeweils, welche Bedeutungen dem Ganzen zugeschrieben werden. Die Inhaltsdimension besteht wie bei einem einfachen Symbol aus einer Bild- und einer Deutungsebene. Betrachtet man bspw. das Hermannsdenkmal, so besteht es aus einer großen metallenen Skulptur, platziert auf einem gemauerten Unterbau (Ausdrucksebene). Die Bildebene des Denkmals besteht aus der bekannten Erzählung vom siegreichen Aufstand des Cheruskerführers Arminius gegen die römischen Besatzer. Die Deutungsebene aber besteht aus historischen Interpretationen, hier etwa: das neue Kaiserreich steht in später Nachfolge des damaligen Sieges, die Römer von damals sind die (gerade besiegten) Franzosen von heute, Kaiser Wilhelm I. ist zu verstehen als legitimer Erbe des „Hermann“. Die Bedeutung des M. wird aus sich verändernden gesellschaftlichen Konstellationen heraus jeweils neu bestimmt. Die symbolische Form ist grundsätzlich deutungsoffen, auch wenn die Herrschenden meist versuchen, die Dynamik der Deutung und damit die „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg 1979) auf eine je gewünschte Variante hin einzufrieren, ggf. durch die Ausübung von Zensur und Zwang. Grundsätzlich können M.en stets auch umgedeutet und damit politisch neu ausgerichtet werden.
Die mediale Form politischer M.en ist sehr vielfältig. Sie beginnt bei (fiktionalen und nichtfiktionalen) Texten (vom Zeitungskommentar bis zur fünfbändigen Geschichtsabhandlung, vom kurzen Gedicht über Dramen bis zu tausendseitigen Romanen) und reicht über die bildende Kunst (Gemälde, Fotografie, Skulptur) sowie die Architektur (Denkmäler) bis zu heutigen Medienformaten wie Kinofilm, Fernsehserie und Internetportal. Auch performative Medien wie Fest und Feier sowie die dabei stattfindende rituelle Aufführung kollektiver Choreografien zählen zur gängigen Erscheinungsform politischer M.en. Für alle medialen Formate gilt, dass die ästhetische Gestaltung ein zentraler Garant für ihre Wirksamkeit ist: „Forms are the food of faith“ (Gehlen 1975: 24), die Ästhetik verleiht dem M. seine Überzeugungskraft für das große Publikum. Daher bedarf der M. der rhetorischen Finesse, der eindrucksvollen Bildsprache oder der monumentalen architektonischen Form, um wirken zu können.
2. Funktionen
M.en sind „die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens“ (Münkler 2009: 15). Ihre wichtigste Funktion besteht darin, dieses Gemeinwesen bzw. Teile desselben (Akteure, Institutionen, Programme) aus der für den Menschen schwer erträglichen historischen Kontingenz und Ungewissheit zu lösen, indem Sinn konstruiert und zugeschrieben wird. Der politische M. beantwortet vielfältige Fragen nach dem „Warum“: Warum gerade diese politische Ordnung herrscht, warum gerade diese Parteien oder Personen an der Macht sind und warum gerade ich mein Leben in einer revolutionären Erhebung oder kriegerischen Auseinandersetzung opfern soll. Indem er Sinn anbietet, legitimiert der M. politische Gegebenheiten oder Projekte (Legitimation). Indem dieser Sinn aus der Konkretion historischer Ereignisse herausgelöst und in eine quasi sakrale Sphäre der sozialen Welt gehoben wird, gewinnt das Sinnangebot zusätzlich an Verbindlichkeit. So ist die jeweilige Nation nicht zufälliges Resultat menschlicher Strategien und Handlungen, sondern eine „heilige“ Größe, an der zu zweifeln den Tatbestand des Sakrilegs erfüllt. So konnte und so kann z. T. noch immer der politische M. Massen bewegen zu Taten, die sie möglicherweise gar nicht begehen wollen. Die Sinnkonstruktion wird jeweils möglich, weil gleichzeitig eine radikale Komplexitätsreduktion der Realität geleistet wird: Die Dinge erscheinen im M. deutlich einfacher in Gut und Böse, Sieg und Niederlage, Freund und Feind gegliedert als im üblichen Grau in Grau der Realität.
Bei all dem ist der M. ein zentraler kollektiver Identitätsstifter für Gesellschaften (Identität). Er erzählt uns, wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir streben sollen. Er erzählt zugl., wer wir nicht sind, wen wir also als „die Anderen“ zu betrachten haben, i. d. R. mit deutlichen Bewertungen verbunden. Die Anderen, das sind die Bösen, die Feinde, die „Untermenschen“, die „Kulaken“, die „Welschen“ oder die „Krauts“; in jedem Fall diejenigen, die weniger Wert sind und weniger Rechte haben als die Zugehörigen zum „Wir“, zur je eigenen Gemeinschaft. Wo das Politische tatsächlich in eine Freund-Feind-Konstellation einmündet, sind i. d. R. auch politische M.en mit im Spiel.
Der M. vereinfacht also die Realität, er konstruiert sinnhaft erfahrbare politische Gemeinschaften, er definiert Zugehörigkeiten sowie Ausgrenzungen und er vermag zu politischem Handeln zu mobilisieren. Er stellt dem Gemeinwesen symbolische Ressourcen zur Verfügung und kann sie auf Dauer stabilisieren. Er kann jedoch auch delegitimieren und gegebene symbolische Ordnungen zerstören, um eine darauf folgende Zerstörung institutioneller Ordnungen zu begünstigen. So wurden bspw. die tradierten politischen M.en der Deutschen, von den Nibelungen bis zu Hermann, vom Kaiser Barbarossa bis zu Martin Luther und Friedrich dem Großen in zahlreichen Varianten dazu eingesetzt, die Legitimität der Weimarer Republik, ihrer Institutionen und Repräsentanten zu destruieren – so, wie auch der M. der tugendreichen römischen Republik in Frankreich gegen die moralische Verkommenheit des Ancien Régime ins Feld geführt wurde.
Während heute viele – demokratische und undemokratische – Gesellschaften weiter ihre tradierten politischen M.en pflegen, scheint die Zeit der großen Erzählungen in Deutschland endgültig vorbei zu sein. Zwar gibt es noch immer den Blick auf das „Wirtschaftswunder“ oder die „Trümmerfrauen“ als mythische Versatzstücke. Eine sinnstiftende Großerzählung vergleichbar denen des Deutschen Kaiserreichs ist gleichwohl nicht in Sicht. Das Charisma der alten Symbole, und das ist geschichtlich tatsächlich ein „deutscher Sonderweg“, scheint umgewandelt in das Stigma eines deutschen Volkes, das sich schuldig bekennt in der Geschichte, indem es in seiner Hauptstadt Monumente zur Erinnerung an die eigenen Gräueltaten errichtet. Aus diesem Bekenntnis zur Schuld sucht die mythisierende Sinnkonstruktion hierzulande die nach 1945 entstandene neue, demokratisch und rechtsstaatlich zivilisierte Ordnung zu legitimieren.
Literatur
H. Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, 2009 • C. Schmitt: Des Begriff des Politischen, 2009 • C. Bottici: A Philosophy of Political Myth, 2007 • C. Flood: Political Myth, 1996 • A. Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik, 1995 • J. Link/W. Wülfing: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1991 • H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, 1979 • G. L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen, 1976 • A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, 31975 • H. Tudor: Political Myth, 1972 • E. Cassirer: Vom Mythus des Staates, 1947.
Empfohlene Zitierweise
A. Dörner: Mythos, III. Politische Bedeutung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Mythos (abgerufen: 24.11.2024)