Kommunismus: Unterschied zwischen den Versionen
K (Kommunismus) |
K (Kommunismus) |
||
Zeile 5: | Zeile 5: | ||
<h2 class ="headline-w-margin">1. Theorien des Kommunismus</h2> | <h2 class ="headline-w-margin">1. Theorien des Kommunismus</h2> | ||
<p> | <p> | ||
− | Der Begriff „K.“ wird erst seit den 1840er Jahren verwendet. Der Sache nach wurden kommunistische Theorien jedoch bereits in der Antike formuliert. Dort finden sich auch ihre beiden Grundformen, die sich in der politischen Ideengeschichte gegenüberstehen: Zum einen die Theorie, dass eine | + | Der Begriff „K.“ wird erst seit den 1840er Jahren verwendet. Der Sache nach wurden kommunistische Theorien jedoch bereits in der Antike formuliert. Dort finden sich auch ihre beiden Grundformen, die sich in der politischen Ideengeschichte gegenüberstehen: Zum einen die Theorie, dass eine entsprechende geistige Ausrichtung des Menschen dazu führt, kein Privateigentum anzustreben und die wenigen Güter, die er benötigt, gemeinsam mit anderen teilen zu können; zum anderen die Theorie, dass die Abschaffung des Privateigentums nicht Folge, sondern Ursache oder notwendige Bedingung für eine tiefgreifende moralische Veränderung des Menschen und eine revolutionäre Umgestaltung der sozialen Verhältnisse ist. Seit der Französischen Revolution ist diese zweite Variante des K. dominierend. Wirkmächtig wurde sie insb. in Gestalt des Marxismus-Leninismus. |
</p> | </p> | ||
<h3 class ="headline-w-margin">1.1 Kommunistische Theorien in der politischen Ideengeschichte vor Karl Marx</h3> | <h3 class ="headline-w-margin">1.1 Kommunistische Theorien in der politischen Ideengeschichte vor Karl Marx</h3> | ||
Zeile 12: | Zeile 12: | ||
</p> | </p> | ||
<p> | <p> | ||
− | Diese beiden Grundformen des K. lassen sich als platonisch-christlicher und als materialistischer K. bezeichnen: In ersterem ist das Gemeineigentum Folge einer auf geistige Ziele ausgerichteten Lebensweise bzw. soll eine solche Lebensweise durch Vermeidung falscher (materieller) Anreize fördern. In der | + | Diese beiden Grundformen des K. lassen sich als platonisch-christlicher und als materialistischer K. bezeichnen: In ersterem ist das Gemeineigentum Folge einer auf geistige Ziele ausgerichteten Lebensweise bzw. soll eine solche Lebensweise durch Vermeidung falscher (materieller) Anreize fördern. In der entsprechenden Gemeinschaft (Wächter, Ordensleute) soll es keine auf materiellen Besitzunterschieden gegründete Hierarchie geben; eine Ungleichheit insb. hinsichtlich der Tugend gibt es aber durchaus. Im materialistischen K. hingegen soll die Abschaffung des Privateigentums eine Änderung des Menschen bewirken und jede Form von Ungleichheit zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft überwunden werden. |
</p> | </p> | ||
<p> | <p> | ||
Zeile 31: | Zeile 31: | ||
</p> | </p> | ||
<p> | <p> | ||
− | Nach K. Marx ist der vollendete K. am Ende des Geschichtsprozesses die Rückkehr zu einer Einheit des Menschen mit sich selbst, die es bereits am Anfang der Geschichte im | + | Nach K. Marx ist der vollendete K. am Ende des Geschichtsprozesses die Rückkehr zu einer Einheit des Menschen mit sich selbst, die es bereits am Anfang der Geschichte im sogenannten Urkommunismus gab. Die Rückkehr erfolgt auf einem höheren Bewusstseinsniveau (der Mensch weiß nun um die Bedeutung dieser Einheit) und auf einem hohen Produktivitätsniveau, das der K. ironischerweise dem technischen [[Fortschritt]] im [[Kapitalismus]] zu verdanken hat. Im Urkommunismus entstand (ohne dass K. Marx dafür eine Erklärung angeben kann) das Privateigentum, mit dem der Unterschied zwischen dem (besitzlosen) Arbeiter und dem Kapitalisten aufkam, der im Besitz der Produktionsmittel ist. Da allein die [[Arbeit]] Werte schafft, ist die Unterscheidung von Arbeiter und Kapitalist im Grundsatz (unabhängig vom Lohnniveau) ungerecht, weil sie bedeutet, dass der Kapitalist sich den Wert der Produktion, der über den Arbeitslohn hinausgeht, aneignet, ohne selbst einen substantiellen Beitrag zur Produktion erbracht zu haben. Aus dem Gegensatz von Arbeiter und Kapitalist folgt die [[Entfremdung]] der Arbeit: Im K. produziert der Mensch nicht, um mit dem Lohn der Arbeit seine physische oder soziale Existenz zu sichern, sondern um in der „freie[n] bewusste[n] Tätigkeit“ (MEW 40: 516) den „Gattungscharakter des Menschen“ (MEW 40: 516) zu verwirklichen, der darin besteht, dass der Mensch „frei vom physischen Bedürfnis produziert“ (MEW 40: 516) und dies „nach den Gesetzen der Schönheit“ (MEW 40: 517) tut. Durch die Bearbeitung der Welt im Akt der Produktion „erscheint die Natur als <I>sein</I> Werk und seine Wirklichkeit“ (MEW 40: 517). |
</p> | </p> | ||
<p> | <p> |
Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:09 Uhr
Als K. wird eine Gesellschaftsordnung bezeichnet, die durch das Gemeineigentum an Produktionsmitteln bzw. an allen Wirtschaftsgütern (einschließlich Konsumgütern) charakterisiert ist. Der Begriff kann sich sowohl auf Theorien der politischen Ideengeschichte beziehen, die eine solche Gesellschaftsform propagieren, als auch auf politische Bewegungen sowie Herrschafts- und Gesellschaftsordnungen, die eine solche Ordnung verwirklichen wollen.
1. Theorien des Kommunismus
Der Begriff „K.“ wird erst seit den 1840er Jahren verwendet. Der Sache nach wurden kommunistische Theorien jedoch bereits in der Antike formuliert. Dort finden sich auch ihre beiden Grundformen, die sich in der politischen Ideengeschichte gegenüberstehen: Zum einen die Theorie, dass eine entsprechende geistige Ausrichtung des Menschen dazu führt, kein Privateigentum anzustreben und die wenigen Güter, die er benötigt, gemeinsam mit anderen teilen zu können; zum anderen die Theorie, dass die Abschaffung des Privateigentums nicht Folge, sondern Ursache oder notwendige Bedingung für eine tiefgreifende moralische Veränderung des Menschen und eine revolutionäre Umgestaltung der sozialen Verhältnisse ist. Seit der Französischen Revolution ist diese zweite Variante des K. dominierend. Wirkmächtig wurde sie insb. in Gestalt des Marxismus-Leninismus.
1.1 Kommunistische Theorien in der politischen Ideengeschichte vor Karl Marx
Der bedeutendste Vertreter des ersten der beiden genannten Theoriestränge ist Platon. In der „Politeia“ beschreibt er das Leben der Wächter im idealen Staat: Sie leben ohne privates Vermögen, bekommen von den Bürgern das für das Leben Notwendige „als Lohn für ihren Schutz“ (Politeia 416e) und dürfen von diesen notwendigen Gütern nur in begrenztem Maß Vorräte anlegen. Die Wächter leben somit in einer (relativen) Besitzlosigkeit, die ihren Grund darin hat, dass sie ihr Leben auf geistige Ziele ausrichten und anders als die auf die Ökonomie ausgerichteten Bürger des dritten Standes des Privateigentums nicht bedürfen. Aristoteles setzt sich im zweiten Buch der „Politik“ kritisch mit Varianten des K. in seiner Zeit auseinander. Neben Platon, den er offensichtlich missversteht, weil er ihm unterstellt, er wolle alle Bürger durch eine Revolution der Eigentumsordnung verändern, kritisiert er die Position weiterer Staatstheoretiker (u. a. Phaleas aus Chalkedon), die der Habgier der Bürger durch Herstellung einer Gleichheit der Vermögen die Grundlage entziehen wollten, um die Bürger zu einer Haltung des sozialen Ausgleichs zu erziehen.
Diese beiden Grundformen des K. lassen sich als platonisch-christlicher und als materialistischer K. bezeichnen: In ersterem ist das Gemeineigentum Folge einer auf geistige Ziele ausgerichteten Lebensweise bzw. soll eine solche Lebensweise durch Vermeidung falscher (materieller) Anreize fördern. In der entsprechenden Gemeinschaft (Wächter, Ordensleute) soll es keine auf materiellen Besitzunterschieden gegründete Hierarchie geben; eine Ungleichheit insb. hinsichtlich der Tugend gibt es aber durchaus. Im materialistischen K. hingegen soll die Abschaffung des Privateigentums eine Änderung des Menschen bewirken und jede Form von Ungleichheit zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft überwunden werden.
Beide Formen treten in der politischen Ideengeschichte in immer neuen Varianten auf. Der platonische K. entspr. der Position, die in der Apostelgeschichte skizziert und in der Folge in christlichen Ordensgemeinschaften (Orden) praktiziert wurde. In der Apostelgeschichte heißt es von der Gemeinschaft der ersten Christen: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“ (Apg 4,32). Benedikt von Nursia, Autor einer der einflussreichsten Ordensregeln in der Geschichte des Christentums, untersagte dem Mönch jede Form von Eigenbesitz abgesehen von den notwendigen Gütern, die er „vom Vater des Klosters erwarten“ darf (Regel Nr. 33 des Heiligen Benedikt). Diese Regel ist bis heute Richtschnur für die Eigentumsverhältnisse in vielen Ordenseinrichtungen.
Vom Christentum (und von Platon) geprägt, aber doch wesentlich weltlicher orientiert sind die frühneuzeitlichen Utopien wie die „Utopia“ (1516) von Thomas Morus oder der „Sonnenstaat“ (1602) von Tommaso Campanella. Die Abschaffung des Privateigentums und die Einführung des Gemeineigentums werden hier als notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung eines besseren Lebens gesehen, das wesentlich durch eine bes. geistige Ausrichtung gekennzeichnet ist. Dabei geht es nicht um die Abschaffung aller Ungleichheiten (so ist z. B. die politische Ordnung in T. Campanellas „Sonnenstaat“ eine Theokratie), sondern um die Kritik der ökonomischen und sozialen Ungleichheit. Diese Utopien sind somit nicht einem materialistischen K. zuzuordnen. Im Unterschied zum Millenarismus z. B. eines Joachim von Fiore beruhen die Utopien nicht auf der Erwartung einer eschatologischen Nahzeit, sondern verlagern die ideale Staatskonstruktion in ein raum-zeitliches „Nirgendwo“. Dennoch handelt es sich um „innerweltliche Heilslehren“ (Ottmann 2006: 140), denn sie gehen davon aus, dass im Weltlichen ein idealer, allen Menschen Heil bringender Staat errichtet werden könne.
Die Französische Revolution bringt einen zweifachen Einschnitt: Der materialistische K. gewinnt stark an Bedeutung und die Utopie wird politisch-praktisch. Beide Veränderungen zeigen sich in der Person von Gracchus Babeuf: Sein Ziel ist die Realisierung einer radikal-egalitären Gesellschaft, und mit seinen politischen Forderungen vollzieht sich der „Eintritt des Kommunismus in das öffentliche Leben“ (Ottmann 2008: 107). Die zentrale Forderung besteht in der Abschaffung des Privateigentums und in der planwirtschaftlichen Organisation der Produktionsprozesse. Verwirklicht werden soll die Planwirtschaft unter der Leitung einer Avantgarde mittels einer gewalttätigen Übergangsdiktatur.
Von dieser Form des revolutionären K. unterscheiden sich andere Frühsozialisten, die die kommunistische Gesellschaft auf einem friedlichen, z. T. eher reformorientierten Weg durchsetzen wollten. Robert Owen strebte keine Revolution an, sondern wollte mit Produktivgenossenschaften, die als Siedlungsprojekte geplant waren (z. B. New Lanark in Schottland) Reformanstöße für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter geben. Étienne Cabet entwickelte eine kommunistische Utopie, für deren Realisierung er mit ein paar hundert Anhängern in die USA auswanderte. Charles Fourier trat für die Einführung kleiner, überschaubarer Genossenschaften (phalanstères) ein, in denen das Prinzip der freien Arbeit verwirklicht werden sollte.
1.2 Der Kommunismus nach Karl Marx und Friedrich Engels
Karl Marx und Friedrich Engels grenzten sich scharf von den Frühsozialisten ab: Sie entwickelten nicht eine kommunistische Utopie, sondern – so z. B. F. Engels in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1880) – eine wissenschaftliche Theorie des K. Während Utopien die (Wunsch-)Vorstellung einer guten Gesellschaftsordnung entwerfen, gaben K. Marx und F. Engels vor, die objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die den Geschichtsprozess (Geschichte, Geschichtsphilosophie) determinieren und schließlich mit Notwendigkeit den K. herbeiführen. Der Schwerpunkt ihres Werks liegt deshalb nicht auf der Beschreibung der kommunistischen Gesellschaftsordnung, sondern auf der Analyse der ökonomischen Gesetze, die die Geschichte bestimmen. Aussagen über das Endziel des K. sind rar und finden sich v. a. in den frühen Schriften von K. Marx.
Nach K. Marx ist der vollendete K. am Ende des Geschichtsprozesses die Rückkehr zu einer Einheit des Menschen mit sich selbst, die es bereits am Anfang der Geschichte im sogenannten Urkommunismus gab. Die Rückkehr erfolgt auf einem höheren Bewusstseinsniveau (der Mensch weiß nun um die Bedeutung dieser Einheit) und auf einem hohen Produktivitätsniveau, das der K. ironischerweise dem technischen Fortschritt im Kapitalismus zu verdanken hat. Im Urkommunismus entstand (ohne dass K. Marx dafür eine Erklärung angeben kann) das Privateigentum, mit dem der Unterschied zwischen dem (besitzlosen) Arbeiter und dem Kapitalisten aufkam, der im Besitz der Produktionsmittel ist. Da allein die Arbeit Werte schafft, ist die Unterscheidung von Arbeiter und Kapitalist im Grundsatz (unabhängig vom Lohnniveau) ungerecht, weil sie bedeutet, dass der Kapitalist sich den Wert der Produktion, der über den Arbeitslohn hinausgeht, aneignet, ohne selbst einen substantiellen Beitrag zur Produktion erbracht zu haben. Aus dem Gegensatz von Arbeiter und Kapitalist folgt die Entfremdung der Arbeit: Im K. produziert der Mensch nicht, um mit dem Lohn der Arbeit seine physische oder soziale Existenz zu sichern, sondern um in der „freie[n] bewusste[n] Tätigkeit“ (MEW 40: 516) den „Gattungscharakter des Menschen“ (MEW 40: 516) zu verwirklichen, der darin besteht, dass der Mensch „frei vom physischen Bedürfnis produziert“ (MEW 40: 516) und dies „nach den Gesetzen der Schönheit“ (MEW 40: 517) tut. Durch die Bearbeitung der Welt im Akt der Produktion „erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit“ (MEW 40: 517).
Der Gegensatz zwischen Arbeitern und Kapitalisten ist nach Einführung des Privateigentums an Produktionsmitteln erst noch verdeckt, tritt aber im Kapitalismus deutlich zu Tage. Der Arbeiter wird hier ganz auf seine ökonomische Funktion reduziert und kann mit dem Arbeitslohn bestenfalls seine physische Subsistenz (und die seiner Familie) sichern. Der Kapitalist wird durch den Wettbewerb gezwungen, die Ausbeutung der Arbeiter stetig zu verschärfen. Durch eine Reihe von Wirtschaftskrisen schreitet die Verelendung der Arbeiter voran. Gleichzeitig erleichtert die Konzentration des Kapitals in immer größeren Fabriken die Organisation des Proletariats und deren Führung durch die Kommunistische Partei. Beide Faktoren zusammengenommen führen mit Notwendigkeit zur Revolution, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben und die „Diktatur des Proletariats“ (MEW 19: 28; Diktatur des Proletariats) unter der Führung der Kommunistischen Partei eingeführt wird.
Die Diktatur des Proletariats (ein Begriff aus K. Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875) stellt die erste Phase der Einführung des K. dar, die in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ (1844) noch als „roher Kommunismus“ (MEW 22: 58) bezeichnet wird. Diese Phase ist durch eine radikale Durchsetzung der äußerlichen Gleichheit der Menschen gekennzeichnet. Den Motor der Entwicklung bildet nicht, wie im Kapitalismus, die Habsucht, sondern der Neid, der alle Unterschiede zwischen den Menschen nivellieren soll – einschließlich der „ganzen Welt der Bildung und der Zivilisation“ (MEW 40: 535). Nach der Zwischenphase eines entwickelten K. wird die Endphase des vollendeten K. erreicht, in der es keine Klassen und keinen Staat mehr gibt. Darüber hinaus ist hier die Entfremdung des Menschen, die durch das Aufkommen des Privateigentums verursacht wurde, vollständig überwunden, so dass auch alle Grundfragen der Philosophie gelöst sind – bis hin zu der Frage nach Unsterblichkeit, denn der einzelne geht im K. soweit im Kollektiv auf, dass er in der Gattung unsterblich wird.
1.3 Kontroverse Deutungen des Marxismus
Schon K. Marx und F. Engels sahen sich mit erheblichen Richtungskämpfen zwischen verschiedenen Strömungen des K. konfrontiert. Die von Ferdinand Lassalle beeinflusste SPD folgte ihnen nicht in der Auffassung, dass der Klassenkampf nur durch eine gewalttätige Revolution überwunden werden konnte, sondern befürwortete eine schrittweise Durchsetzung sozialistischer Reformen und lehnte auch die Aufhebung des Nationalstaats ab. Vom Anarchismus (Anarchie, Anarchismus), wie er zur Zeit von K. Marx und F. Engels u. a. von Michail Bakunin und Sergei Netschajew vertreten wurde, grenzten sie sich wesentlich dadurch ab, dass im Anarchismus die herrschaftsfreie Gesellschaft unmittelbar – d. h. ohne Übergangszeit – auf die Revolution folgen sollte, während sie selbst fest davon überzeugt waren, dass nach der Revolution zunächst eine gewalttätige Diktatur für die „Reinigung“ der Gesellschaft von der Prägung durch den Kapitalismus erforderlich ist. Diese Auseinandersetzungen setzten sich unter Wladimir Iljitsch Lenin fort, der sich u. a. in „Staat und Revolution“ (1917) sowohl gegen Anarchisten wandte als auch gegen sozialdemokratische Vorstellungen einer kommunistischen Reform der Gesellschaft, wie sie in Russland von den Menschewiki vertreten wurden. Nach W. I. Lenin musste die proletarische Revolution von der Kommunistischen Partei unter der Führung einer kleinen, konspirativ arbeitenden Avantgarde durchgeführt werden. Für diese Vorgehensweise kritisierte ihn Rosa Luxemburg, die den K. über ein System von Räten einführen wollte, in denen die Kommunisten freie Diskussionen über die beste Vorgehensweise bei der Einführung des K. führen sollten. R. Luxemburg befürwortete die gewalttätige Revolution und den erbarmungslosen Kampf gegen die Gegner des K.; die Forderung nach Freiheit für Andersdenkende galt lediglich für andersdenkende Kommunisten.
Nach der Etablierung des Sowjetsystems spaltete der K. sich in die marxistisch-leninistische Ideologie, deren wesentliche Aufgabe die Legitimation des realexistierenden Sozialismus war, und den westlichen Marxismus, der sich stärker philosophisch orientierte und u. a. das Thema der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus ins Zentrum der Auseinandersetzung stellte. Seit den 1980er Jahren erfolgte eine Synthese des Marxismus mit postmodernen (Postmoderne) und poststrukturalistischen Theorien (vgl. z. B. Michael Hardt, Antonio Negri, Slavoj &Zhatsch;i&zhatsch;ek).
2. Kommunismus in der Praxis: politische Bewegung und Staatsmacht
Bei allen Unterschieden, die es zwischen verschiedenen theoretischen Strömungen des materialistischen K. der Neuzeit gibt, verfolgen alle eine praktisch-politische Intention und wollen die Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse hin zu einer kommunistischen Gesellschaft bewirken. Das war auch bei K. Marx der Fall, der u. a. über das „Manifest der Kommunistischen Partei“ (Marx/Engels 1848) und seine Tätigkeit für die Internationale Arbeiterassoziation (erste Internationale) politisch wirken wollte. Nach K. Marx zeichnet sich die Kommunistische Partei dadurch aus, dass sie im Unterschied zu anderen Arbeiterparteien „stets das Interesse der Gesamtbewegung“ vertritt und „die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung“ hat (MEW 4: 474). W. I. Lenin übernimmt diesen Monopolanspruch der Kommunistischen Partei und verbindet ihn mit dem Konzept des demokratischen Zentralismus, demzufolge eine kleine Gruppe von Kadern die Partei leitet, deren Vorgaben von den Unterorganisationen der Partei übernommen und durchgeführt werden.
Mit W. I. Lenin und der Oktoberrevolution in Russland wurde der K. zu einer Staatsmacht, nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch des Sowjetsystems sogar zu einer Weltmacht. In dem unter W. I. Lenins Führung errichteten politischen System der revolutionären Diktatur des Proletariats werden die totalitären Merkmale (Totalitarismus) des materialistischen K. (Historischer Materialismus) deutlich, die bei K. Marx bereits theoretisch vorgedacht waren:
a) Der Staat unterstand der KPdSU, die alle Bereiche der Verwaltung vollständig kontrollierte;
b) Richtschnur der Partei war die Ideologie des Marxismus-Leninismus als ein geschlossenes Welterklärungsmodell, das die gesamte Menschheitsgeschichte auf den Klassenkampf reduzierte und den erbarmungslosen Kampf gegen den Klassenfeind und die Gegner der Partei als notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung des kommunistischen Heils ansah;
c) mit Erziehung und Propaganda wurde die totale Kontrolle der Menschen angestrebt, die sich in ihrem Denken, ihrem Wollen und in ihren Gefühlen an den Idealen des K. ausrichten sollten (dieses Streben nach vollständiger Kontrolle über Denken und Handeln der Menschen stellt das zentrale Kennzeichen totalitärer Herrschaft dar);
d) die Wirtschaft wurde als eine auf Volkseigentum beruhende Zentralverwaltungswirtschaft organisiert, in der die Planung der Produktion und die Zuteilung der Ressourcen durch den zentralen Plan erfolgte;
e) Klassenfeinde und Gegner der Partei wurden mit grausamem Terror bekämpft, dem allein in der Sowjetunion geschätzt 20 Mio. Menschen zum Opfer fielen. „Unversönlichkeit und Haß gegen alles, was sich dem [K., Anm. des Autors] entgegenstellt“ (Schischkin 1964: 366) waren konstitutive Elemente der kommunistischen Ethik.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg strebte die KPdSU nach weitestgehender Kontrolle der kommunistischen Parteien in anderen Ländern. Danach konnte die UdSSR ihren Herrschaftsbereich auf Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa ausweiten, die Teil des Warschauer Paktes wurden (mit Ausnahme von Jugoslawien). Außerhalb Europas wurden weltweit auf allen Kontinenten kommunistische Regime bzw. sozialistisch orientierte Regierungen unterstützt und bes. Beziehungen zu einer Reihe von blockfreien Staaten aufgebaut (z. B. Indien). Eine Sonderrolle spielte China, das unter der Führung von Mao Zedong politisch und ideologisch eigene Wege ging (Maoismus).
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems 1989/90 verlor der K. weltweit an Bedeutung. In Russland löste Nationalismus die kommunistische Ideologie ab. Gleiches gilt für China, auch wenn das Land sich immer noch als kommunistisch bezeichnet. Einer der letzten verbliebenen kommunistischen Staaten ist Nordkorea. In Deutschland wird der K. heute von drei Parteien vertreten: der DKP, der MLPD und von Teilen der Partei „Die Linke“. Letztere tritt in der Öffentlichkeit i. d. R. nicht als revolutionäre Partei auf, sieht sich aber ihrem Programm zufolge in der Tradition des revolutionären K. und strebt eine „radikale Erneuerung der Demokratie“ (Die Linke 2011: 29) an, durch die das Privateigentum grundlegend in Frage gestellt werden soll. Einzelne Unterorganisationen der Partei unterhalten enge Kontakte zum linksextremen Spektrum (Antifa, Interventionistische Linke). Diesem Spektrum sind sowohl Kommunisten als auch in der Tradition des Anarchismus stehende Autonome zuzurechnen, die z. T. extrem gewaltbereit sind (Extremismus).
Literatur
G. Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, 2017 • Die Linke: Programm der Partei DIE LINKE. Beschluss des Parteitags der Partei DIE LINKE vom 21./22./23. Oktober 2011 in Erfurt, 2011 • D. Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus, 2009 • H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, Teilbde. 1–2, 2006–08 • B. Zehnpfennig: Einleitung, in: dies. (Hg.): Karl Marx. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, 2005, VII-LXXV • S. Courtois: Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1998 • K. Löw: Kommunismus, in: StL, Bd. 3, 71995, 592–603 • A. F. Schischkin: Grundlagen der marxistischen Ethik, 1964 • F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880 • K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, 1848 • K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844.
Empfohlene Zitierweise
H. Hansen: Kommunismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kommunismus (abgerufen: 18.12.2024)