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− | Das klassische P.-Recht unterliegt in jüngerer Zeit einem Gestaltwandel und ist insb. um eine Schicht des polizeilichen Informationsrechts ergänzt worden, die inzwischen in den P.-Gesetzen schon fast den größten Raum einnimmt, deren dogmatische Erfassung jedoch weiter Schwierigkeiten bereitet. Hierfür sind verschiedene Gründe maßgeblich: Zum einen war – nach Entdeckung des Rechts auf [[Informationelle Selbstbestimmung|informationelle Selbstbestimmung]] in den 1980er Jahren – ein im Grunde seit jeher existierendes Feld der polizeilichen Datenverarbeitung, das vormals nicht als Grundrechtseingriff gedeutet worden war, numehr aber der Schaffung von Befugnisnormen bedurfte, ganz neu zu normieren. Zum anderen hat die Informationstätigkeit angesichts neuartiger, sich typischerweise verdeckt entwickelnder Bedrohungsszenarien (internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität etc.), bei denen ohne bereits im Gefahrenvorfeld ansetzende Aufklärung Gefahrenlagen nicht rechtzeitig erkannt und bekämpft werden können, eine erhebliche Bedeutungssteigerung erfahren. Schließlich hat die rasante Entwicklung der IT sowohl der [[Kriminalität]] neue Kommunikationsräume als auch der P. neue Ermittlungsansätze eröffnet. Ergebnis ist ein Streit um Telekommunikationsüberwachung, Lauschangriff, Online-Durchsuchung, Rasterfahndung, Videoüberwachung etc., der noch immer nicht ausgestanden ist. Dabei müsste eigentlich unstreitig sein, dass Gefahrenabwehr Gefahraufklärung voraussetzt und daher legitimerweise bereits im Gefahrenvorfeld ansetzen darf – mit der Folgeproblematik, dass neuartige begrenzende Eingriffsschwellen gefunden werden müssen. Auch kann es im Gefahrenvorfeld noch keinen Störer geben; dennoch müssen der Streubreite von Datenerhebungen Grenzen gesetzt werden; auch die typische Verdecktheit polizeilicher Informationstätigkeit verlangt zusätzliche Sicherungen. Das BVerfG hat in einer ehrgeizigen Rechtsprechungsreihe versucht, dem neuen Rechtsgebiet verfassungsrechtliche Grenzlinien zu ziehen, zuletzt in einer Art Summe zusammengefasst im Urteil zum BKAG (BVerfGE 141,220). Seine Maßstabsbildung ist dabei aber z. T. schwankend gewesen und auch im Gericht strittig geblieben; sein Beharren auf rechtsstaatlicher Bestimmtheit hat zu einer Ausführlichkeit und Unübersichtlichkeit der neuen Regeln beigetragen, die in auffallendem Kontrast zur lapidaren Kürze des klassischen rechtsstaatlichen P.-Rechts steht. Auch fragt sich, ob die Strenge der Judikatur dem Gewicht des polizeilichen Informationsinteresses und des staatlichen Sicherheitsauftrags immer hinreichend Rechnung getragen hat. Die neue dogmatische Gestalt des P.-Recht ist daher noch immer im Werden. | + | Das klassische P.-Recht unterliegt in jüngerer Zeit einem Gestaltwandel und ist insb. um eine Schicht des polizeilichen Informationsrechts ergänzt worden, die inzwischen in den P.-Gesetzen schon fast den größten Raum einnimmt, deren dogmatische Erfassung jedoch weiter Schwierigkeiten bereitet. Hierfür sind verschiedene Gründe maßgeblich: Zum einen war – nach Entdeckung des Rechts auf [[Informationelle Selbstbestimmung|informationelle Selbstbestimmung]] in den 1980er Jahren – ein im Grunde seit jeher existierendes Feld der polizeilichen Datenverarbeitung, das vormals nicht als Grundrechtseingriff gedeutet worden war, numehr aber der Schaffung von Befugnisnormen bedurfte, ganz neu zu normieren. Zum anderen hat die Informationstätigkeit angesichts neuartiger, sich typischerweise verdeckt entwickelnder Bedrohungsszenarien (internationaler Terrorismus, [[Organisierte Kriminalität|organisierte Kriminalität]] etc.), bei denen ohne bereits im Gefahrenvorfeld ansetzende Aufklärung Gefahrenlagen nicht rechtzeitig erkannt und bekämpft werden können, eine erhebliche Bedeutungssteigerung erfahren. Schließlich hat die rasante Entwicklung der IT sowohl der [[Kriminalität]] neue Kommunikationsräume als auch der P. neue Ermittlungsansätze eröffnet. Ergebnis ist ein Streit um Telekommunikationsüberwachung, Lauschangriff, Online-Durchsuchung, Rasterfahndung, Videoüberwachung etc., der noch immer nicht ausgestanden ist. Dabei müsste eigentlich unstreitig sein, dass Gefahrenabwehr Gefahraufklärung voraussetzt und daher legitimerweise bereits im Gefahrenvorfeld ansetzen darf – mit der Folgeproblematik, dass neuartige begrenzende Eingriffsschwellen gefunden werden müssen. Auch kann es im Gefahrenvorfeld noch keinen Störer geben; dennoch müssen der Streubreite von Datenerhebungen Grenzen gesetzt werden; auch die typische Verdecktheit polizeilicher Informationstätigkeit verlangt zusätzliche Sicherungen. Das BVerfG hat in einer ehrgeizigen Rechtsprechungsreihe versucht, dem neuen Rechtsgebiet verfassungsrechtliche Grenzlinien zu ziehen, zuletzt in einer Art Summe zusammengefasst im Urteil zum BKAG (BVerfGE 141,220). Seine Maßstabsbildung ist dabei aber z. T. schwankend gewesen und auch im Gericht strittig geblieben; sein Beharren auf rechtsstaatlicher Bestimmtheit hat zu einer Ausführlichkeit und Unübersichtlichkeit der neuen Regeln beigetragen, die in auffallendem Kontrast zur lapidaren Kürze des klassischen rechtsstaatlichen P.-Rechts steht. Auch fragt sich, ob die Strenge der Judikatur dem Gewicht des polizeilichen Informationsinteresses und des staatlichen Sicherheitsauftrags immer hinreichend Rechnung getragen hat. Die neue dogmatische Gestalt des P.-Recht ist daher noch immer im Werden. |
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Aktuelle Version vom 30. Mai 2023, 12:42 Uhr
1. Polizei und staatlicher Sicherheitsauftrag
Die Innere Sicherheit zu gewährleisten, d. h. in seinem Inneren für Rechtsgüterschutz, Rechtsdurchsetzung und Friedenswahrung zu sorgen, ist für den das Gewaltmonopol für sich beanspruchenden Staat der Neuzeit eine unaufgebbare und wesentliche Aufgabe. Die P. fungiert innerhalb des staatlichen Institutionengefüges als reinste Verkörperung und zentrales Instrument dieser staatlichen Sicherheitsaufgabe und des staatlichen Gewaltmonopols.
2. Geschichtliche Entwicklung und Wandel der Polizeibegriffe
Der P.-Begriff hat seit seinem Aufkommen im frühneuzeitlichen Staat vielerlei Wandlungen erfahren, die stets Ausdruck des je vorherrschenden Verständnisses des Staates und seiner Aufgaben gewesen sind. Die Idee der nötigenfalls zwangsweisen Durchsetzung der staatlichen Friedensordnung bildet dabei eine Art konstanten Kern der gewandelten Begriffsbildung.
Der im deutschen Raum seit dem 15. Jh. nachweisbare und seit dem 16. Jh. gebräuchliche Begriff P. (auf die griechischen Wörter politeia und polis zurückgehend und anfangs in unterschiedlichen Schreibweisen, insb. „Policey“, verbreitet) meint zunächst (als Ziel) die Herstellung und Erhaltung einer guten Ordnung im Gemeinwesen, ist dabei jedoch (als Methode) auch mit der für den neuzeitlichen Staat typischen Technik der hoheitlichen Setzung von Verhaltensnormen und der (nötigenfalls zwangsweisen) Durchsetzung solchermaßen gesetzten Rechts konnotiert (P.-Ordnung). Bereits in den P.-Ordnungen der frühen Neuzeit geht P. über das engere Ziel der Friedenswahrung und des elementaren Rechtsgüterschutzes hinaus, sondern meint – unter dem Leitgedanken der „guten P.“ – umfassender die rechte Ordnung des Zusammenlebens. Erst recht geriet der P.-Begriff im absolutistischen Staat in den Sog eines immer stärkeren Anspruchs der wohlfahrtsstaatlichen Gestaltung und erfuhr auf diese Weise eine Entgrenzung, die schließlich die gesamte innere Verwaltung mit P. gleichsetzte und in einem obrigkeitlich-formalen Sinne das umfassende Reglementierungsrecht des absolutistischen Herrschers bedeutete (in diesem umfassenden Sinn ist die Staatstätigkeit im 17. und 18. Jh. Gegenstand der sogenannten P.-Wissenschaft). Die ursprünglich als wohltuend aufgenommene P.-Tätigkeit wird unter diesen Umständen zunehmend als Last empfunden und lässt den absolutistischen Staat in der Rückschau des späteren Rechtsstaats als „P.-Staat“ erscheinen.
Die im aufgeklärten Absolutismus einsetzende und in den liberalen Rechtsstaat mündende folgende Entwicklungslinie ist folgerichtig um eine Eingrenzung des P.-Begriffs – insb. durch Aussonderung des Wohlfahrtszwecks und Konzentration auf den Sicherheitszweck – bemüht, welche schließlich zu jener Gleichsetzung von P. und (bloßer) Gefahrenabwehr (statt Wohlfahrtspflege) führte, die sodann für den (z. T. noch heute gebräuchlichen) materiellen P.-Begriff begriffsbestimmend wurde (P. als Gefahrenabwehr). Als wichtige Etappen dieser Entwicklung werden gemeinhin der P.-Begriff Johann Stephan Pütters, die Formulierung des § 10 II 17 ALR („Die nöthigen Anstalten zu Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizey“) sowie das Kreuzberg-Erkenntnis des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (PrOVGE 9, 353) angesehen. Wohlfahrtspflege ist fortan nicht mehr auf der Basis der allgemeinen P.-Befugnisse, sondern nur noch auf spezialgesetzlicher Grundlage möglich. Andererseits wird weiterhin die gesamte gefahrenabwehrende Verwaltungstätigkeit als P. bezeichnet.
Dies änderte sich infolge des überwiegenden Durchdringens des sogenannten formellen/institutionellen P.-Begriffs nach dem Zweiten Weltkrieg (Ansätze zu einer institutionellen Begriffsbildung sind freilich viel älter und hatten sich im allgemeinen Sprachgebrauch bereits zuvor durchgesetzt), welcher unter P. nur noch die (auch landläufig als „P.“ bezeichnete) Vollzugs-P. (einschließlich Kriminal-P.) als Institution versteht (paradigmatisch Art. 1 PAG: „Polizei im Sinne dieses Gesetzes sind die im Vollzugsdienst tätigen Dienstkräfte der Polizei des Freistaates Bayern.“), die Tätigkeit der vormals als Verwaltungs-P. bezeichneten sonstigen gefahrenabwehrenden Verwaltung dagegen ausklammert (diese Behörden werden fortan als Ordnungsbehörden, Sicherheitsbehörden o. ä. bezeichnet). Grund dieser Entwicklung war nicht nur das von den Westalliierten angestoßene und auch als Reaktion auf die Maßlosigkeit der P.-Gewalt im NS-Staat erfolgte Programm der „Entpolizeilichung“ der Verwaltung, sondern – tiefer liegend – auch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Art der Aufgabenerledigung (Vollzugs-P.: vor Ort und mit der Möglichkeit des sofortigen zwangsweisen Vollzugs; Ordnungsbehörden: bürokratisch und vom Schreibtisch aus) sowie ein zunehmendes Auseinanderdriften der jeweiligen Aufgabenstruktur jenseits des Schnittbereichs Gefahrenabwehr (Anreicherung ordnungsbehördlicher Aufgaben um planerische, gestalterische und risikosteuernde Elemente; zunehmende informationelle Befugnisse allein der Vollzugs-P.); auch dass die charakteristische Doppelfunktion der P. (als Institution), die nicht allein präventive/gefahrenabwehrende Aufgaben hat, sondern auch auf dem Felde der Repression/Strafverfolgung tätig ist, nicht durch den materiellen P.-Begriff erfasst werden konnte, war ein Manko. Soweit das P.-Recht und das (allgemeine) Ordnungs-/Sicherheitsrecht von einer einheitlichen dogmatischen Struktur (Gefahr-/Störerdogmatik) geprägt bleiben (im Schnittbereich klassischen Gefahrenabwehrrechts), behält der überkommene materielle P.-Begriff gleichwohl wissenschaftlichen Wert. Eine Minderzahl deutscher Bundesländer hat darüber hinaus auch organisatorisch am materiellen P.-Begriff festgehalten (Einheitssystem statt Trennungssystem) und bezeichnet Gefahrenabwehrbehörden gemeinsam mit dem P.-Vollzugsdienst als P. (nicht ohne aber im Übrigen zwischen beiden zu differenzieren).
Die nunmehr vorherrschende institutionelle Deutung des P.-Begriffs darf nicht dahin missverstanden werden, als sei es unmöglich, die Tätigkeit der P. (als Institution) auch materiell/funktional zu umschreiben und von anderen Staatsfunktionen abzuheben. Für die Tätigkeit der P. charakteristisch sind zum einen Strukturen einer subsidiären Allzuständigkeit gegenüber den sonstigen staatlichen Sicherheitsfunktionen (Subsidiarität gegenüber der Ordnungsverwaltung im Rahmen der Gefahrenabwehr; Subsidiarität gegenüber den Organen der Strafverfolgung im Rahmen strafprozessualer Eil- und Hilfszuständigkeiten; Subsidiarität gegenüber der Zivilgerichtsbarkeit beim Schutz privater Rechte; generalklauselartige Eingriffsbefugnis in Fällen, in denen spezielle gesetzliche Normierungen fehlen). Charakteristisch ist zum anderen, dass die P. (im Vergleich zu den anderen Sicherheitsfunktionen) mit den effektivsten tatsächlichen und rechtlichen Mitteln ausgestattet ist; sie ist nicht nur jederzeit und überall einsetzbar, sondern verfügt auch über eine an Breite (Generalklausel) und Tiefe (Fähigkeit, Entscheidungen nicht nur zu treffen, sondern nötigenfalls auch sofort und mit Gewalt bis hin zum Schusswaffengebrauch zu vollstrecken) ganz exzeptionelle Befugnisstruktur (gerade das Potential zum nötigenfalls zwangsweisen Sofortvollzug, wie er sich aus § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und den Regeln zum polizeilichen Zwang ergibt, ist für die Vollzugs-P. begriffsprägend). Die P. verkörpert demnach eine subsidiär allzuständige, zugleich aber bes. schlagkräftige Grund- und Auffangfunktion des Staates zur Einlösung seines Sicherheitsauftrags.
3. Polizeiorganisation
Die allgemeine P.-Gewalt liegt im deutschen Bundesstaat bei den Ländern, sowohl was die exekutivische Zuständigkeit als auch was die Gesetzgebungskompetenz anbelangt (mit der Besonderheit, dass die strafverfolgende Tätigkeit der P. vom Bund geregelt wird; zur Abgrenzung von Prävention und Repression siehe innere Sicherheit). Der Bund ist nach Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG auf die Aufgaben des Grenzschutzes und des BKA (dieses ist Zentralstelle für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen und für die Kriminal-P. sowie seit neuerem über Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG auch Träger von Aufgaben der Gefahrenabwehr im Bereich des internationalen Terrorismus) beschränkt; hinzu kommen einzelne sonderpolizeiliche Aufgaben (z. B. Bahn-P.) und die Hilfszuständigkeiten nach Art. 35 GG. Im früheren Bundesgrenzschutz sind – jetzt unter der Bezeichnung „Bundes-P.“ – verschiedene sonderpolizeiliche Bundesaufgaben gebündelt worden; dies ist zulässig; die Bundes-P. darf (trotz ihres missverständlichen Namens) jedoch nicht zu einer allgemeinen P. des Bundes ausgebaut werden (BVerfGE 97,198). Eine wirksame Kooperation und insb. auch informationelle Verklammerung ist für die prinzipiell dezentrale P.-Struktur im Bundesstaat von herausragender Bedeutung. In den Ländern ist die Landes-P. hierarchisch gegliedert (in Bayern z. B. in Präsidien, Inspektionen/Kriminalfachdezernate und Stationen); hinzukommen Bereitschafts-P. und LKA. Das Verhältnis von P. und Nachrichtendiensten ist in der BRD (seit dem „P.-Brief“ der Alliierten) vom sogenannten Trennungsgebot beherrscht, dessen Kern neben dem Gebot organisatorischer Trennung im Verbot „polizeilicher Befugnisse“ für die Nachrichtendienste besteht (d. h. die Nachrichtendienste bleiben auf den rein informationellen Bereich beschränkt, dürfen jedoch nicht selbst durch Eingriff in Kausalverläufe die gefahrenabwehrenden Konsequenzen aus ihrem Wissen ziehen); dass das BVerfG darüber hinaus aus den Grundrechten auch ein informationelles Trennungsgebot abgeleitet hat (das einer systematischen Verbunddatei – Antiterrordatei – indes nicht entgegensteht; BVerfGE 133,277), erscheint nicht unproblematisch, da das Gebot effektiver informationeller Kooperation (sollen die Erkenntnisse der Nachrichtendienste nicht nutzlos verpuffen) geradezu als notwendiges Pendant des Trennungsgebots erscheint. Im Zuge des Heranwachsens der EU zu einem europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erlangt nicht nur die polizeiliche Kooperation über Staatengrenzen hinweg eine ganz wesentliche Bedeutung, vielmehr ist auch das Hervortreten gewisser polizeilicher Funktionen auf EU-Ebene unumgänglich; im europäischen P.-Amt Europol (als eine Art informationelle und kriminalpolizeiliche Zentralstelle) und in der (noch eher in den Anfängen steckenden) Grenzschutzagentur FRONTEX werden Grundstrukturen der P.-Organisation sichtbar, die denjenigen eines Bundesstaates nicht unähnlich sind.
4. Polizeirecht
Unter P.-Recht versteht man in Deutschland – infolge der besonderen Bundeszuständigkeit zur Regelung der repressiven P.-Befugnisse im Rahmen des Strafprozessrechts – typischerweise allein das präventive Recht der polizeilichen Gefahrenabwehr (nicht die gesamte Tätigkeit der P. als Institution wird also vom P.-Recht geregelt). Zur Normierung sind (von der Regelung einiger sonderpolizeilicher Aufgaben des Bundes z. B. im BPolG oder im BKAG abgesehen) prinzipiell die Länder berufen. Sie erfolgt – mit unterschiedlicher Bezeichnung – in P.-Gesetzen, P.-Aufgabengesetzen, Sicherheits- und Ordnungsgesetzen etc. der Länder. Je nachdem, wie weit die Länder (im Verhältnis von P. und Ordnungs-/Sicherheitsbehörden bzw. Vollzugs- und Verwaltungs-P.) überwiegend einem Trennungs- oder noch einem Einheitssystem folgen und wie sie dies umgesetzt haben, findet sich die Tätigkeit von (Vollzugs-)P. und allgemeinen Gefahrenabwehrbehörden z. T. in ein und demselben Gesetz, z. T. auch in zwei verschiedenen Gesetzen (mit ähnlicher dogmatischer Grundstruktur) geregelt (in NRW: PolG NRW und OBG; in Bayern: PAG und LStVG). Historisch gesehen waren in Deutschland durchaus unterschiedliche P.-Traditionen zusammenzuführen: Das norddeutsch-preußische P.-Recht orientierte sich am Leitgedanken generalklauselartigen Rechtsgüterschutzes, das süddeutsche hingegen eher am Leitgedanken der Spezialermächtigung und der Verhütung normierter (P.–)Straftaten; die Synthese dieser Traditionsstränge gelang in der BRD insb. dadurch, dass einerseits alle Länder die Generalklausel einführten und andererseits überall auch die Unversehrtheit der Rechtsordnung (Verhütung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten; Rechtsdurchsetzung) als Schutzgut öffentlicher Sicherheit anerkannt wurde. Die Bemühungen um Rechtsvereinheitlichung im Bundesstaat (wichtig auch wegen der gegenseitigen P.-Hilfe nach Art. 35 GG) sind in den 1970er und 1980er Jahren durch Musterentwürfe eines einheitlichen P.-Gesetzes des Bundes und der Länder vorangetrieben worden; da sich das P.-Recht seither, insb. im Bereich der informationellen Eingriffsbefugnisse, maßgeblich weiterentwickelt hat, hat die Innenministerkonferenz 2017 die Ausarbeitung eines neuen Musterpolizeigesetzes beschlossen. Rechtshistorisch gilt das P.-Recht in Deutschland als zentrale Referenzmaterie der Herausbildung eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts (herausgehobene kodifikatorische Bedeutung wird dabei dem Preußischen P.-Verwaltungsgesetz 1931 beigemessen); als in diesem Sinne rechtsstaatliche Mitte unseres Verwaltungsrechts spielt es auch heute in der universitären Ausbildung noch eine tragende Rolle.
Zentrale Schützgüter des klassischen P.-Rechts, die vor Gefahren geschützt werden sollen, sind die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung; die öffentliche Sicherheit umfasst die Unversehrtheit der Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit (Rechtsgüterschutz) sowie der Rechtsordnung an sich (Rechtsdurchsetzung); die öffentliche Ordnung meint (subsidiär) die Unversehrtheit solcher ungeschriebener Regeln, die nach den herrschenden (grundrechtskonformen) Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens betrachtet werden. Im Übrigen ist das klassische P.-Recht v. a. von folgenden dogmatischen Bausteinen geprägt:
a) Aufgabe und Befugnis: Soweit die P. in Grundrechte eingreift, genügt für ihr Handeln nicht die zuständigkeitseröffnende Aufgabennorm, vielmehr bedarf sie einer zum Eingriff ermächtigenden Befugnis.
b) Generalklausel und Spezialermächtigung: Die P. hat Maßnahmen vorrangig (unter den dort normierten Voraussetzungen) auf Spezialermächtigungen (sogenannte Standardbefugnisse) zu stützen, subsidiär ermächtigt sie die Generalklausel jedoch zur Ergreifung jedweder auch atypischer, für die Gefahrenabwehr notwendigen Maßnahmen.
c) Gefahr: In Kausalverläufe darf die P. regelmäßig erst ab der Schwelle der konkreten Gefahr eingreifen; diese erfordert das Bestehen einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Schädigung eines polizeilichen Schutzguts im einzelnen Fall; zu treffen ist eine prognostische Entscheidung unter Ungewissheitsbedingungen; der zu fordernde Grad an Wahrscheinlichkeit hängt insb. vom Gewicht des bedrohten Rechtsguts und dem Ausmaß des drohenden Schadens ab; auch die Unterbindung und Beseitigung bereits eingetretener Störungen gehört noch zur Gefahrenabwehr.
d) Störer und Verantwortlichkeit: Polizeiliche Maßnahmen sind grundsätzlich gegen den Störer (d. h. gegen den für die Gefahr verantwortlichen Verursacher) zu richten; gegen den Nichtstörer kann regelmäßig nur bei polizeilichem Notstand und gegen Entschädigung vorgegangen werden.
e) Ermessen und Verhältnismäßigkeit: Die P. trifft ihre Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen (Opportunitätsprinzip); hierbei ist sie an das (ursprünglich im P.-Recht entwickelte) Prinzip der Verhältnismäßigkeit gebunden.
f) Zwang: Die Vollzugs-P. ist imstande, unaufschiebbare Anordnungen sofort und nötigenfalls auch durch Zwang durchzusetzen.
g) „P.-Verordnungen“: Zum Erlass gefahrenabwehrender Rechtsverordnungen (diese setzen typischerweise eine abstrakte Gefahr voraus) ist grundsätzlich nicht die (Vollzugs-)P., sondern allein die Ordnungsverwaltung befugt.
Das klassische P.-Recht unterliegt in jüngerer Zeit einem Gestaltwandel und ist insb. um eine Schicht des polizeilichen Informationsrechts ergänzt worden, die inzwischen in den P.-Gesetzen schon fast den größten Raum einnimmt, deren dogmatische Erfassung jedoch weiter Schwierigkeiten bereitet. Hierfür sind verschiedene Gründe maßgeblich: Zum einen war – nach Entdeckung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in den 1980er Jahren – ein im Grunde seit jeher existierendes Feld der polizeilichen Datenverarbeitung, das vormals nicht als Grundrechtseingriff gedeutet worden war, numehr aber der Schaffung von Befugnisnormen bedurfte, ganz neu zu normieren. Zum anderen hat die Informationstätigkeit angesichts neuartiger, sich typischerweise verdeckt entwickelnder Bedrohungsszenarien (internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität etc.), bei denen ohne bereits im Gefahrenvorfeld ansetzende Aufklärung Gefahrenlagen nicht rechtzeitig erkannt und bekämpft werden können, eine erhebliche Bedeutungssteigerung erfahren. Schließlich hat die rasante Entwicklung der IT sowohl der Kriminalität neue Kommunikationsräume als auch der P. neue Ermittlungsansätze eröffnet. Ergebnis ist ein Streit um Telekommunikationsüberwachung, Lauschangriff, Online-Durchsuchung, Rasterfahndung, Videoüberwachung etc., der noch immer nicht ausgestanden ist. Dabei müsste eigentlich unstreitig sein, dass Gefahrenabwehr Gefahraufklärung voraussetzt und daher legitimerweise bereits im Gefahrenvorfeld ansetzen darf – mit der Folgeproblematik, dass neuartige begrenzende Eingriffsschwellen gefunden werden müssen. Auch kann es im Gefahrenvorfeld noch keinen Störer geben; dennoch müssen der Streubreite von Datenerhebungen Grenzen gesetzt werden; auch die typische Verdecktheit polizeilicher Informationstätigkeit verlangt zusätzliche Sicherungen. Das BVerfG hat in einer ehrgeizigen Rechtsprechungsreihe versucht, dem neuen Rechtsgebiet verfassungsrechtliche Grenzlinien zu ziehen, zuletzt in einer Art Summe zusammengefasst im Urteil zum BKAG (BVerfGE 141,220). Seine Maßstabsbildung ist dabei aber z. T. schwankend gewesen und auch im Gericht strittig geblieben; sein Beharren auf rechtsstaatlicher Bestimmtheit hat zu einer Ausführlichkeit und Unübersichtlichkeit der neuen Regeln beigetragen, die in auffallendem Kontrast zur lapidaren Kürze des klassischen rechtsstaatlichen P.-Rechts steht. Auch fragt sich, ob die Strenge der Judikatur dem Gewicht des polizeilichen Informationsinteresses und des staatlichen Sicherheitsauftrags immer hinreichend Rechnung getragen hat. Die neue dogmatische Gestalt des P.-Recht ist daher noch immer im Werden.
Literatur
M. Möstl: Systematische und begriffliche Vorbemerkungen zum Polizeirecht in Deutschland, in: ders./T. Schwabenbauer (Hg.): BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, 92019 • T. Kingreen u. a.: Polizei- und Ordnungsrecht, 102018 • H. Lisken/E. Denninger: Hdb. des Polizeirechts, 62018 • H. Maier: Ges. S., Bd. 4, 2009 • M. Möstl: Die neue dogmatische Gestalt des Polizeirechts, in: DVBl 122/10 (2007), 581–589 • B. Drews u. a.: Gefahrenabwehr, 91986 • F.-L. Knemeyer: Polizei, in: GGB, Bd. 4, 1978, 875–897.
Empfohlene Zitierweise
M. Möstl: Polizei, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Polizei (abgerufen: 21.11.2024)