Wohlfahrtspflege

  1. I. Wirtschaftswissenschaftlich
  2. II. Sozialethisch

I. Wirtschaftswissenschaftlich

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Die Verbände der Freien W. (synonym: Wohlfahrtsverbände) in Deutschland sind Interessenvertretung der Schwachen im Feld der Sozialpolitik und sie sind zugleich wirtschaftlich tätige und dabei gemeinnützige Institutionen. Sie sind in dieser Kombination und auch in ihrer gesellschaftlichen Stellung sui generis, ein einzigartiges Element der Sozialen Marktwirtschaft.

1. Charakteristika und Struktur der Wohlfahrtspflege

Im Zuge der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und der „neuen sozialen Frage“ des 19. Jh. (Soziale Frage) wurden kirchliche, sozialreformerische und sozialistische Initiativen (Sozialismus) zur Linderung der akuten Not und zur Anregung erster sozialpolitischer Reformen aktiv. Mit dem Aufbau des modernen Sozialstaates ab Ende des 19. Jh. wandelte sich dann das Erscheinungsbild der Sozialpolitik grundlegend. Es kam zu einer verstärkten Zentralisierung und Standardisierung sozialpolitischer Leistungen auf nationalstaatlicher Ebene, vorangetrieben bes. in den 1920er Jahren durch Fürsorgereformen. Als Reaktion auf die neuen Herausforderungen und sozialpolitischen Institutionalisierungen rückten die einzelnen Teilgruppen der W. zusammen. In Deutschland erfolgte nach Einsetzung des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche als Vorläufer des Diakonischen Werks im Jahr 1848 die Gründung des Deutschen Caritasverbands (DCV) 1897, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1917 (ZWST [ Jüdische Organisationen ]), der Arbeiterwohlfahrt (AWO) 1919, des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) 1921 (Rotes Kreuz) und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 1924. Im selben Jahr kam es auch zum Zusammenschluss der Wohlfahrtsverbände. Dieser existiert – unterbrochen durch die Nazi-Herrschaft – bis heute, seit der Gründung der Bundesrepublik als Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien W. (BAGFW). Auf der Landes-, sowie auf der kommunalen Ebene existieren Untergliederungen, die Liga der Freien W. genannt werden und dort jeweils bedeutende Akteure sind. Die Verbände der Freien W. sind mit ihren speziellen Merkmalen typisch für den konservativ-korporatistisch geprägten Sozialstaat bismarckscher Tradition (Wirtschaftssysteme):

a) Sie sind sowohl Interessengruppen in Fragen der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit als auch selbst Anbieter sozialer Dienstleistungen. Als solche sind sie mit der Sozialpolitik insb. über das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis verknüpft.

b) Sie sind weltanschaulich durch große gesellschaftliche Gruppen geprägt und übernehmen Aufgaben, die sonst der Staat in Eigenregie übernehmen müsste. Hierin spiegeln sich die Ideen des Korporatismus und der Subsidiarität.

Jeder der sechs Verbände hat ein eigenständiges Profil und bringt damit seine weltanschauliche Position in die Sozialwirtschaft ein. Sie haben zusammen aktuell gut 1,7 Mio. hauptamtlich Beschäftigte (BAGFW 2017):

a) DCV und Diakonisches Werk sind die beiden großen Verbände der katholischen Kirche bzw. der EKD und beide zählen mit mehr als 500 000 Beschäftigten (Caritas) bzw. über 440 000 Beschäftigten (Diakonie) zu den großen Anbietern im Markt für soziale Dienstleistungen. Aufgrund der konfessionellen Situation in Deutschland haben beide Verbände regionale Schwerpunkte dort, wo ihre Konfession bes. verbreitet ist.

b) Der Paritätische Gesamtverband ist ein Zusammenschluss freier Initiativen und Einrichtungen und gleichsam ihr Sammelbecken, ohne selbst weltanschaulich eindeutig geprägt zu sein. Er hat über 560 000 Beschäftigte.

c) In der Tradition der Arbeiterbewegung steht die AWO; das DRK hingegen setzt die Tradition der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung fort. Beide sind in Deutschland deutlich kleiner (160 000 bzw. 90 000 Beschäftigte) und gleichmäßig über das gesamte Bundesgebiet verteilt.

d) Schließlich ist mit der ZWST ein weiterer religiös geprägter Verband zu nennen, der ebenfalls regional unterschiedlich stark vertreten ist. Er ist der mit Abstand kleinste Wohlfahrtsverband.

Neben den professionell hauptamtlich Beschäftigten sind in den Wohlfahrtsverbänden in großer Zahl Menschen ehrenamtlich (Freiwilligenarbeit) tätig, wobei zu jedem professionell Beschäftigten mindestens eine ehrenamtlich tätige Person hinzugezählt werden muss. Damit ist die Freie W. nicht nur einer der größten Arbeitgeber in Deutschland, sondern auch Kernbereich bürgerschaftlichen Engagements.

Mehr noch als die inhaltlich eng spezialisierten Sozialverbände sind die Wohlfahrtsverbände formal und auch personell mit der Sozialpolitik verwoben. Oftmals arbeiten Politikerinnen und Politiker in den Organen der Verbände mit und ebenso sehen Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker auf allen Ebenen die Wohlfahrtsverbände als ihre naheliegenden Partner. Aufgrund dieser tiefen Verbundenheit ist das politische Protestpotential der Wohlfahrtsverbände eher gering und sie schließen sich nur zögerlich sozialen Bewegungen an. In der Freien W. steht stattdessen die fachliche Detailarbeit im Vordergrund. Diese Detailarbeit ist auch für die Soziale Arbeit, für Erzieherinnen und Erzieher, Pflegekräfte u. a. Personen in Sozialberufen von herausragender Bedeutung. Die Wohlfahrtsverbände setzen hier fachliche Standards, verhandeln und befolgen Tarifverträge und prägen damit die Entwicklungsbedingungen der Professionen.

2. Perspektiven

Auch künftig wird die Freie W. die Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft prägen. Als Teil der Sozialwirtschaft wird sie weiter wachsen und nicht nur sozial-, sondern auch wirtschaftspolitisch von zunehmender Bedeutung sein (Wirtschaftspolitik). Andererseits erodiert die gesellschaftliche Basis der W., da die tragenden weltanschaulichen Großgruppen dramatisch an Bindungskraft verlieren. Wirtschaftlicher Bedeutungsgewinn und Verlust der organisierten gesellschaftlichen Basis prägen somit gleichermaßen die Perspektiven der Freien W.

Die Freie W. befindet sich heute in einer Zwischenstellung als Folge einer „langsamen Entprivilegisierung der deutschen Verbändewohlfahrt“ (Golbeck 2012: 39). Begriffe wie „Management“, „Wettbewerb“, „Kundenorientierung“ und „Leistungstransparenz“, die noch Mitte der 1990er Jahre als „wesensfremd und provokativ“ empfunden wurden, sind angesichts des Paradigmenwechsels „heute selbstverständlicher Teil der Alltagsroutine“ (Boeßenecker/Vilain 2013: 296 f.).

Diese Entwicklung der Freien W. ist vermutlich unumkehrbar; ein Zurück zum alten Korporatismus und zur festen Fundierung in identitätsstiftenden weltanschaulichen Großgruppen ist nicht in Sicht. Stattdessen sehen sich die Wohlfahrtsverbände als Teil eines differenzierten Sozialwirtschaftssektors, den sie wesentlich mitgestalten werden.

II. Sozialethisch

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Sozialethisch liegen W. Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Menschen zugrunde, die demokratisch, rechtsstaatlich und pluralitätsfreundlich Freiheit und soziale Absicherung (Soziale Sicherheit) verbinden und menschenwürdiges Leben in selbstbestimmter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an den Gütern der Gesellschaft für alle und jeden Einzelnen, bes. für die Schwächeren, gewährleisten wollen. Darauf zielt das Sozialstaatsprinzip (Art. 1, 20, 28, 79 Abs. 3 GG) der BRD.

Den Begriff W. definierte die Weimarer Gesetzgebung in der „Dritten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen“ (4.12.1926) als „die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbes wegen ausgeübte Sorge für Notleidende oder gefährdete Mitmenschen. […] Die Wohlfahrtspflege wird insbesondere ausgeübt durch a) Bereitstellung der zur Fürsorge erforderlichen Kräfte und Mittel, b) unmittelbare Hilfeleistung, c) wissenschaftliche Erforschung der Notstände und der Wege zu ihrer Abhilfe, d) Ordnung und Leitung der in der Wohlfahrtspflege wirkenden Kräfte“ (RGBl. I, 894). Sie erstreckt sich auf das Gesundheits- und Sozialwesen unter den jeweiligen (sozial-)staatlichen Rahmenbedingungen. Sie dient der Realisierung sozialer Daseinsvorsorge und Fürsorge für alle durch öffentliche und frei-gemeinnützige Träger der W. Ihre Ausgestaltung variiert je nach sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlicher Variante (liberal, korporatistisch, sozialistisch [ Wohlfahrtsstaat ]).

Im deutschen Modell gilt die Freie W. als unverzichtbare Säule des Sozialstaates. Zu ihr gehören alle Dienste und Einrichtungen in frei-gemeinnütziger Trägerschaft, die sich in organisierter Form über den Bereich von Familie und Nachbarschaft hinaus im Sozial- und Gesundheitswesen betätigen. Sie sind als Teil des Dritten Sektors (zwischen Staat und Markt) privatrechtlich organisiert, unabhängig und kooperieren partnerschaftlich mit den öffentlichen Sozialleistungsträgern, um wirksame Angebote zum Wohle der Hilfesuchenden zu erbringen. Unbeschadet der Gewährleistungspflicht des Staates (Bund, Länder, Kreise/Kommunen) als Vollzugsorgan und Ausfallbürge genießen sie einen bedingten Vorrang vor der öffentlichen W. In diesem Sinn wurde das Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) schon vor seiner Etablierung in der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ 1931 in der Weimarer Sozialgesetzgebung (RJWG 1922, Reichsfürsorgeverordnung 1924) verankert. Es wurde in die Sozialgesetzgebung der BRD (Sozialrecht) übernommen, um der Vielfalt der Überzeugungen und Gestaltungswünsche in der Bevölkerung zur Realisierung des Bedürfnisses und des Rechtes zu helfen (und sich dafür frei zusammenzuschließen) gerecht zu werden. Freie W. wird von unterschiedlichen Motivationen und Haltungen getragen: Christliche Nächstenliebe, bürgerliche Aufklärung, Arbeitersolidarität, Leidensdruck Betroffener u. a. Freie W. verwirklicht freiwillig aktiv gesellschaftliche Solidarität, trägt zum pluralistisch verstandenen Gemeinwohl und zu sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft bei und kann dies personen-, familien- und gemeindenäher als öffentliche W. Die Vielfalt der Angebote und Dienstleistungen Freier W. soll zgl. das von der Menschenwürde her verstandene Wunsch- und Wahlrecht der Hilfesuchenden garantieren. W. strebt Hilfe zur Selbsthilfe und selbstbestimmte Teilhabe an.

Soziale Organisationen und Einrichtungen mit gleichen religiösen oder weltanschaulichen Grundlagen haben sich zu den verschiedenen Spitzenverbänden der Freien W. zusammengeschlossen. Sie sind im ganzen Bundesgebiet tätig und gewährleisten eine stetige, umfassende, fachlich qualifizierte Arbeit und Verwaltung: Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Caritasverband (DCV), Diakonisches Werk, Deutsches Rotes Kreuz (DRK [ Rotes Kreuz ]), der Paritätische Gesamtverband und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Islamische Wohlfahrtsverbände gibt es bislang nicht. Die Spitzenverbände bilden die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und sind Mitglieder im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. Sie beschäftigen ca. 1,5 Mio. Menschen, hinzu kommen ca. 3 Mio. Freiwillige. Die Dienste der W. und Einrichtungen in Gesundheits-, Kinder- und Jugend-, Familien-, Alten- und Behindertenhilfe, Hilfen für Personen in besonderen sozialen Situationen und sonstigen Hilfen sind grundsätzlich für alle Hilfesuchenden offen. Zur Befähigung für die Aufgaben der W. bieten sie Aus-, Fort- und Weiterbildung in eigenen Bildungseinrichtungen an. Somit kennzeichnen die Freie W. Pluralität und Diversität, Mobilisierung der Zivilgesellschaft, sozialer Zusammenhalt und soziale Vernetzung, Partizipation, Innovation, Bildung und Wissenschaft(lichkeit), Solidarisierung und politische Anwaltschaft, Bürgerverantwortlichkeit und Zusammenschluss in Verbänden.

Die Systemveränderung der 1990er Jahre durch Wettbewerb mit privaten Sozial- und Gesundheitsunternehmen führte zu intensiven betriebswirtschaftlichen Anstrengungen der freien (und öffentlichen) Träger als Sozialunternehmen. Sie bleiben herausgefordert, Ökonomie als Mittel zum Zweck effektiver sozialer Dienste und Einrichtungen für die Menschen in ihren Hilfebedarfen zu nutzen und einer die Grundidee von W. pervertierenden Umkehr dieser Logik zu widerstehen. Politische Kommunikation und Menschenwürde-orientierte Innovation von W. (z. B. im Kontext der Digitalisierung) sind bleibende sozialethische Aufgaben für die solidarische Organisation der Gesundheits- und Sozialwesen in Deutschland, in Europa und weltweit.