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− | Die Bestimmung eines Begriffs von M., der alle historischen, systematischen und kulturellen Gegebenheiten der Sache umfasst, kann offensichtlich wegen deren Historizität nicht gelingen. Jedenfalls schließt die Geschichte der M. ein stetes Scheitern an der Forderung ein, M. zu definieren. Je nach Zeit und Kulturraum werden aktuell dominante Merkmale des Gesamtphänomens beim Versuch grundgelegt, dessen Wesen definitorisch zu fixieren. In der griechischen Antike dominiert zum einen die Feststellung des Ptolemaios, M. sei „die Fähigkeit, die zwischen hohen und tiefen Tönen bestehenden Unterschiede zu erkennen“ (Düring 1930: 21). Zum andern ist sie für Aristides Quintilianus „die Wissenschaft vom Melos und von dem, was zum Melos gehört“ (Jahn 1882: Buch I, 4). An beide Autoren schließen Theoretiker der Spätantike und des frühen christlichen Mittelalters an, maßstabsetzend erstens Augustinus (nach Censorinus, beide wohl nach Marcus Terentius Varro): „Musik ist die Wissenschaft vom richtigen Abmessen [d. h. der Tonhöhen und -dauern]“ (<I>Musica est scientia bene modulandi</I> [„De musica“, MPL 32: 1083]); zweitens Boethius: „Musik ist die Fähigkeit, die zwischen hohen und tiefen Tönen bestehenden Unterschiede mit dem Hörsinn und mit der Vernunft zu beurteilen“ (<I>Harmonica est facultas differentias acutorum et gravium sonorum sensu ac ratione perpendens</I> [„De institutione musica“, MPL 63: 1285]). Dass die Vernunfterkenntnis wesentlich an eine zahlenbezogene Auffassung von M. gebunden ist, betont i. S. d. <I>artes liberales</I> Cassiodorus: „Musik ist die Disziplin oder Wissenschaft, die von Zahlen spricht“ (<I>Musica est disciplina vel scientia, quae de numeris loquitur</I> [Gerbert 1784: 16]); hingegen hebt Isidor von Sevilla die sensitive Wahrnehmung hervor: „Musik ist die Kenntnis der [nach Maß und Zahl geregelten] Tonbewegung, die sich in Klang und Gesang findet“ (<I>Musica est peritia modulationis sono cantuque consistens</I> [Gerbert 1784: 20]). In den Lehr- und Schultraditionen der Folgezeit überwiegen Definitionen, die das Hervorbringen von Gesängen in gut geregelter Praxis in den Mittelpunkt rücken, wenn auch mathematisch-rationalistische Auffassungen sich weiterhin und lange noch behaupten bis hin zu der Definition, die Gottfried Wilhelm Leibniz formuliert: „Musik ist eine verborgene Rechenkunst des sich seines Zählens unbewußten Geistes“ (<I>Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi</I> [Kortholt 1742: Collectio Epistola 154]). Dieses Verständnis verliert sich im späten 18. Jh. zugunsten subjektivistischer, emotional geprägter M.-Begriffe, für die das Erleben und Empfinden des Menschen beim Spielen und Hören von M. ausschlaggebend ist. Heinrich Christoph Koch definiert entspr. in seinem „Musikalischen Lexikon“ (1802) M. als „die Kunst durch Töne Empfindungen auszudrücken“ (Koch 1802: 992). Dazu tritt im Laufe des 19. Jh. der Versuch, M. im Bereich von Metaphysik und [[Transzendenz]] zu verorten, wofür sich Autoren wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Arthur Schopenhauer einsetzten. Die Auffassung von M. als herausgehobenem Teil einer | + | Die Bestimmung eines Begriffs von M., der alle historischen, systematischen und kulturellen Gegebenheiten der Sache umfasst, kann offensichtlich wegen deren Historizität nicht gelingen. Jedenfalls schließt die Geschichte der M. ein stetes Scheitern an der Forderung ein, M. zu definieren. Je nach Zeit und Kulturraum werden aktuell dominante Merkmale des Gesamtphänomens beim Versuch grundgelegt, dessen Wesen definitorisch zu fixieren. In der griechischen Antike dominiert zum einen die Feststellung des Ptolemaios, M. sei „die Fähigkeit, die zwischen hohen und tiefen Tönen bestehenden Unterschiede zu erkennen“ (Düring 1930: 21). Zum andern ist sie für Aristides Quintilianus „die Wissenschaft vom Melos und von dem, was zum Melos gehört“ (Jahn 1882: Buch I, 4). An beide Autoren schließen Theoretiker der Spätantike und des frühen christlichen Mittelalters an, maßstabsetzend erstens Augustinus (nach Censorinus, beide wohl nach Marcus Terentius Varro): „Musik ist die Wissenschaft vom richtigen Abmessen [d. h. der Tonhöhen und -dauern]“ (<I>Musica est scientia bene modulandi</I> [„De musica“, MPL 32: 1083]); zweitens Boethius: „Musik ist die Fähigkeit, die zwischen hohen und tiefen Tönen bestehenden Unterschiede mit dem Hörsinn und mit der Vernunft zu beurteilen“ (<I>Harmonica est facultas differentias acutorum et gravium sonorum sensu ac ratione perpendens</I> [„De institutione musica“, MPL 63: 1285]). Dass die Vernunfterkenntnis wesentlich an eine zahlenbezogene Auffassung von M. gebunden ist, betont i. S. d. <I>artes liberales</I> Cassiodorus: „Musik ist die Disziplin oder Wissenschaft, die von Zahlen spricht“ (<I>Musica est disciplina vel scientia, quae de numeris loquitur</I> [Gerbert 1784: 16]); hingegen hebt Isidor von Sevilla die sensitive Wahrnehmung hervor: „Musik ist die Kenntnis der [nach Maß und Zahl geregelten] Tonbewegung, die sich in Klang und Gesang findet“ (<I>Musica est peritia modulationis sono cantuque consistens</I> [Gerbert 1784: 20]). In den Lehr- und Schultraditionen der Folgezeit überwiegen Definitionen, die das Hervorbringen von Gesängen in gut geregelter Praxis in den Mittelpunkt rücken, wenn auch mathematisch-rationalistische Auffassungen sich weiterhin und lange noch behaupten bis hin zu der Definition, die Gottfried Wilhelm Leibniz formuliert: „Musik ist eine verborgene Rechenkunst des sich seines Zählens unbewußten Geistes“ (<I>Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi</I> [Kortholt 1742: Collectio Epistola 154]). Dieses Verständnis verliert sich im späten 18. Jh. zugunsten subjektivistischer, emotional geprägter M.-Begriffe, für die das Erleben und Empfinden des Menschen beim Spielen und Hören von M. ausschlaggebend ist. Heinrich Christoph Koch definiert entspr. in seinem „Musikalischen Lexikon“ (1802) M. als „die Kunst durch Töne Empfindungen auszudrücken“ (Koch 1802: 992). Dazu tritt im Laufe des 19. Jh. der Versuch, M. im Bereich von Metaphysik und [[Transzendenz]] zu verorten, wofür sich Autoren wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Arthur Schopenhauer einsetzten. Die Auffassung von M. als herausgehobenem Teil einer allgemeinen Kunstreligion gelangt im Gefolge der (deutschen) Romantik zu starker Geltung. Sie steht in heftig artikuliertem Widerspruch zu stärker vernunftgeleiteten Ansätzen, wie sie bspw. Eduard Hanslick mit seiner einflussreichen Schrift „Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst“ (1854) vertritt, in der es heißt, „tönend bewegte Formen“ seien „einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“ (Hanslick 1854: 32), wobei das kompositorische Gestalten von M. als „ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material“ (Hanslick 1854: 35) zu verstehen sei. Die in der [[Moderne]] manifeste Tendenz zunehmender Zersplitterung von M.-Begriffen hat in Zeiten von [[Populärkultur]], [[Postmoderne]] und [[Globalisierung]] letztlich zu einer Preisgabe des Versuchs geführt, M. <I>stricto sensu</I> zu definieren. Einen konsistenten, den Begriff der M. schrittweise einengenden und inhaltlich ausdifferenzierenden Ansatz bot dennoch 1978 der M.-Wissenschaftler Rainer Cadenbach: M. ist Realität – ist hörbare Realität – ist geistbestimmte Hörbarkeit – ist hörbarer Bedeutungsträger – ist Träger nicht-zeichenhafter oder fixierter Bedeutung – ist akustisches Medium, das mit seinem hörbaren Substrat koinzidiert. |
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− | M. ist hörbare Realität, doch kann sie daneben noch in einer weiteren medialen Form vermittelt werden, nämlich als Text. Notenschriften bereits in den antiken Kulturen, dann aber und konstant seit Mitte des 9. Jh. im christianisierten Europa und eng mit der Liturgie der christlichen Kirche verbunden, eröffnen die Möglichkeit, die Flüchtigkeit des im Hören vergehenden Klangs durch stumme, nur dem Auge zugängliche graphische Zeichen zu bannen. Schriftlichkeit erweist sich in der europäischen M.-Kultur und in den von ihr geprägten außereuropäischen Kulturen als Bedingung für die aus ihr hervorgegangenen Konzepte des Komponierens und des Komponisten, des Werks <I>(opus)</I> und seiner Interpretation sowie schließlich der M.-Geschichte. Tiefenscharfes historisches Bewusstsein und methodenbewusste Historiographie sowie die künstlerische Praxis, musikalische Handlungsverläufe unabhängig von der Person, die sie konzipiert hat, immer wieder nachzuvollziehen und im Klang zu vergegenwärtigen, sind ohne Basis der Schrift undenkbar: Wo kein Notentext, da keine <I>opus</I>-M. aus der Vergangenheit und der Gegenwart, sondern orale Tradierung mit allen Eigenarten der an den Moment gebundenen Stegreifproduktion. Die Zuspitzung auf ein „vollkommenes und vollendetes Werk“ (<I>opus perfectum et absolutum</I> [Listenius 1537: 13]), das eine Person, die es fachgemäß versteht <I>(artifex)</I>, schaffe und das sie überdauere, formuliert erstmals Nikolaus Listenius in seiner „Musica poetica“ (1537). Freilich besitzt geschriebene M. einen geringeren Realitätsgrad als klingende, schon allein deswegen, weil das Lesen eines Notentextes wesentlich anders als das Lesen eines Worttextes ist. Die Differenz gilt auch aus Produzentensicht: Während das Schreiben von Wörtern und Sätzen eine | + | M. ist hörbare Realität, doch kann sie daneben noch in einer weiteren medialen Form vermittelt werden, nämlich als Text. Notenschriften bereits in den antiken Kulturen, dann aber und konstant seit Mitte des 9. Jh. im christianisierten Europa und eng mit der Liturgie der christlichen Kirche verbunden, eröffnen die Möglichkeit, die Flüchtigkeit des im Hören vergehenden Klangs durch stumme, nur dem Auge zugängliche graphische Zeichen zu bannen. Schriftlichkeit erweist sich in der europäischen M.-Kultur und in den von ihr geprägten außereuropäischen Kulturen als Bedingung für die aus ihr hervorgegangenen Konzepte des Komponierens und des Komponisten, des Werks <I>(opus)</I> und seiner Interpretation sowie schließlich der M.-Geschichte. Tiefenscharfes historisches Bewusstsein und methodenbewusste Historiographie sowie die künstlerische Praxis, musikalische Handlungsverläufe unabhängig von der Person, die sie konzipiert hat, immer wieder nachzuvollziehen und im Klang zu vergegenwärtigen, sind ohne Basis der Schrift undenkbar: Wo kein Notentext, da keine <I>opus</I>-M. aus der Vergangenheit und der Gegenwart, sondern orale Tradierung mit allen Eigenarten der an den Moment gebundenen Stegreifproduktion. Die Zuspitzung auf ein „vollkommenes und vollendetes Werk“ (<I>opus perfectum et absolutum</I> [Listenius 1537: 13]), das eine Person, die es fachgemäß versteht <I>(artifex)</I>, schaffe und das sie überdauere, formuliert erstmals Nikolaus Listenius in seiner „Musica poetica“ (1537). Freilich besitzt geschriebene M. einen geringeren Realitätsgrad als klingende, schon allein deswegen, weil das Lesen eines Notentextes wesentlich anders als das Lesen eines Worttextes ist. Die Differenz gilt auch aus Produzentensicht: Während das Schreiben von Wörtern und Sätzen eine allgemeine Kulturtechnik darstellt, gehört die Niederschrift von imaginierter oder gehörter M. ganz in den Bereich von Spezialisten (Komponisten, Arrangeure). |
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<h2 class ="headline-w-margin">4. Musik und Gesellschaft</h2> | <h2 class ="headline-w-margin">4. Musik und Gesellschaft</h2> |
Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:10 Uhr
1. Grundlagen und Ethymologie
M. gründet im Vermögen des Menschen, mit einer Reihe von Organen, v. a. mit dem Kehlkopf und hier über schwingende Stimmbänder sowie über den Vokaltrakt, auf eine spezifische Weise Töne und Tonverbindungen zu erzeugen (Singen, Gesang). Weiterhin befähigt der Gehörsinn den Menschen zur höchst differenzierten auditiven Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung von Schallereignissen; kraft seines Verstandes vermag er Tonsysteme sowie Stimmungen einzurichten. Singen und Hören als Grundlage von M. gehören zur anthropologischen Grundausstattung, wie sie in dieser spezifischen Art unter den Lebewesen nur dem Menschen eigen ist. Darüber hinaus verfügt er über die handwerklichen Fähigkeiten, Instrumente herzustellen und auf diesen M. zu erzeugen. Für den Instrumentenbau berücksichtigt der Mensch die von ihm erkannten natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Schalls. Seine Sing- und Hörfähigkeit zu nutzen sowie akustisch bestimmte Bauprinzipien von Instrumenten anzuwenden, charakterisiert ihn von seiner Frühgeschichte an. Seit dem Fund (1988 ff.) und der Identifikation von Knochenflöten mit Kerben und Grifflöchern im Geißenklösterle, einer Fundlandschaft am Südrand der Schwäbischen Alb, sind Instrumente aus dem Oberen Aurignacien, also mit einem Alter von etwa 42 000–43 000 Jahren, bezeugt. Aus allen Kulturen des Altertums, etwa Mesopotamien, Ägypten, Griechenland und Rom, liegen Zeugnisse musikalischen Denkens und Handelns vor.
Das Wort für die Bezeichnung der Sache ist jüngeren Datums. In Pindars auf das Jahr 476 v. Chr. datierter erster Olympischer Ode (Pind. O. 1, 15) dürfte die erste Belegstelle für musiké, also „musische Kunst“ oder „Musenkunst“ vorliegen. In dieser und in weiteren grammatischen Formen wie musikós für musikalisch oder (substantiviert) Musiker hat sich das Wort in der griechischen M.-Theorie zum Begriff verfestigt und sich von hier aus ins Lateinische (musica) und Arabische (mūsīqī), schließlich in den Großteil der europäischen Sprachen verbreitet (mit Ausnahmen, etwa tschechisch hudba). Im Deutschen schwankte der Gebrauch längere Zeit hindurch zwischen music (mit langem u, in manchen Dialekten bis heute) und musique (mit betontem i). In neuerer Zeit hat sich hier zudem eine Unterscheidung zwischen dem eher volkstümlichen Musikanten und dem künstlerisch tätigen Musiker herausgebildet.
2. Definitionen
Die Bestimmung eines Begriffs von M., der alle historischen, systematischen und kulturellen Gegebenheiten der Sache umfasst, kann offensichtlich wegen deren Historizität nicht gelingen. Jedenfalls schließt die Geschichte der M. ein stetes Scheitern an der Forderung ein, M. zu definieren. Je nach Zeit und Kulturraum werden aktuell dominante Merkmale des Gesamtphänomens beim Versuch grundgelegt, dessen Wesen definitorisch zu fixieren. In der griechischen Antike dominiert zum einen die Feststellung des Ptolemaios, M. sei „die Fähigkeit, die zwischen hohen und tiefen Tönen bestehenden Unterschiede zu erkennen“ (Düring 1930: 21). Zum andern ist sie für Aristides Quintilianus „die Wissenschaft vom Melos und von dem, was zum Melos gehört“ (Jahn 1882: Buch I, 4). An beide Autoren schließen Theoretiker der Spätantike und des frühen christlichen Mittelalters an, maßstabsetzend erstens Augustinus (nach Censorinus, beide wohl nach Marcus Terentius Varro): „Musik ist die Wissenschaft vom richtigen Abmessen [d. h. der Tonhöhen und -dauern]“ (Musica est scientia bene modulandi [„De musica“, MPL 32: 1083]); zweitens Boethius: „Musik ist die Fähigkeit, die zwischen hohen und tiefen Tönen bestehenden Unterschiede mit dem Hörsinn und mit der Vernunft zu beurteilen“ (Harmonica est facultas differentias acutorum et gravium sonorum sensu ac ratione perpendens [„De institutione musica“, MPL 63: 1285]). Dass die Vernunfterkenntnis wesentlich an eine zahlenbezogene Auffassung von M. gebunden ist, betont i. S. d. artes liberales Cassiodorus: „Musik ist die Disziplin oder Wissenschaft, die von Zahlen spricht“ (Musica est disciplina vel scientia, quae de numeris loquitur [Gerbert 1784: 16]); hingegen hebt Isidor von Sevilla die sensitive Wahrnehmung hervor: „Musik ist die Kenntnis der [nach Maß und Zahl geregelten] Tonbewegung, die sich in Klang und Gesang findet“ (Musica est peritia modulationis sono cantuque consistens [Gerbert 1784: 20]). In den Lehr- und Schultraditionen der Folgezeit überwiegen Definitionen, die das Hervorbringen von Gesängen in gut geregelter Praxis in den Mittelpunkt rücken, wenn auch mathematisch-rationalistische Auffassungen sich weiterhin und lange noch behaupten bis hin zu der Definition, die Gottfried Wilhelm Leibniz formuliert: „Musik ist eine verborgene Rechenkunst des sich seines Zählens unbewußten Geistes“ (Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi [Kortholt 1742: Collectio Epistola 154]). Dieses Verständnis verliert sich im späten 18. Jh. zugunsten subjektivistischer, emotional geprägter M.-Begriffe, für die das Erleben und Empfinden des Menschen beim Spielen und Hören von M. ausschlaggebend ist. Heinrich Christoph Koch definiert entspr. in seinem „Musikalischen Lexikon“ (1802) M. als „die Kunst durch Töne Empfindungen auszudrücken“ (Koch 1802: 992). Dazu tritt im Laufe des 19. Jh. der Versuch, M. im Bereich von Metaphysik und Transzendenz zu verorten, wofür sich Autoren wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Arthur Schopenhauer einsetzten. Die Auffassung von M. als herausgehobenem Teil einer allgemeinen Kunstreligion gelangt im Gefolge der (deutschen) Romantik zu starker Geltung. Sie steht in heftig artikuliertem Widerspruch zu stärker vernunftgeleiteten Ansätzen, wie sie bspw. Eduard Hanslick mit seiner einflussreichen Schrift „Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst“ (1854) vertritt, in der es heißt, „tönend bewegte Formen“ seien „einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“ (Hanslick 1854: 32), wobei das kompositorische Gestalten von M. als „ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material“ (Hanslick 1854: 35) zu verstehen sei. Die in der Moderne manifeste Tendenz zunehmender Zersplitterung von M.-Begriffen hat in Zeiten von Populärkultur, Postmoderne und Globalisierung letztlich zu einer Preisgabe des Versuchs geführt, M. stricto sensu zu definieren. Einen konsistenten, den Begriff der M. schrittweise einengenden und inhaltlich ausdifferenzierenden Ansatz bot dennoch 1978 der M.-Wissenschaftler Rainer Cadenbach: M. ist Realität – ist hörbare Realität – ist geistbestimmte Hörbarkeit – ist hörbarer Bedeutungsträger – ist Träger nicht-zeichenhafter oder fixierter Bedeutung – ist akustisches Medium, das mit seinem hörbaren Substrat koinzidiert.
3. Musik als Notentext und als Klang
M. ist hörbare Realität, doch kann sie daneben noch in einer weiteren medialen Form vermittelt werden, nämlich als Text. Notenschriften bereits in den antiken Kulturen, dann aber und konstant seit Mitte des 9. Jh. im christianisierten Europa und eng mit der Liturgie der christlichen Kirche verbunden, eröffnen die Möglichkeit, die Flüchtigkeit des im Hören vergehenden Klangs durch stumme, nur dem Auge zugängliche graphische Zeichen zu bannen. Schriftlichkeit erweist sich in der europäischen M.-Kultur und in den von ihr geprägten außereuropäischen Kulturen als Bedingung für die aus ihr hervorgegangenen Konzepte des Komponierens und des Komponisten, des Werks (opus) und seiner Interpretation sowie schließlich der M.-Geschichte. Tiefenscharfes historisches Bewusstsein und methodenbewusste Historiographie sowie die künstlerische Praxis, musikalische Handlungsverläufe unabhängig von der Person, die sie konzipiert hat, immer wieder nachzuvollziehen und im Klang zu vergegenwärtigen, sind ohne Basis der Schrift undenkbar: Wo kein Notentext, da keine opus-M. aus der Vergangenheit und der Gegenwart, sondern orale Tradierung mit allen Eigenarten der an den Moment gebundenen Stegreifproduktion. Die Zuspitzung auf ein „vollkommenes und vollendetes Werk“ (opus perfectum et absolutum [Listenius 1537: 13]), das eine Person, die es fachgemäß versteht (artifex), schaffe und das sie überdauere, formuliert erstmals Nikolaus Listenius in seiner „Musica poetica“ (1537). Freilich besitzt geschriebene M. einen geringeren Realitätsgrad als klingende, schon allein deswegen, weil das Lesen eines Notentextes wesentlich anders als das Lesen eines Worttextes ist. Die Differenz gilt auch aus Produzentensicht: Während das Schreiben von Wörtern und Sätzen eine allgemeine Kulturtechnik darstellt, gehört die Niederschrift von imaginierter oder gehörter M. ganz in den Bereich von Spezialisten (Komponisten, Arrangeure).
4. Musik und Gesellschaft
Zwar bildet sich im 19. Jh. die Auffassung einer „absoluten“, einer von allen außer ihr liegenden Vorstellungen und Funktionen losgelösten M. aus, doch ist der homo musicus ein zutiefst soziales Wesen und Musizieren ein sozialer Akt höchsten Grades. Die Kontexte, aus denen M. entsteht und in denen sie steht, sind beinahe unbegrenzt: Kulte, Riten, Feste, Repräsentation, Militär, Arbeit, öffentliche Darbietung, Unterhaltung bezeichnen einige der Großkreise, in denen sich M. entfaltet. Sie war und ist gesellschaftlich gebunden, ein Faktor der sozialen Ordnung menschlicher Gemeinschaften, ein Element der Staatsorganisation, in moderner Zeit ein nicht unbedeutender Teil der Wirtschaft. Platon reflektiert das Verhältnis von Staat und M. in „Der Staat“ (III) sowie in den „Gesetzen“ (II) ebenso wie Aristoteles in der „Politik“ (VIII), wobei je zentrale Kategorien mit M. in Verbindung gebracht werden, so Erziehung, Kurzweil, Vergnügen oder sinnerfüllte Lebensweise. Die Rolle der M. in der Gesellschaft zwischen den relevanten Trägergruppen auszuverhandeln, erweist sich als immerwährender Prozess und führt zu immer wieder höchst unterschiedlichen und wandelbaren Ergebnissen. In Deutschland etwa bildete sich in Folge der jahrhundertelangen territorialen Zersplitterung, der konfessionellen Konkurrenzsituation und der erst spät erfolgten staatlichen Einigung ein musikalisches Selbstbewusstsein aus, das im späten 19. Jh. im Hegemonialanspruch eines „Landes der M.“ kulminierte, das sich in Geschichte und Gegenwart allen übrigen Nationen überlegen wähnte (eine Vorstellung, die durch die nationalsozialistische Kulturpolitik schließlich endgültig pervertiert wurde). Losgelöst von solch überwundenen nationalistischen Verzerrungen kann festgestellt werden, dass das politisch-administrative System des Kulturföderalismus in Deutschland im Zusammenspiel von öffentlich getragenen und öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen (Finanzvolumen 2016: 2,4 Mrd. Euro) einerseits, den privatwirtschaftlichen Kultur- und Kunstangeboten und den frei-gemeinnützigen Trägern (Finanzvolumen 2016: ca. 400 Mio. Euro) andererseits eine musikbezogene Infrastruktur ausprägt, wie sie in ihrer Reichhaltigkeit und Effizienz beinahe einmalig ist. Der „Deutsche Musikrat“ fungiert als Dachverband für 90 musikalische Fachverbände und die 16 Musikräte der Bundesländer; er vertritt über 8 Mio. Mitglieder (2017).
Musikalische Bildung gehört in allen Schultypen zum staatlich verbrieften Lehrauftrag. 56 Hochschuleinrichtungen bieten musikwissenschaftliche Lehrinhalte an. 24 Musikhochschulen obliegt die Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses. 83 Theaterorchester, 28 Konzertorchester, 8 Kammerorchester, 11 Rundfunk- und Rundfunksinfonieorchester, 4 Bigbands und 7 Rundfunkchöre bilden die Säulen des von der öffentlichen Hand finanzierten M.-Lebens. 84 M.-Theater in Trägerschaft der Kommunen oder Länder unterhalten einen regelmäßigen Spielbetrieb mit Opern, Operetten, Musicals und Balletten. Für die christlichen Kirchen ist die musikalische Begleitung ihrer Gottesdienste substantiell; darüber hinaus fungieren sie in eigenen Konzertveranstaltungen als Pflegestätten der 1 000-jährigen Tradition einer musica sacra. M.-Verlage, Instrumentenbauer und M.-Industrie bereiten die Basis für alle Formen der M.-Produktion und -Verbreitung. Den in allen diesen Institutionen vertretenen Bereich der „Hochkultur“ nehmen rund 8 % der Bevölkerung wahr. Im Leben der meisten Menschen dominieren dagegen zum einen die aktive Teilhabe an gesellschaftlich fest verankerten Liebhabereinrichtungen wie Chorvereinigungen (Mitglieder im „Deutschen Chorverband“ 2016: ca. 21 000 Chöre, 1,4 Mio. Sänger) oder M.-Kapellen, zum andern und weiter verbreitet eine Rezeptionshaltung, die sich auf den Konsum eines unüberschaubaren M.-Angebots in den Medien richtet, hier vornehmlich der Popkultur. Darin spiegelt sich auch eine (umstrittene) Dichotomie der Auffassungen von M. als Kunst und als Nicht-Kunst, umgangssprachlich von E- und U-M. Dass M. im Laufe des 20. Jh. in den modernen westlichen Gesellschaften ein eminent demokratisches Phänomen geworden und ganz gleich in welcher Form mittlerweile praktisch in jedem Lebensbereich präsent ist, hat als positives Ergebnis einer zivilisatorischen Entwicklung zu gelten; sie wäre in diesem Ausmaß ohne die technischen Erfindungen der Schallaufzeichnung und -übertragung in analogen und digitalen Medien nicht möglich gewesen.
Literatur
T. Higham u. a.: Testing models for the beginnings of the Aurignacian and the advent of figurative art and music. The radiocarbon chronology of Geißenklösterle, in: Journal of Human Evolution 62/6 (2012), 664–676 • H. de La Motte-Haber (Hg.): Hdb. der Systematischen Musikwissenschaft, 6 Bde., 2004–14 • H. de La Motte-Haber (Hg.): Musik und Religion, 22003 • E. Budde u. a.: Hdb. der Musik im 20. Jahrhundert, 14 Bde., 1999–2011 • C. Dahlhaus u. a.: Was ist Musik?, 31991 • A. Riethmüller: Stationen des Begriffs Musik, in: F. Zaminer (Hg.): Geschichte der Musiktheorie, 1985, 59–95 • C. Dahlhaus (Hg.): Neues Hdb. der Musikwissenschaft, 13 Bde., 1980–95 • R. Cadenbach: Das musikalische Kunstwerk, 1978 • I. Düring (Hg.): Die Harmonielehre des Klaudios Ptolemaios, 1930 • A. Jahn (Hg.): Aristeides Quintilianus. De musica libri, 1882 • E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst, 1854 • H. C. Koch: Musikalisches Lexikon, 1802 • M. Gerbert: Scriptores ecclesiastici de musica sacra, Bd. 1, 1784 • C. Kortholt (Hg.): Collectio epistolarum, 1742 • N. Listenius: Musica poetica, 1537.
Empfohlene Zitierweise
U. Konrad: Musik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Musik (abgerufen: 24.11.2024)